13. Juli 2024 22:00

Nachdenken über ein Mises-Zitat Die eigenen Helden kritisch lesen

Nicht gleich immer die Rassismuskeule schwingen

von Thorsten Brückner

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Bildquelle: FOTOGRIN / Shutterstock Einwanderungsfrage: Spaltet selbst libertäre Geister

Am Präsidentschaftskandidaten der Libertären Partei, Chase Oliver, scheiden sich weiterhin die Geister. Ich halte vieles, was er so von sich gibt, für erfrischend freiheitlich und habe darüber bereits an dieser Stelle vor sechs Wochen geschrieben. Dennoch halte ich auch einen Teil der Kritik aus dem rechtslibertären, dem Mises Caucus nahestehenden Lager für berechtigt – vor allem an Äußerungen Olivers aus der Covid-Zeit, aber auch an einem Zitat, das der libertäre Publizist Tom Woods dankenswerterweise einem größeren Publikum zugänglich gemacht hat, nachdem Oliver den entsprechenden Tweet nach seiner Nominierung still und leise gelöscht hat. „Kein Zelt ist groß genug für mich, meine Freunde und meine Familie, um dort zusammen mit Rassisten und Fanatikern zu sein“, schrieb Oliver. „Lew Rockwell und seine Arbeit ist so ein fanatischer Mist!“

Harte Worte! Also ich lese fast täglich Artikel auf Lew-Rockwells-Seite lewrockwell.com. Mir gefällt vor allem die dortige Autorenvielfalt. Mit Gary Barnett schreibt dort auch ein Anarchist, der mich Woche für Woche mit seinen Texten inspiriert und den Oliver ja wohl nicht ernsthaft mitgemeint haben kann. Allerdings lese ich dort auch sehr gerne Autoren, darunter Lew Rockwell junior selbst, in dem Wissen, dass ich bei manchen Themen ganz anderer Meinung bin und mir die Ausdrucksweise nicht immer gefällt. Während Covid war Lew Rockwells Standpunkt und der seiner Seite jedoch absolut untadelig, Rockwell hat den Wahnsinn argumentativ bekämpft, noch bevor die ersten Restriktionen einsetzten. Das zählt für mich viel und ich wünschte, ich könnte über Oliver dasselbe sagen.

Erst vergangene Woche habe ich wieder einen Rockwell-Text gelesen, bei dem ich schon anhand der Überschrift wusste, dass ich vielen Kernaussagen des Autors wohl nicht würde zustimmen können. „Die Absurdität offener Grenzen“, hieß der Artikel. Neues habe ich darin diesmal nicht erfahren, mit einer großen Ausnahme. Denn in seiner Argumentation, dass man sich durch offene Grenzen die fünfte Kolonne feindlich gesonnener Staaten und Ideologien ins Land hole, berief sich Rockwell auf keinen Geringeren als Ludwig von Mises. Ich muss gestehen, dass ich kein großer Mises-Leser bin; mir ist das ehrlich gesagt zu schwere Kost. Das ist oft das Problem mit großen Geistern, dass sie nicht in einer Sprache schreiben können, die von normalen Menschen verstanden wird. Mich hat etwa Larken Rose tausendmal mehr beeinflusst als Mises, auch weil er eine Sprache spricht, die ich verstehe. Schreiben Sie es also meiner Unwissenheit über Mises zu, dass ich folgendes Zitat nicht kannte, in dem er davor warnt, Einwanderungsverbote für Menschen bestimmter Nationalitäten während des Zweiten Weltkriegs zurückzunehmen. „Unter den gegenwärtigen Bedingungen würden Amerika und Australien schlicht Selbstmord begehen, wenn sie Nazis, Faschisten und Japaner aufnähmen. Sie könnten genauso gut gleich gegenüber dem Führer und dem Kaiser kapitulieren. Einwanderer aus diesen totalitären Staaten sind heute die Vorhut ihrer Armeen, eine fünfte Kolonne, deren Invasion alle Verteidigungsstrategien nutzlos machen würde. Amerika und Australien können ihre Freiheit, ihre Zivilisation und ihre wirtschaftlichen Institutionen nur dadurch bewahren, indem sie den Untertanen des Führers rigoros den Zugang versperren.“

Ich finde, da kommt schon ein kollektivistisches Denken zum Vorschein, oder? Menschen auf Basis ihres Passes pauschal als fünfte Kolonne böser Diktatoren zu bezeichnen und damit ja auch Regimekritikern die Flucht versperren zu wollen, finde ich nicht nur menschlich problematisch, sondern ist auch genauso falsch und dumm, wie Syrer und Afghanen auf der Suche nach einem besseren Leben heute als fünfte Kolonne des Islams zu bezeichnen. Zumal ich auch Mises’ Schlussfolgerung für falsch halte. Ich denke nicht, dass die USA dadurch Selbstmord begangen hätten. Möglicherweise hätten sie den Krieg noch viel früher entschieden, wenn sie ihre Tore für Deutsche, Italiener und Japaner geöffnet hätten und so diesen Regimen einen Brain Drain beschert hätten. Ich habe von den Deutschen als Menschenschlag jetzt auch keine besonders hohe Meinung, aber ich käme nie auf die Idee, daraus auf den einzelnen Deutschen in einem Land von damals rund 70 und heute rund 80 Millionen Menschen zu schließen.

Schon einmal fand ich ein Mises-Zitat ähnlich befremdlich, und zwar während meiner Recherche für meine Kolumne „Ich oder der Staat”, die hier auf Freiheitsfunken im Dezember 2022 erschienen ist. Damals saß ich beim Lesen folgender Textstelle mit offenem Mund ungläubig vor meinem Computer: „Die entscheidende Aufgabe einer Regierung ist die Verteidigung des gesellschaftlichen Systems nicht nur gegen heimische Gangster, sondern auch gegen äußere Feinde. Wer in unserer Zeit gegen Bewaffnung und Wehrdienst ist, ist ein Helfershelfer jener, deren Ziel die Versklavung aller ist.“ Das soll libertär sein?

Ich erinnere mich noch, wie ich mich im August 2020 am Rande der Demonstration gegen die Covid-Schikanen in Berlin unter einem Banner mit der Aufschrift „Read Mises, not Marx“ habe fotografieren lassen. Das war gleich doppelt töricht. Denn wie um alles in der Welt könnte ich, der ich weder Mises noch Marx gelesen habe, eine solche Aufforderung unterstützen oder nicht unterstützen? Und zweitens habe ich ja auch nichts dagegen, dass Leute Marx lesen. Was mich angeht, geht es mir da allerdings genauso wie bei Mises: zu schwere Kost!

Nach allem, was ich auszugsweise über die Jahre von beiden gelesen habe, bin ich mir sicher, dass ich weitaus häufiger mit Mises als mit Marx übereinstimme. Die beiden Mises-Zitate sind für mich aber definitiv auch eine Mahnung, seine eigenen Helden immer kritisch (oder überhaupt erst mal) zu lesen. Genauso wie Mises nicht nur Richtiges geschrieben hat, wird Marx auch nicht nur Falsches geschrieben haben. Auf mich und meine intellektuellen Ambitionen heruntergebrochen, bedeutet das: Ich lese einen einwanderungskritischen Text auf Lew Rockwells Seite ohne Schaum vorm Mund, versuche mich argumentativ damit auseinanderzusetzen und vielleicht auch etwas zu lernen, wohlwissend, dass ich in dieser Frage einst ähnlich danebenlag wie Rockwell. Doch in der entgegengesetzten Richtung möchte ich, anders als in früheren Jahren, gar keine intellektuellen Helden mehr zulassen, denen man auch immer etwas unkritischer gegenübersteht, als es vielleicht sein sollte, sondern fokussiere mich ganz auf das Inhaltliche und versuche allgemein, nicht mehr so sehr andere für mich denken zu lassen. Wenn Larken Rose etwas aus meiner Sicht Falsches sagt, kann ich das genauso anerkennen und benennen, wie wenn Lew Rockwell etwas Richtiges schreibt. Selbst die „taz“ schreibt hin und wieder etwas Richtiges. Und sogar Karl Lauterbach sagt ab und zu etwas Wahres.  

Als jemand, der weder der „Closed Borders“- noch der „Open Borders“-Fraktion angehört, finde ich es manchmal schade, wenn Linkslibertäre in den USA dem Mises Caucus undifferenziert Rassismus vorwerfen oder die Hoppe-Fanboys umgekehrt jeden, der das individuelle Recht auf Einwanderung verteidigt, als spinnerten Feind der abendländischen Zivilisation hinstellen. Ich denke, dass es hier auch einen großen Unterschied gibt zwischen Libertären, die politisch aktiv sind und in grenzenloser Naivität und mit enormen nervlichen Einbußen das politische System für freiheitliche Ideen sturmreif schießen wollen, und solchen, die der Politik desillusioniert den Rücken gekehrt haben, womit zumindest für mich auch eine enorme innere Gelassenheit einhergeht. Ich muss andere nicht mehr von meiner Sichtweise überzeugen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich aufgrund der Denkfaulheit meiner Mitmenschen ohnehin um Zeitverschwendung. Deren Meinung zu Ausländern ist mir herzlich egal, solange sie friedlich zum Ausdruck gebracht wird. Parteien zu wählen, die die eigene Meinung dann mit allgemeinem Zwang durchsetzen, gehört nicht dazu. Wer durch seine Stimmabgabe bei Wahlen den Staat demokratisch damit beauftragt, Einwanderungsgesetze zu verschärfen oder stärker durch die Polizei durchsetzen zu lassen, unter denen dann Menschen ganz real leiden, kann nicht erwarten, dass die Betroffenen das nicht persönlich nehmen. 


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