13. Juli 2024 10:00

Gesellschaft Was ist Wahrheit?

Über ihre Relativierung in der Postmoderne

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert) drucken

Artikelbild
Bildquelle: bakhistudio / Shutterstock Ganz eindeutig (für fast alle): Gleichung ohne praktische Wahrheit

Der Begriff der Wahrheit wird in unserer postmodernen Welt relativiert. Jeder hat seine eigene Wahrheit. Wahrheiten werden durch soziale Kontexte und Gruppenzugehörigkeit bestimmt. Konfligierende Wahrheiten können nebeneinander bestehen. Wahrheit ist kaum noch zu unterscheiden von persönlicher Meinung. Vielleicht sind auch deshalb Fakten- und Wahrheitsprüfer in den öffentlichen Debattenraum getreten. Man würde denken, dass diese ihre Arbeit nur machen können, wenn es auch wirklich eine objektive Wahrheit gibt. Viel besser ist es aber, wenn Wahrheit relativiert wird. Denn dann kann wirklich jeder Wahrheitsanspruch mit einem Werturteil diskreditiert werden.  

Was Wahrheit überhaupt bedeutet, ist unter Philosophen umstritten. Viele würden sagen, dass es keine absolute Wahrheit gibt oder dass wir sie zumindest nicht als solche erkennen können. Aber dies stellt die Wissenschaft nicht vor Widersprüche. Sowohl die Sozial- als auch die Naturwissenschaften sind nicht um Wahrheiten im absoluten Sinne bemüht, sondern eher um Wahrheiten im praktischen Sinne. Als wahr gilt das, was in der Praxis funktioniert und sich nicht in logischen Widersprüchen verläuft. Manche Wahrheiten können auch ohne empirisches Faktenprüfen als solche erkannt werden. Dass 2 + 2 = 4 wahr ist, kann jeder erkennen, der die Bedeutung der Aussage versteht, der also weiß, was „2“, „+“ und „4“ bedeuten. Man braucht nicht fortlaufend Objekte zu zählen, um sich vom Wahrheitsgehalt dieser Gleichung zu überzeugen. Wer nun aber sagt, dass 2 + 2 = 5 gilt, der formuliert erstens einen logischen Widerspruch und zweitens wird er feststellen, dass das Ganze in der Praxis nicht funktioniert. Spätestens wenn Flugzeuge abstürzen und Brücken zusammenbrechen, würde man das Ganze noch mal überdenken wollen.          

Aristoteles definierte Wahrheit einst als Aussagen, die mit der Realität übereinstimmen: „Es kann nicht zwischen den beiden Gliedern des Widerspruchs etwas mitten inne liegen, sondern man muss notwendig jedes von jedem entweder bejahen oder verneinen. Dies erhellt zuerst aus der Bestimmung der Begriffe wahr und falsch. Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-seiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder ein Nicht-sein prädiziert, muss Wahres oder Falsches aussprechen.“

Wahrheit im praktischen Sinne muss sich also an der Realität messen lassen. Absolute Wahrheiten über den Sinn des Lebens, wie sie manche Philosophien und fast alle Religionen verheißen, bleiben uns ohnehin verborgen. Sie sind Glaubenssache. Wahrheit im praktischen Sinne ist es nicht.

Die fortschreitende Relativierung und Umdeutung des Wahrheitsbegriffes gehen noch mit einer anderen Entwicklung einher. Da Wahrheit ein unscharfer Begriff geworden ist, sind viele Menschen, die mit Wahrheiten konfrontiert werden, unsicher, wie man mit ihnen umzugehen habe. Viele Menschen nehmen an, dass dann, wenn etwas als wahr gilt, man in einer bestimmten Weise danach handeln müsse. Wenn also nachgewiesen ist, dass Rauchen, übermäßiger Fleisch- oder Alkoholkonsum schlecht für die Gesundheit sind, dann müsse man aufhören zu rauchen sowie den Fleisch- und Alkoholkonsum reduzieren. Das ist aber eine Schlussfolgerung, die sich keinesfalls aufzwingt. Aus Fakten allein, auch wenn sie wahr sind, ergibt sich keine Handlungsforderung. Letztere erfordert immer erst ein Werturteil über das Gewicht der relativen Vor- und Nachteile einer bestimmten Handlung. In diesem Fall muss man bewerten, ob der mögliche Gesundheitsgewinn den Genussverlust überwiegt. Und Menschen bewerten diese Dinge unterschiedlich. In einer freien Gesellschaft überlässt man dem Individuum selbst die Abwägung. In der postmodernen Welt der Wahrheitsrelativierung werden die Dinge, die noch als wahr gelten, zu Handlungsmaximen. Wahrheit wird zu einem politischen Machtinstrument und deshalb werden Wahrheiten zu Bedrohungen.

Murray Rothbard schrieb 1994: „Und denke daran, wenn sie heute den Raucher holen, werden sie morgen auch dich holen. Wenn sie sich heute deine Zigarette schnappen, werden sie sich morgen dein Junkfood, deine Kohlenhydrate, deine leckeren, aber nährarmen Kalorien schnappen ... Bist du bereit für das linke Ernährungsreich, in dem jeder gezwungen ist, seine Ernährung auf Joghurt, Tofu und Sojasprossen zu beschränken? Bist du bereit, in einen Käfig eingesperrt zu werden, um sicherzustellen, dass deine Ernährung perfekt ist und du das vorgeschriebene Pflichttraining absolvierst?“

Wer diesen postmodernen Tendenzen entgegenwirken möchte, muss darauf beharren, dass es praktische Wahrheiten gibt, die wir in Konfrontation mit der Realität und Logik erkennen können. Er muss aber ebenso darauf beharren, dass sich aus praktischen Wahrheiten keine Handlungsvorgaben ableiten lassen. Wenn man sich das klarmacht, erscheinen Wahrheiten deutlich weniger beängstigend.  

Wanjiru Njoya (2024): „Varying Interpretations of Truth, or Truth as a Social Construct“              


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.