20. Juli 2024 22:00

Israels Armee mustert Ultraorthodoxe Weniger Ausnahmen, mehr Zwang

Wehrdienst wird auf drei Jahre verlängert

von Thorsten Brückner

von Thorsten Brückner drucken

Artikelbild
Bildquelle: Jose HERNANDEZ Camera 51 / Shutterstock Höchstgericht in Israel: Verpflichtet nun auch Ultraorthodoxe zum Wehrdienst

Der israelischen Armee fehlt es an Manpower. Das sagen israelische Minister und Armeeoffizielle mittlerweile ganz offen, nachdem im Gaza-Krieg Hunderte Soldaten getötet und Tausende verletzt worden sind. Der Gazastreifen wird Israel nach der Invasion vergangenen Oktober noch über viele Jahre personell enorm binden, und im Norden ist die Regierung in Jerusalem scheinbar krampfhaft darum bemüht, eine zweite Front zu eröffnen, nachdem die Hisbollah beim Raketen-Pingpong bisher nicht ganz so mitgespielt hat, wie sich die Israelis das vorstellen. 

Bei einer Geburtenrate weit über dem westlichen Durchschnitt und einem ideologisch motivierten, nie versiegenden Strom an neuen Einwanderern gehen dem Staat auch die Humanressourcen nicht so schnell aus. Was liegt da näher, als den 2014 verkürzten Militärzwang wieder von 32 Monaten auf drei Jahre zu verlängern. Eigentlich war damals vor zehn Jahren eine weitere schrittweise Absenkung auf zunächst 30 Monate geplant. Nun nimmt die Regierung die Ereignisse vom 7. Oktober des Vorjahres zum Anlass, jungen Männer erneut zusätzliche vier Monate ihres Lebens zu stehlen. Die Regelung gilt auch für derzeit aktive Soldaten und ist zunächst auf acht Jahre befristet. Danach wird die Regierung nach eigenem Ermessen neu entscheiden. Und der Reservedienst verfolgt viele dann sowieso noch, bis sie 40 Jahre sind.

Am Sonntag beginnt die israelische Armee erstmals damit, Musterungsbescheide auch an Yeshiva-Studenten zu verschicken. Dabei handelt es sich um junge ultraorthodoxe Männer, die an einer Thora-Schule studieren und bisher weitgehend vom Militärdienst befreit waren. Das hat sich durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Juni geändert. 63.000 Yeshiva-Studenten sind laut Schätzungen davon betroffen. Auch diesmal kann wieder mit heftigen Protesten gerechnet werden, wie eigentlich immer, wenn die Regierung mal wieder versucht, die seit der Staatsgründung bestehende Ausnahme für Thora-Schüler zu kippen. Damals gewährte die Regierung Ben Gurion rund 400 jungen Männern eine Ausnahmegenehmigung, die erst unter der Likud-Regierung ab 1977 quasi zu einer Generalbefreiung vom Wehrdienst führte. 

Im Prinzip sympathisiere ich mit jedem, der sich staatlichem Zwangsdienst widersetzt oder dagegen protestiert. Das gilt auch für den einzelnen Thora-Schüler. Allerdings muss man der ultraorthodoxen Community auch eine gehörige Portion Heuchelei vorwerfen. Denn die meisten Haredim nehmen an Knesset-Wahlen teil und votieren dort für Parteien, die in den vergangenen Jahren ausschließlich Allianzen mit dem Likud und nationalreligiösen Parteien gebildet haben, die den Militärzwang als einen Grundpfeiler des Staates preisen und nicht davor zurückschrecken, israelischen Kindern schon von klein auf beizubringen, dass sich die Shoah ohne eine starke Armee jederzeit wiederholen würde. Auch eine solche Gehirnwäsche ist mitschuldig daran, wenn sich junge israelische Männer freiwillig für kämpfende Einheiten melden und dann in nutzlosen Scharmützeln des zionistischen Staates den frühen Tod finden.

Zwar ist auch die ultraorthodoxe Community seit der Zweiten Intifada massiv nach rechts gerückt, doch in der eigentlich längst obsoleten Friedensfrage ist man nach wie vor eher pragmatisch. Mein palästinensischer Freund Hakam, mit dem ich jeden Morgen von Jerusalem zur Universität nach Tel Aviv gependelt bin, sagte beim Durchfahren eines ultraorthodoxen Viertels in Jerusalem mit Blick auf all die schwarz gekleideten Männer mit Hüten einmal: „Thorsten, das sind unsere größten Verbündeten.“ In seinem Restaurant in Ostjerusalem, in dem „Siedler“, womit Hakam Juden meint, die östlich der Demarkationslinie von 1949, in der sogenannten Grünen Linie, leben, pauschal Hausverbot haben, sind Haredim hingegen gern gesehene Gäste. Die enge Allianz zwischen Ultraorthodoxen sowie dem Likud und nationalreligiösen Parteien hat auch ein wenig mit mangelnden Alternativen zu tun. Weder die kaum noch existenten linken Parteien noch die Parteien der Mitte waren zuletzt noch bereit, die Yeshiva-Ausnahmen beizubehalten und auf die finanzielle Klientelpolitik der beiden ultraorthodoxen Parteien einzugehen. Nur Netanyahu war das, der sein politisches Überleben längst, ebenfalls aus mangelnden Alternativen, an die Nationalreligiösen und die Ultraorthodoxen gekoppelt hat. 

Einst zeichnete die Ultraorthodoxen gerade ihre Flexibilität aus, im Zweifel sowohl mit den Rechten als auch den Linken regieren zu können. Man erinnere sich nur an die beginnenden 90er Jahre. Damals im Jahr 1990 haben die Ultraorthodoxen Yitzhak Schamir erst gestürzt, mit dem Chef der Arbeitspartei Schimon Peres geflirtet, nur um Schamir vorübergehend wieder ins Amt zu hieven, bevor die Ultraorthodoxen schließlich mit ihren Stimmen den Weg für die zweite Regierung Rabin 1992 freimachten. Doch seitdem waren die Ultraorthodoxen nur noch einmal Teil einer auf dem Papier linken Regierung, nämlich unter der von Ehud Barak 1999. Rechten Regierungen gehörten sie seitdem fast immer an. Mit zwei Ausnahmen: 2003 ließ Ariel Scharon die Ultraorthodoxen außen vor, was damals der Preis für die Regierungsbeteiligung der radikalsäkularen Schinui-Partei unter Tommy Lapid war. Als die Regierung dann zerbrach, versäumte Scharon allerdings nicht den sofortigen Kotau vor den Haredim. Lapid habe alles gehasst, was jüdisch sei, kommentierte der säkulare Scharon damals das Koalitionsaus mit dem säkularen Holocaust-Überlebenden Lapid. Zehn Jahre später versuchte es Netanyahu dann mit einer national-säkularen Regierung ohne ultraorthodoxe Beteiligung, der allerdings nur eine kurze Lebenszeit beschieden war und die sich, zumindest unter der Führung des mittlerweile 74-Jährigen, ganz sicher nicht wiederholen wird.

Ich muss sagen, dass ich weitaus größeren Respekt habe vor jungen, meist linken Israelis, die den Zwangsdienst aus humanitären Gründen verweigern und sich im Zweifel dafür einsperren lassen, als vor Leuten, die über politische Parteien Ausnahmen für ihre Klientel vom allgemeinen Zwang erwirken. Doch das ist freilich bloß die Betrachtung einer Gruppe. Was der einzelne Thora-Student gewählt hat oder ob er überhaupt gewählt hat, wissen wir nicht. Ich weiß, es fällt schwer, in einer Gruppe, die bewusst nach außen, nicht nur durch ihre Kleidung, Uniformität suggeriert, sich den Blick auf den einzelnen Menschen zu bewahren. Doch nichts wäre falscher, als in der ultraorthodoxen Community eine gleichförmige Masse gleichgeschalteter religiöser Zombies zu sehen. Ich hatte ein ähnliches Vorurteil, bis ich während meiner Zeit in Jerusalem zum ersten Mal wirklichen Kontakt zu Ultraorthodoxen hatte. Da haben manche – auch in Bezug auf politische und religiöse Fragen – ein Reflexionsvermögen offenbart, das mich damals tief beeindruckt hat. Auch der häufige Vorwurf, dass Ultraorthodoxe nicht arbeiten würden, sondern stattdessen ihre Frauen zum Betteln schickten, um selbst ihren Thora-Studien nachgehen zu können, ist zwar nicht ganz aus der Luft gegriffen, aber auch viel zu pauschal. Die Mehrheit der ultraorthodoxen Männer in Israel geht einer Arbeit nach. Richtig perfide wird es dann, wenn einige den jungen Yeshiva-Studenten vorwerfen, sie arbeiteten nichts. Denn das war eine der Bedingungen für die Freistellung vom Wehrdienst: Yeshiva-Studenten war es staatlicherseits verboten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Allgemein ist man gut beraten, nicht alles zu glauben, was einem säkulare Israelis oft so über die „jüdischen Taliban“ erzählen.

Während Covid war die ultraorthodoxe Community ein Lichtblick an zivilem Ungehorsam im Vergleich zur duckmäuserischen Folgsamkeit der israelischen Mehrheitsgesellschaft. Keine andere Gruppe war stärker Opfer von Polizeigewalt. Ich wünschte nur, diese Erfahrungen hätten bei vielen auch zu einer Neubewertung ihres Verhältnisses zum Staat Israel geführt. Danach sieht es, zumindest in der breiten Masse, nicht aus, aber vielleicht irre ich mich. In der Mandatszeit bis weit hinein in die Anfangszeit des Staates Israel standen die Haredim dem zionistischen Projekt noch überwiegend ablehnend gegenüber. Ihre Auffassung damals: Nur Gott selbst könne den Staat Israel errichten, nicht der gottlose Zionismus. Seitdem haben die Ultraorthodoxen mit Ausnahme einiger ganz radikaler Fraktionen überwiegend ihren Frieden mit dem säkularen Staat gemacht. Auch ist es ganz normal, dass Haredim heute untereinander auf Hebräisch kommunizieren – die Sprache, die einst Gott vorbehalten sein sollte, während vor allem in den europäisch-ultraorthodoxen Vierteln noch weit nach der Staatsgründung überwiegend Jiddisch zu hören war. 

Viele Ultraorthodoxe rechtfertigen die Wehrdienstausnahme übrigens damit, dass sie sogar noch mehr zur Verteidigung Israels beitrügen als Soldaten – und zwar durch ihr Gebet. Wer weiß, vielleicht wäre die Region heute eine friedlichere, wenn sich in Israel die ultraorthodoxe Strategie durchgesetzt hätte. Oder vielleicht haben die Zionisten recht, die mir darauf sofort entgegnen würden, dann gäbe es längt keinen Staat Israel mehr. Ich stelle mir dann sofort die Frage: Ist es wirklich erstrebenswert, einen Staat zu erhalten, der nur durch den Einsatz von Zwang, Waffengewalt und mit massivem Leid auf beiden Seiten verteidigt werden kann? In keinem westlichen Land leben Juden jedenfalls – entgegen der zionistischen Propaganda – weniger sicher als in Israel, und das schließt Länder mit hohem Moslemanteil wie Schweden und Frankreich mit ein. Wobei die These, ohne Militärzwang könne der Staat nicht verteidigt werden, ohnehin absurd ist. Denn natürlich würde Israels Armee genügend Freiwillige zur Landesverteidigung finden; allerdings könnte ohne Zwang die personalintensive Besatzung im Westjordanland, wo Soldaten meist Polizeiaufgaben verrichten, nicht aufrechterhalten werden.

Jedes israelische Kind wird von der Schule an darauf konditioniert, im Zweifel bereit zu sein, für die Existenz Israels zu sterben. Als Vorbild dienen dabei auch zionistische Märtyrer aus der vorstaatlichen Zeit wie etwa Joseph Trumpeldor, nach dem in fast jeder israelischen Stadt heute eine Straße benannt ist. Trumpeldor starb 1920 bei der Verteidigung des jüdischen Stützpunkts Tel Hai nahe der heutigen Stadt Kirjat Schmona. Jeder israelische Jugendliche kennt die überlieferten letzten Worte Trumpeldors, der im Angesicht des nahen Todes gesagt haben soll: „Ein Davar, tov lamut bead artzeinu“ („Macht nichts, es ist gut, für unser Land zu sterben“). Wer nicht auf diesen patriotischen Selbstzerstörungszug aufspringen will, hat es in der israelischen Gesellschaft bisweilen schwer. Seit das israelische Supermodel Bar Rafaeli sich durch einen Trick einem Großteil ihres Wehrdienstes entzog, hat ihre Beliebtheit in ihrer Heimat ziemlich gelitten. Noch härter trifft es freilich die jungen Verweigerer, die nicht in den besetzten Gebieten Dienst tun wollen. Sie werden vom Staat Israel nicht nur regelmäßig schikaniert und eingesperrt, sondern haben auch nach ihrer endgültigen Entlassung massive Nachteile auf dem israelischen Arbeitsmarkt, wie übrigens auch Ultraorthodoxe und Araber, die nicht zur Armee gehen. 


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.