Tyrannei der Minderheit: Wie demokratisch ist der Parteienstaat?
Über unsere moderne Herrschaftselite
In der modernen Demokratie gilt das Mehrheitsprinzip auf der Grundlage, dass jede Stimme gleich zählt. Durch diese Regel unterscheidet sich die Parteiendemokratie von autoritären Regierungsformen. Die Mehrheitsdemokratie ist jedoch eine Mogelpackung, denn auch in so einem System agiert der Staatsapparat autoritär und diktatorisch. Die moderne Parteiendemokratie ist nicht weniger parasitär angelegt als die ausbeuterischen Staatsregime der Vergangenheit.
Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern eine Tyrannei der Minderheit, die die Staatsgewalt ausübt. Diese Despoten handeln scheinbar legitimiert durch das Mehrheitsvotum als Befehlshaber des Staates – nicht viel anders als eine Herrschaft, die durch Gewalt, Vererbung, Tradition oder Charisma an die Macht gekommen wäre. In der Mehrheitsdemokratie ist nicht das Volk an der Macht, sondern die Führer der politischen Parteien in Verbindung mit der Technokratie und den Vertretern spezieller Interessengruppen, die hinter den Kulissen das Geschehen lenken.
Die jüngere Geschichte Englands – als Wiege der modernen Demokratie – zeigt, wie der klassische Liberalismus gescheitert ist. Dieser ist im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch den Ansturm der Parteiendemokratie untergegangen. Sobald das Wahlrecht auch Personen ohne Eigentum umfasste, waren die Tage der liberalen Ordnung gezählt. Die Regel „one man – one vote“ wurde nach der dritten Wahlreform von 1884 gültig. Allerdings konnte bis 1911 das Oberhaus als Versammlung der Lords noch ein Veto gegen die Gesetzgebung des Parlaments (Unterhaus) einlegen und das Frauenwahlrecht wurde im Vereinten Königreich erst 1928 eingeführt (in der Schweiz übrigens erst 1971).
Solange die Ausdehnung des Wahlrechts auf die Massen in Schach gehalten wurde, blühte die Wirtschaft Großbritanniens. Je mehr jedoch die Massendemokratie zum Durchbruch kam und entsprechend der sogenannte „Wohlfahrtsstaat“ ausgeweitet wurde, desto mehr bewegte sich das Vereinigte Königreich auf den schlüpfrigen Abhang des wirtschaftlichen Niedergangs zu. Dieser Sturz kam aber nicht wegen der Menschen zustande. Der Niedergang lag nicht daran, dass auch die sogenannten „unteren Klassen“ und die Frauen das Wahlrecht bekamen. Der Grund liegt darin, dass die Massendemokratie mit dem Aufstieg der politischen Parteien und der professionellen Politiker einherging. Nicht die Demokratie an sich ist das Problem, sondern ihre Einvernahme durch die Parteipolitiker.
In der Parteiendemokratie werden die Wahlkämpfe als Wettbewerb zwischen politischen Parteien ausgetragen. Es geht dabei darum, uneinlösbare Versprechen möglichst glaubhaft zu vertreten. Der Wahlkampf wird mit Parolen, Halbwahrheiten und Lügen geführt. Es stellen sich verschiedene Parteien zur Wahl, wobei die Personen, die diese Parteien vertreten, einer eigenen, vom Volk zu unterscheidende Verbindung angehören.
Alle, die die Organisation von Regierung und Verwaltung leiten, verbinden sich miteinander und trennen sich vom Rest der Gesellschaft. Sie formieren sich als eine eigene Gruppierung, die sich als „Elite“ versteht. Diese Selbsterhebung erlaubt es der „politischen Klasse“, dass sie ein Eigenleben führen kann, das sie vom Rest der Gesellschaft unterscheidet. Damit die Mitglieder des Staatsapparates miteinander im Einklang handeln und sich auf die zu verfolgende Ziele ausrichten können, müssen sie über einen Korpsgeist verfügen, den alle seine Mitglieder teilen und der ihnen ihre Stärke und einen eigenen Willen verleiht, wodurch sie ihre Machtposition sicherstellen. Diese Trennlinie geht mit der Anwendung von Gewalt einher. Die Autorität über Gewalt unterscheidet die Herrschenden vom einfachen Volk. Was den Politiker vom sportlichen oder wirtschaftlichen Wettbewerber unterscheidet, ist nicht der Wille zum Sieg, sondern der Wille zur Herrschaft, das Streben nach Macht, um anderen Menschen Zwang aufzuerlegen.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts erleben wir eine immense Ausweitung des Staatsapparates. Dies ist aber keineswegs eine natürliche Entwicklung. Natürlich ist eine Gesellschaft nur als eine kleine Gesellschaft, die vom Band der Gemeinschaftlichkeit getragen wird. Damit aus einer kleinen Gesellschaft eine große wird, braucht es einen weiteren Faktor. Dieser Faktor ist der Herrschaftswille. Wie Bertrand de Jouvenel 1945 in seinem Klassiker „Du Pouvoir“ („Über die Macht“) ausführt, beruhen große Staatsgebilde stets auf Eroberung und Niederwerfung.
Indem sich die moderne Massengesellschaft einen Apparat zu ihrem Dienst schafft, bereitet sie den Weg zur Entfaltung einer Sondergruppierung, die sich von der ursprünglichen Gesellschaft unterscheidet. Diese „Herrschaftselite“ entwickelt zwangsläufig ihre eigenen Interessen. Als Dominanzgruppe repräsentiert sie die Staatsmacht, und ihr Egoismus ist ein notwendiger Teil ihrer Herrschaft. Aus dieser Konstellation folgen ein Machtwachstum und Herrschaftsanspruch, dem keine prinzipiellen Grenzen gesetzt sind. Es ist ein Wachstum, das nicht durch das Volksinteresse geleitet wird, sondern allein durch das Verlangen nach Dominanz.
Die Machtelite beherrscht den Staat. Als ein künstlicher Körper ohne feste Grenzen ist das Ausmaß des Staates unbegrenzt und kann immer mehr gesteigert werden. Der Egoismus der Herrschaftselite prägt den Staat und gibt ihm Leben und erweitert unablässig seinen Tätigkeitsbereich. Machtzuwachs schlechthin ist das Wesen der Staatsherrschaft. Jede Macht, welcher Art sie auch sein mag, betrachtet den Rest der Gesellschaft, die Masse, als ihr Kapital, aus der sie die für ihre Zwecke erforderlichen Ressourcen beziehen kann. Dieses Merkmal der Staatsgewalt manifestiert sich in konkreter Weise in der Vergrößerung der ihr zur Verfügung stehenden Budgets und in der Schaffung von Vorschriften, die sie auferlegt, und von Staatsbediensteten, die deren Ausführung überwachen. Daraus entsteht das ständige Wachstum der Ausgaben, der Gesetzgebung und des öffentlichen Dienstes. Inzwischen besteht der Staatsapparat nicht mehr hauptsächlich aus subalternen Beamten, sondern wird von der Technokratie gemanagt. Diese Technokraten agieren als die tatsächliche Machtelite.
Die Ausweitung des Staates ist für den Einzelnen in Form von Bürokratie und der Belastung durch Steuern und Gebühren unmittelbar spürbar. Die dahinterstehende Triebkraft ist in der modernen Gesellschaft die Technokratie, die ihre eigenen Interessen über alles andere stellt. Diese Entwicklung stößt auf allgemeine Ablehnung, dennoch nimmt die staatliche Aktivität zu. Seit Langem schon ist von Staats- und Politikverdrossenheit die Rede, die darauf zurückzuführen ist, dass sich die Staatsgewalt gegen den Willen der Bürger richtet.
Indem sich die Massengesellschaft einen Apparat zu ihrem Dienst geschaffen hat, hat sie damit eine Nebengesellschaft ins Leben gerufen, die sich von der ursprünglichen Gesellschaft unterscheidet und zwangsläufig ihre eigenen Gefühle, Interessen und persönlichen Willen hat. Diese Dominanzgruppe repräsentiert Macht und verfolgt eine eigene Form des Egoismus. Es ist der Egoismus der Macht, der keine Grenzen kennt.
Die moderne Demokratie leidet unter dem Widerspruch, dass, während immer mehr Bürger den Politikern und dem Staat misstrauen und weniger Steuern und weniger staatliche Kontrolle wollen, jeder Wähler darauf erpicht ist, seine Stimme so zu nutzen, dass er selbst ein möglichst großes Stück vom Kuchen abbekommt. Ein solches System ist weder demokratisch noch repräsentativ; es ist inhärent korrupt, da es ein politisches Spiel produziert, in dem jeder Wähler versucht, alle anderen Wähler zu hintergehen. Das Prinzip der modernen Demokratie besteht darin, dass die Wähler versuchen, sich gegenseitig das Geld aus den Taschen zu ziehen. Dieser Versuch geht jedoch schief, denn am Ende zahlen die Bürger selbst dafür.
Für die Gesellschaft insgesamt bedeutet der sogenannte „Wohlfahrtsstaat“, dass netto mehr Kosten als Vorteile auflaufen. Der Gewinner dieses Arrangements ist die Herrschaftselite des Staates. Am meisten geschädigt werden die wirtschaftlichen Leistungserbringer, aber auch die meisten Ärmeren zahlen drauf. Auch für sie könnte der Lebensstandard viel höher sein, wenn die enormen Kosten des Staates wegfielen.
Bertrand de Jouvenel: „Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums“ (1972), Erstveröffentlichung 1945 („Du pouvoir: Histoire naturelle de sa croissance“)
Antony P. Mueller: „Antipolitik“ (KDP 2024) und „Technokratischer Totalitarismus“ (KDP 2023)
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