09. September 2024 21:00

Putins Krieg gegen die Wahrheit Die Ukraine nach dem Fall der Sowjetunion

Teil eins

von Christian Stolle

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Bildquelle: Shutterstock Auf Kriegsfuß mit der Wahrheit: Wladimir Putin

An der Propagandafront steht Russland dem Westen in nichts nach. Olga Skabejewa, Moderatorin der beliebtesten politischen Talkshow im russischen Staatsfernsehen, gab explizit zu, Propaganda für die russische Regierung zu machen. Sie nennt dies „Common Sense Propaganda, Propaganda der Interessen deines Staates, auch wenn es sich um eine aggressive Durchsetzung der Interessen deines Landes handelt“, denn „wenn wir uns als Patrioten betrachten, ist es besser, dem Standpunkt des Staates zu folgen und für den Staat zu arbeiten.“ Zudem nutzt der Kreml KI-gestützte Bots in den sozialen Medien, die wie Profile realer Personen aussehen und Propaganda im Sinne der russischen Regierung verbreiten.

In dieser Kolumnen-Reihe werden Propagandalügen des Westens sowie der ukrainischen und der russischen Regierung entlarvt. Dabei zeigt sich: Kein Staat hat die Wahrheit für sich gepachtet, und die Menschen tun gut daran, Kriegspropaganda zu hinterfragen, egal woher sie kommt.

In fünf Teilen liegt der Fokus auf den Ereignissen zwischen der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 und dem russischen Großangriff auf die Ukraine 2022.

Sowohl Russland als auch der Westen haben politische Gruppen im Ausland finanziert, um ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen. In der Ukraine liefern sich beide ein Tauziehen. Die Ukraine liegt zwischen Russland und der EU und ist reich an fruchtbaren Böden, Erdgas und seltenen Erden. Doch trotz reichhaltiger Ressourcen leiden die Ukrainer seit langem unter einem niedrigen Lebensstandard, bedingt nicht zuletzt durch weit verbreitete Korruption.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 verblieb die Ukraine weitgehend im Einflussbereich Russlands, wobei die Ukraine ein Militärbündnis mit dem Westen anstrebte, um eine erneute russische Vorherrschaft zu verhindern. 1994 trat die Ukraine dem NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ bei, das die Zusammenarbeit zwischen der NATO und potenziellen neuen Mitgliedern stärken soll. Russland versuchte seinerseits, mit Hilfe des 1996 gegründeten Instituts für Diaspora und Integration (später umbenannt in Institut der GUS-Staaten) seinen Einfluss auf die Ukraine und andere postsowjetische Staaten auszubauen. Die ukrainischen Behörden untersagten dem Gründer des Instituts, Konstantin Zatulin, wiederholt die Einreise in die Ukraine aufgrund seiner Versuche, die ukrainische Souveränität zu untergraben.

1997 unterzeichnete der ukrainische Präsident Leonid Kutschma zum einen die NATO-Ukraine-Charta über eine besondere Partnerschaft und zum anderen den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag, in dem die Präsidenten Russlands und der Ukraine ihr Bekenntnis zu einer strategischen Partnerschaft und zur Achtung der gegenseitigen territorialen Integrität bekräftigten. Für Russland bedeutete eine strategische Partnerschaft mit der Ukraine offenbar russische Dominanz, wie Russlands Präsident Boris Jelzin 1999 klarstellte. Gegenüber US-Präsident Bill Clinton verkündete Jelzin, Russland wolle die USA als dominierende Macht in Europa ablösen. Jelzin sagte: „Ich bitte Sie um eine Sache. Geben Sie Europa einfach an Russland.“ Clinton wandte ein: „Ich glaube nicht, dass dies den Europäern besonders gut gefallen würde.“ Jelzin antwortete: „Nicht allen. Aber ich bin Europäer. Ich lebe in Moskau. Moskau liegt in Europa und ich mag es. Sie können alle anderen Staaten nehmen und ihnen Sicherheit verschaffen. Ich werde Europa nehmen und ihm Sicherheit verschaffen. Nun, nicht ich. Russland wird das tun.“ Kutschma hatte jedoch offensichtlich andere Pläne, als er auf einem NATO-Gipfel im Jahr 2002 die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zum strategischen Ziel seines Landes erklärte.

Bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2004 setzte sich Viktor Janukowitsch von der pro-russischen Partei der Regionen in einer hart umkämpften Stichwahl gegen den pro-westlichen Kandidaten Viktor Juschtschenko durch, der nur wenige Monate vor der Wahl knapp einen Giftanschlag überlebt hatte. Janukowitschs Sieg war mutmaßlich das Ergebnis von Wahlbetrug, was eine Reihe von Protesten auslöste, die „Orange Revolution“. Die vom Westen geförderten Proteste führten zu Neuwahlen, die Janukowitsch verlor. Als Reaktion auf Juschtschenkos Wahlsieg förderte Russland den Separatismus in russischsprachigen Regionen der Ukraine wie dem Donbas, einem wichtigen Industriezentrum an der Grenze zu Russland.

Konstantin Skorkin von der in Lettland ansässigen russischen (aber in Russland verbotenen) Nachrichtenseite „Meduza“ schrieb hierzu:

„Die russischen Behörden reagierten zweifellos hart auf die Orangene Revolution und waren offenbar überrascht, dass die Ukraine, die viele als ,brüderliche Nation‘ betrachteten, wirklich einen von Russland unabhängigen Staat wollte.

Als nach der Orangenen Revolution radikale Separatistenorganisationen im Donbass auftauchten, waren ihre Unterstützungsquellen immer häufiger in Moskau zu finden. Der Forscher Wladimir Peschkow schrieb: ,Mehrere Zeitungen und Zeitschriften tauchten aus dem Nichts auf, aber jeder wusste, dass sie von Moskau finanziert wurden. Etwa zur gleichen Zeit nahmen neue Nichtregierungsorganisationen mit unklarem Ursprung ihre Tätigkeit auf. Diese wurden von Russland aus von der Internationalen Eurasischen Bewegung unter der Leitung des Chefideologen Alexander Dugin geführt.‘ Zu dieser Zeit entstanden auch Ausbildungslager, in denen separatistische Aktivisten im Umgang mit Waffen geschult wurden.

Neben der Förderung radikaler Gruppierungen fand eine eher ,seriöse‘ Indoktrination der lokalen Bevölkerung statt. In [den Donbass-Hauptstädten] Luhansk und Donezk gab es ständig runde Tische und Konferenzen über die Bedrohung durch den ,ukrainischen Faschismus‘, die Aussichten auf eine Föderalisierung des Landes und den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Die lokalen Medien berichteten aktiv über all diese Themen. Das vom russischen Staat geförderte Institut der GUS-Staaten spielte bei der Organisation dieser Veranstaltungen eine wichtige Rolle. Das Institut, das sich selbst als Denkfabrik positionierte, arbeitete daran, die Idee zu verbreiten, dass Russland den postsowjetischen Raum dominieren sollte.“

2007 nahmen Präsident Juschtschenko und die EU Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen auf. Auf einem NATO-Gipfel im Jahr 2008 ersuchte Juschtschenko offiziell um einen Aktionsplan zur Mitgliedschaft. Die NATO begrüßte den Antrag der Ukraine, ohne einen konkreten Zeitrahmen für den Beitritt festzulegen. Russlands Präsident Wladimir Putin reagierte trotzig auf die ukrainischen NATO-Bestrebungen. Er stellte die nationale Einheit der Ukraine in Frage und drohte mit der Annexion erheblicher Teile des ukrainischen Territoriums.

Die russische Tageszeitung „Kommersant“berichtete übereinstimmend mit anderen Quellen:

„Am vergangenen Wochenende fassten die Teilnehmerstaaten des NATO-Gipfels in Bukarest die Ergebnisse zusammen. In Kyjiw überlegten sie, wie sie auf die Warnung von Wladimir Putin reagieren sollten, der andeutete, dass die Ukraine aufhören könnte, als eigenständiger Staat zu existieren, wenn sie dem Bündnis beitritt. Eine Kommersant-Quelle aus der Delegation eines der NATO-Länder sagte: ,Aber als es um die Ukraine ging, ist Putin ausgerastet. An [US-Präsident] Bush gewandt, sagte er: ‚Sie wissen, George, dass die Ukraine nicht mal ein Land ist! Was ist die Ukraine? Ein Teil ihres Territoriums gehört zu Osteuropa, und ein Teil davon, ein großer Teil davon, war ein Geschenk von uns!‘ Und dann deutete er ganz offen an, dass, wenn die Ukraine in die NATO aufgenommen würde, das Land einfach aufhören würde zu existieren. Putin drohte damit, dass Russland damit beginnen könnte, der Ukraine die Krim und die Ostukraine wegzunehmen.‘“

Die Halbinsel Krim ist die namensgebende Heimat der Krimtataren, eines Turkvolkes, das die Krim ab dem 15. Jahrhundert dominierte. Im Jahr 1783 wurde die Krim vom Russischen Kaiserreich annektiert, das verschiedene Formen der Diskriminierung der Krimtataren legalisierte. Dennoch blieben diese bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die größte ethnische Gruppe auf der Krim. 1944 wurden sie zusammen mit anderen Nicht-Russen wie Armeniern, Griechen und Bulgaren im Rahmen eines sowjetischen Zwangsumsiedlungsprogramms vollständig von der Krim vertrieben. Seitdem waren die meisten Krimbewohner stets Russen. 1954 machte die sowjetische Führung in Moskau die Krim zur südlichsten Provinz der Ukraine, offenbar im Bestreben, die Ukraine durch eine neue russische Provinz zu russifizieren.

Die Ostukraine war das Zentrum des anarchistischen antisowjetischen Widerstands während des sowjetisch-ukrainischen Kriegs von 1917 bis 1921, den die Sowjets gewannen. Die letzten Reste des Widerstands in dieser Region wurden während des Holodomor (Ukrainisch: hólod = Hunger; morýty = ausrotten) dezimiert, einer politisch verursachten Hungersnot von 1932 bis 1933, der Millionen Ukrainer zum Opfer fielen, insbesondere in der Südostukraine. In der Folgezeit setzte Moskau die Russifizierung der Region fort.

Die globale Finanzkrise von 2007 traf auch die ukrainische Wirtschaft, was Viktor Janukowitsch bei den Wahlen 2010 zum Sieg über Amtsinhaber Viktor Juschtschenko verhalf. Janukowitsch präsentierte sich im Wahlkampf als gemäßigter Politiker, der für eine neutrale Ukraine eintrat, die mit der EU, der NATO und Russland assoziiert, aber von diesen unabhängig sein sollte. 2011 gründeten die Ukraine, Russland und Weißrussland die Freihandelszone der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Gleichzeitig strebte Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU an.

2012 gab die Eurasische Jugendunion, die Jugendorganisation der russisch-imperialistischen Internationalen Eurasischen Bewegung, bekannt, dass die soziale Bewegung „Donezker Republik“ eine Botschaft in der Zentrale der Jugendunion in Moskau eröffnet hat. Die „Donezker Republik“ hatte nur wenig Unterstützung in der Ukraine und wollte eine russische Annexion aller südöstlichen Provinzen der Ukraine, also fast die Hälfte des Landes, deutlich mehr als die aktuell von Russland besetzten Gebiete. Die Jugendunion erklärte, die Eröffnung der Botschaft werde „zur Stärkung der Beziehungen zwischen den Bewohnern der Donezker Republik und dem übrigen Russland sowie zur Wiedervereinigung der 1991 künstlich getrennten Gebiete des historischen Russlands beitragen“. 1991 feierte die Ukraine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion, deren Auflösung Putin 2005 als „bedeutende geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnete, obwohl die Sowjetunion ein totalitärer Staat war. Allein im Zuge der Revolution zur Gründung der Sowjetunion wurden acht bis zwölf Millionen Russen ermordet, später kamen Millionen ermordete Oppositionelle hinzu.

Während in Russland Pläne zur Annexion der Südostukraine geschmiedet wurden, äußerte der EU-Rat für Auswärtige Angelegenheiten die Hoffnung, dass auf dem EU-Gipfel zur östlichen Partnerschaft im November 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet wird, sofern die Ukraine Wahl-, Justiz- und Verfassungsreformen durchführt. Im Februar 2013 verpflichtete sich die Ukraine zur Umsetzung dieser Reformen. EU-Präsident Barroso erklärte jedoch, dass die Ukraine nicht gleichzeitig einer Zollunion mit Russland beitreten und engere Beziehungen zur EU aufbauen könne. Ein Assoziierungsabkommen mit der EU hätte der Ukraine somit den Beitritt zur Eurasischen Zollunion verwehrt, die 2010 von Russland, Belarus und Kasachstan gegründet wurde.

Als sich die Ukraine im Sommer 2013 auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU vorbereitete, griff Russland die ukrainische Wirtschaft mit Handelsbeschränkungen an, die auch die wichtigsten Exportgüter der Ukraine – Stahl und landwirtschaftliche Erzeugnisse – betrafen. Russland war der größte Handelspartner der Ukraine, doch der wirtschaftliche Druck hielt die ukrainischen Gesetzgeber nicht davon ab, den Entwurf des Assoziierungsabkommens zu genehmigen.

Putins Berater Sergej Glasjew erklärte, dass ein ukrainisches Assoziierungsabkommen mit der EU den russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrag von 1997 verletzen würde und deutete an, dass Russland im Falle einer Unterzeichnung militärisch eingreifen könnte, falls sich pro-russische Regionen des Landes direkt an Moskau wenden. Im September 2013 ernannte Putin seinen Chefideologen Wladislaw Surkow zum Leiter des russischen Programms für hybride Kriegsführung zur Russifizierung der Ukraine. Surkows Aktivitäten wurden später durch russische Kräfte in der Ukraine, durch offensichtliche Entwicklungen vor Ort sowie durch Surkows interne E-Mails offengelegt, die 2016 von der ukrainischen Hackergruppe „CyberHunta“ veröffentlicht wurden.

Alya Shandra und Robert Seely vom britischen Royal United Services Institute schrieben hierzu:

„Russlands Aktivitäten in der Ukraine sind eine Neuerfindung der ,aktiven Maßnahmen‘, einer Form der politischen Kriegsführung, bei der die Sowjetunion Pionierarbeit geleistet hat. Die Strategie für diese aktiven Maßnahmen ist eng mit einem Konzept verknüpft, das als ,reflexive Kontrolle‘ bekannt ist, einer sowjetischen streng geheimen Technik zur Manipulation eines Gegners, damit dieser Entscheidungen trifft, die zu seiner eigenen Niederlage führen. Der Kreml erforschte akribisch die Feinheiten des ukrainischen Alltags, um die ukrainische Weltanschauung zu verstehen und Schwachstellen zu identifizieren, die ausgenutzt werden können. Dann schuf er mit Hilfe von Medien, Tarnorganisationen, Provokateuren und bezahlten Kundgebungen eine virtuelle Realität, um die Ukraine zu Entscheidungen zu zwingen, die russischen Zielen dienen.

Die E-Mails enthüllen die Details der täglichen Operationen Russlands zur Destabilisierung der Ukraine. Sie beschreiben insbesondere, wie der Kreml die Schwächen der Ukraine erforschte, ,Insider‘ suchte, die dabei helfen konnten, solche Schwächen sowie lokale Gruppen zu identifizieren, die dabei helfen würden, diese Schwächen auszunutzen, und heimlich Programme finanzierte, die darauf abzielten, die Ukraine zu spalten. Er unterstützte lokale Gruppen, die im Wesentlichen Zuschussanträge für Aktivitäten eingereicht hatten, die bestehende Konflikte verschärfen und neue hervorrufen, Proteste anregen, Angst, Verwirrung und Misstrauen verbreiten und unter dem Deckmantel vorgetäuschter zivilgesellschaftlicher Aktivitäten die Illusion einer Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung für den Föderalismus und/oder Russland erzeugen sollten. Die E-Mails deuten darauf hin, dass der Kreml und seine Agenten eng mit den ,Zuschussempfängern‘ zusammenarbeiteten, den Erfolg der einzelnen Maßnahmen analysierten und künftige Pläne je nach Entwicklung der Situation änderten.“

Viele in Janukowitschs Partei der Regionen unterhielten wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland. Im November 2013 trafen Janukowitsch und weitere führende Mitglieder seiner Partei mit Vertretern der russischen Regierung zusammen. Daraufhin erklärte Janukowitsch, dass er die Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU aufgrund von Bedenken hinsichtlich des Handels mit Russland aussetzen werde. Er schlug außerdem trilaterale Gespräche zwischen der Ukraine, Russland und der EU vor.

Fortsetzung folgt.

Quelle:

Putins Krieg gegen die Wahrheit (Blog Christian Stolle)


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