19. September 2024 06:00

Öffentliches Interesse Vorsicht vor dem Allgemeinwohl

Wer entscheidet, welches individuelle Glück geopfert wird?

von Olivier Kessler

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Bildquelle: art-siberia / Shutterstock Bekundungen von Zuneigung und Liebe: Gefährdeten während der P(l)andemie das Allgemeinwohl ...

Parteien und Politiker propagieren und beschließen gerne Maßnahmen, die angeblich im „öffentlichen Interesse“ seien. Diese Interventionen dienten nichts anderem als dem „Allgemeinwohl“, weshalb sie „alternativlos“ seien. Auch wenn das von Fall zu Fall einleuchten mag, sollten Sie immer kurz innehalten, wenn jemand mit dem „Allgemeinwohl“ und dem „öffentlichen Interesse“ argumentiert. Denn meistens ist das ein billiger Trick, um Sonderinteressen zum Durchbruch zu verhelfen.

Zur Veranschaulichung des Problems wollen wir uns beispielhaft die politischen Reaktionen auf die Corona-Krise anschauen. Die allermeisten würden wahrscheinlich noch zustimmen, dass der Schutz der Gesundheit im öffentlichen Interesse liegt und das Allgemeinwohl darin besteht, dass möglichst viele Menschen gesund sind. Doch die Herausforderung liegt nicht darin, Dinge ausfindig zu machen, die praktisch alle Menschen anstreben. Kandidaten neben der Gesundheit wären da zum Beispiel Sicherheit, Liebe, Glück und Freiheit. Kompliziert wird es vielmehr, wenn jemand die Gewichtung der einzelnen Werte untereinander für alle Menschen festlegen wollte. Denn diese widersprechen sich oftmals.

Gesundheit ist wichtig, keine Frage. Doch muss sie deswegen für alle Menschen wichtiger sein als alles andere? Sollen alle eine Maske tragen, sich zu Hause isolieren und auf soziale Kontakte verzichten müssen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen? Können nicht auch der soziale Austausch, Liebe, Berührungen und frische Luft ein ebenso wichtiges Grundbedürfnis darstellen? Sollen wir alle Ressourcen auf die Gesundheitsförderung richten? Oder gibt es daneben noch Bereiche, für die ebenfalls Mittel zur Verfügung stehen sollten?

In politischen Debatten steht während gewissen Episoden oftmals ein einziges dominantes Thema im Vordergrund, wie eben zum Beispiel die Bekämpfung eines Virus. Die Versuchung ist dann groß, fundamentale Realitäten zu ignorieren: nämlich, dass Ressourcen knapp sind und der gleiche Franken nur einmal ausgegeben werden kann. Man kann nun dem Gesundheitswesen im Eifer des Gefechts viel mehr Steuergelder zukommen lassen und beschließen, dass der Staat mehr Masken und Impfungen einkaufen solle. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Gleichzeitig müsste man dann auch sagen, wofür man gleichzeitig weniger Geld ausgeben will: Soll man stattdessen die Hilfe für Arme und Behinderte zusammenstreichen? Oder vielleicht doch lieber den Pensionären weniger Rente auszahlen? Oder soll man bei den Krippenplätzen sparen?

Die meisten Politiker tun so, als würde Geld auf den Bäumen wachsen. Sie verhalten sich, als ob wir im Paradies leben würden und die Ressourcen endlos wären. Doch das sind verhängnisvolle Träumereien, die viel Schaden anrichten. Politiker sind Spezialisten darin, die Folgen ihres Handelns zu vertuschen und so zu tun, als könnten sie nur Nutzen bewirken, ohne dass jemand die Kosten tragen müsste. Doch in Wahrheit können sie nur Gelder umverteilen, die zuvor jemandem unter Androhung oder Anwendung von Gewalt weggenommen wurden.

Diesen Nutzen, den die Politik angeblich stiftet, hatte der Aufklärungsphilosoph Frédéric Bastiat (1801–1850) als Phänomen bezeichnet, das wir sehen. Was er hier anspricht, sind all die schönen Projekte, die Politiker auf den Weg bringen: den neuen Straßentunnel, den Busbahnhof, die zusätzlichen Züge, das Schulhaus, die Erhöhung der Rente, Corona-Hilfsgelder, die Aufstockung des Pflegepersonals et cetera.

Was wir hingegen nicht sehen, ist das, was wir uns durch die staatlichen Mehrausgaben in einem anderen Bereich nicht mehr leisten können. Wenn wir zum Beispiel die Steuern erhöhen müssen, um mehr für den Gesundheitsschutz zu tun, fehlt Privatinvestoren dadurch vielleicht gerade das nötige Geld, um eine bahnbrechende Innovation im Gesundheitswesen zu entwickeln, die viel mehr Leben gerettet hätte als die zweiunddreißigste Präventionskampagne, die der Staat mit diesem Geld lanciert.

Verschiedene Menschen bewerten unterschiedlich, verfolgen Ziele, die sich von jenen ihrer Mitmenschen unterscheiden. Individuen sind nun einmal einzigartig. Auch wenn wir uns hinsichtlich unserer Grundbedürfnisse wie Nahrung, ein Dach über dem Kopf und Kleider gewissermaßen ähnlich sein mögen, heißt das nicht, dass wir dieselben Dinge gleich bewerten. Zu behaupten, Gesundheit sei für alle wichtiger als sozialer Austausch oder Freiheit, und zu verlangen, dass wir Letztere deshalb zugunsten von Erstem opfern müssten, ist eine arrogante Anmaßung, die von sich selbst unzulässigerweise auf alle anderen schließt. Von sich selbst kann das jemand natürlich behaupten, aber er kann nicht in Anspruch nehmen, für die ganze Gesellschaft zu sprechen. Wer politische Maßnahmen mit dem Euphemismus des „Allgemeinwohls“ oder des „öffentlichen Interesses“ legitimieren will, begeht einen Denkfehler oder handelt bewusst manipulativ, um seine eigenen Interessen durchzusetzen und anderen zu schaden.

Als wäre die Abwägung zwischen einzelnen Werten nicht schon kompliziert genug, kommt auch noch die Frage nach dem Wie hinzu. Selbst wenn sich alle einig wären, dass Gesundheit der wichtigste aller Werte wäre: Wie soll man die Gesundheit nun konkret fördern, wenn zum Beispiel ein Virus die Runde macht? Durch Angst- und Panikmache, Lockdowns, Grenzschließungen, Kontaktverbote, Masken- und Impfzwang? Oder indem wir Ruhe bewahren und unser Immunsystem stärken, indem wir an die frische Luft gehen, uns gesund ernähren, uns bewegen, unsere Grundbedürfnisse wie den sozialen Austausch befriedigen, damit wir uns auch seelisch wohlfühlen? Soll die Politik die Fitnesscenter schließen? Oder richtet man damit noch mehr Schaden an, weil die Leute so weniger Sport treiben und damit ungesünder leben? Soll man alle über den gleichen Kamm scheren? Oder soll man sich an individuellen Charakteristiken wie Vorerkrankungen, Alter und das Ausleben glücklich machenden und damit oft auch gesundheitsstärkenden Vorlieben orientieren?

Bei all diesen Überlegungen wird klar, dass die Begriffe des „öffentlichen Interesses“ und des „Allgemeinwohls“ hochproblematisch sind. Jene, die behaupten, dass es ein öffentliches Interesse gäbe, tun so, als würden alle Menschen die genau gleichen Ziele verfolgen und dafür die exakt gleichen Mittel bevorzugen.

Doch die Realität sieht anders aus. Die Gesellschaft besteht nun mal nicht aus uniformen, gleichgeschalteten Menschen. Es handelt sich bei ihr vielmehr um ein komplexes, ungeplantes System, das keinen gemeinsamen Zweck verfolgt. Menschen ticken unterschiedlich und haben unterschiedliche Werte. Die Kunst besteht darin, diese friedlich aufeinander abzustimmen, damit jeder nach seinem individuellen Glück streben kann. Wer hingegen seine Eigeninteressen zum Allgemeinwohl hochstilisiert, diese gewaltsam (mithilfe des staatlichen Gewaltmonopols) durchzusetzen will und damit andere Werte unterdrückt, der übt lediglich Macht aus und handelt nicht im Sinne des Allgemeinwohls.

Weil jeder unter dem Allgemeinwohl etwas anderes versteht, wäre eine liberale Ordnung mit ihrem Schutz individueller Abwehrrechte am besten dazu geeignet, die verschiedenen Interessen friedlich unter einen Hut zu bringen. Weil so niemand zu irgendwelchen Handlungen gezwungen werden darf (außer er tritt zuvor selbst als Aggressor auf), ist sichergestellt, dass jeder auf seine individuelle Weise nach seinem persönlichen Glück streben und dabei von niemandem behindert werden darf. Und wenn möglichst viele Einzelne glücklich werden, so geht es auch der Gruppe, der Gesellschaft, der Allgemeinheit besser, weil „die Gesellschaft“ nun einmal aus der Summe aller Individuen besteht.


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