27. September 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 17 Étienne de La Boétie: Aufdeckung des Ursprungs der Knechtschaft

Erste Formulierung der Strategie des zivilen Ungehorsams

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: 16. századi kép, szerző ismeretlen / Wikimedia „Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei!“: Kernsatz von Étienne de La Boéties „Discours“

Die Philosophie der Neuzeit gibt sich politisch, wenn auch oft nur indirekt. Ihr praktischer Wert für den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt ist, vorsichtig gesagt, begrenzt. Aber indem sie nach Begründungszusammenhängen fragt, bedeutet sie immer zugleich eine Gefährdung der Herrschaft. Dies haben wir bei René Descartes (Teil 16 dieser Serie) gesehen. Die direkte politische Philosophie der Neuzeit beginnt sogar noch vor Descartes. Ihr Autor ist Étienne de La Boétie (1530–1563). Mit seinem „Diskurs über die freiwillige Knechtschaft des Menschen“, geschrieben zwischen seinem 16. und 18. Lebensjahr Ende der 1540er Jahre, steht er nicht nur im Anfang des Anarchismus, im Anfang der Strategie des zivilen Ungehorsams, sondern überhaupt im Anfang der politischen Theorie. Während davor politische, das heißt kriegerische Auseinandersetzungen um territoriale Erweiterung und Verfügung über Ressourcen mit legitimationsrechtlichen Argumenten formal verbrämt wurden, geht es seit dem 16. Jahrhundert mit der Reformation auf einmal um inhaltlich begründete ideologische Gefolgschaft. Man ringt zumindest vorgeblich um – religiöse – Ideen, obgleich die dahinterstehenden Interessen der Herrschenden sich nicht gewandelt haben. Mit einem Mal ist es nun wichtig, was die Bevölkerung (was die Untertanen) denken, glauben, sagen.

In La Boéties Diskurs spiegelt sich diese Situation, und zwar gleich in einer radikal-kritischen Form: Wenn die Herrschaft einer ideologischen Zustimmung bedarf, weswegen, überlegt La Boétie, geben die Menschen eigentlich ihre Zustimmung, wo doch so offensichtlich die Herrschaft zu ihrem Nachteil ist? Gleich der Auftakt des Diskurses klingt bombastisch: Die traditionelle Rede aus der vorausgehenden politischen Philosophie – La Boétie geht hier auf Odysseus, also ins antike Griechenland zurück! –, es sei schlecht, wenn mehrere zugleich herrschen, vielmehr solle es bloß einer sein, kehrt er um: Aber warum sei es schlecht, wenn viele herrschen, fragt La Boétie, und antwortet: Weil es bereits schlecht ist, wenn einer herrscht! Wenn nun das Volk die Gefolgschaft aufkündigt, stürzt nicht nur der aktuelle Herrscher, nein, die Herrschaft als Prinzip würde vollständig in sich zusammenfallen. Das heutige Thema – Wie sollen die Menschen denn dies oder das regeln? – stellte sich La Boétie nicht. Denn die Herrschaft regelte nichts für die Menschen. Alle Alltagsgeschäfte führten sie ohnehin selbstorganisiert. Sie hätten nur die Lasten von Steuern und Verfolgung nicht mehr zu tragen gehabt.

Étienne de La Boétie hatte ein kurzes Leben, mit Anfang 30 starb er während einer kriegerischen Auseinandersetzung an der Pest. Zu Lebzeiten veröffentlichte er keine Zeile. Sein Freund Michel de Montaigne gab nach seinem Tod einiges von ihm heraus, doch er versuchte, die Brisanz der Gedanken herunterzuspielen, nicht nur, um den Ruf des Freundes zu schützen, sondern auch um seiner eigenen Sicherheit willen: Die Zeichen standen auf Zuwachs der Repression durch die Herrschenden oder diejenigen, die die aktuell Herrschenden als neue Herrscher beerben wollten. Doch kursierten schnell Abschriften des Diskurses, die im Zusammenhang mit dem Widerstand der – protestantischen – Hugenotten gegen die katholische Herrschaft in Frankreich eine große Wirkung erzielten. La Boétie selber genoss seinerzeit als Jurist höchste Anerkennung. Eines jener Ziele, dem er sein Leben widmete, bestand darin, zwischen den Konfessionen eine Formel des Friedens zu finden, was ihm trotz mancher Teilerfolge nicht gelingen sollte. Bis ins 18. Jahrhundert reicht die Wirkung des Diskurses, dann verliert sich seine Spur. Erst der Anarchist Gustav Landauer (1870–1919) entdeckte ihn zu Anfang des 20. Jahrhunderts wieder.  

Ein entscheidendes Problem tut sich in der Strategie zivilen Ungehorsams auf, das interessanterweise bereits bei La Boétie vollständig entfaltet ist. Nach meiner Übersicht wird es bis heute nicht recht verstanden. Auf der einen Seite analysiert La Boétie messerscharf die psychologischen und materiellen Mechanismen der Gefolgschaft. Angst oder Feigheit im Angesicht drohender Repression ist zwar der offensichtlichste, laut La Boétie aber gar nicht mal der wichtigste Mechanismus. Gewöhnung – La Boétie spricht davon, die Menschen ließen sich wie Tiere dressieren; heute könnte dies ein Kultur- oder Sozialkritiker nicht radikaler formulieren –, Desinteresse oder Gleichgültigkeit und auch das materielle Interesse sind nach La Boétie als weitere Mechanismen hinzuzurechnen. „Das System der Tyrannei bringt mit seinen Begünstigungen und Gewinnmöglichkeiten schließlich genau so vielen Menschen Nutzen, als es Menschen erzeugt, welche immer heftiger und heftiger nach der Freiheit verlangen.“  

Auf das materielle Interesse will ich insbesondere hinweisen: Nicht alle verlieren durch die Herrschaft; es gibt Personen, die von ihr profitieren. Der einzelne Herrschende bereichert nicht nur sich selber, er lässt auch andere an der Beute partizipieren, die nun etwas zu verlieren haben, wenn die Herrschaft stürzen sollte. La Boétie ruft aus: „Sie wollen dienen, weil sie besitzen wollen!“ Dieser Ausruf klingt in den Ohren sozialistischer Interpreten gut, denn sie meinen, er wolle damit den Besitz anprangern; allerdings lassen sie hierbei die anarchistische Fortführung des Gedankens unter den Tisch fallen: „Es fällt ihnen nicht ein, dass sie gar nichts gewinnen können, was ihnen gehörte, da sie doch nicht einmal von sich sagen können, dass sie sich selber gehörten. Sie wollen etwas besitzen und vergessen, dass es unter einem Tyrannen kein Eigentum gibt. Sie vergessen, dass sie es sind, die dem Despoten die Macht und Möglichkeit geben, allen anderen alles wegzunehmen und nichts übrig zu lassen, was man noch Eigentum nennen könnte.“  

Hiermit entwickelt La Boétie die Unterscheidung zwischen rechtmäßigem Eigentum und unrechtmäßigem Besitz, die für die libertäre Theorie so zentral ist: Das ist das Gegenteil der Forderung nach einer Aufhebung des Eigentums. Vielmehr besteht die Tyrannei genau darin; die Befreiung wäre im Gegenteil die Wiedereinsetzung des natürlichen Rechts auf Eigentum, und zwar einschließlich des Eigentums an der eigenen Person.

Sowohl Helfershelfer der Tyrannei als auch unterwürfige Menschen bedenkt La Boétie, genau wie jene, die ihm gefolgt sind oder die auf von ihm unabhängigen Wegen zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen sind, mit einem Höchstmaß an Verachtung. Man kann diese Verachtung entweder auf der Ebene hinsichtlich des jeweils einzelnen unterwürfigen Menschen ausdrücken oder auf der Ebene hinsichtlich der Gesamtheit von unterwürfigen Menschen, der unterwürfigen Masse. Obwohl beides letztlich auf das Gleiche hinausläuft, ist die Ebene in Hinsicht auf den Kontext der Theorie nicht unerheblich, nämlich ob die Verachtung sich gegen den einzelnen Menschen oder gegen die Masse richtet.

Denn: Auf der einen Seite drückt man die Verachtung für die Unterwürfigkeit aus, formuliert auf der anderen Seite jedoch die (moralische?) Forderung nach Aufkündigung der Gefolgschaft, verbunden mit dem (revolutionären?) Glauben daran, dass Aufkündigung der Gefolgschaft die Herrschaft stürzen und sie als Prinzip beende werde. Auch diese Forderung oder dieser Glaube lässt sich auf zwei Ebenen formulieren, nämlich entweder als die Erwartung, die Masse werde sich unisono erheben, oder als der Appell an den Einzelnen, sich der Unterwerfung zu verweigern. Hierbei sollte klar sein, dass nur der Aufstand einer genügend großen Masse zum Sturz der Herrschaft beiträgt. Ein Einzelner, der sich verweigert, kann durch die Herrschaft entweder abschätzig lächelnd ignoriert oder aber wütend bestraft werden.

Dies lässt sich lesen als eine säkulare Neufassung der Freiheit des Christenmenschen, wie der Apostel Paulus und Martin Luther sie gekennzeichnet haben: Verfolgung oder gar Tötung kann dem Christen nichts anhaben, nimmt ihm nichts von seiner Freiheit, die er durch sein Bekenntnis zu Jesus in sich trägt. Niemand, kein Herrscher, kein Folterer, reicht an diese Freiheit heran. Natürlich kann man umsichtig sein und Verfolgung oder gar Tötung durch die Häscher der Herrscher vermeiden. Doch wenn man trotzdem in deren Fänge gerät, tut das der Freiheit keinen Abbruch, sofern man sich innerlich nicht unterwirft. Spätere Theoretiker des zivilen Ungehorsams stellten in den Vordergrund, dass die Überwindung der Todesangst den Schlüssel dafür hergibt, nicht unterwerfbar zu sein. Aber auch das wusste bereits Paulus nur zu gut, denn bei den Stoikern hatte er es sich abgeschaut. Diese Position scheint mir in sich stimmig zu sein: Die Masse Unterwürfiger wird verachtet; es gibt allerdings Einzelne (natürlich glaubt man selber, ihnen anzugehören), die sich dem Zwang zur Gefolgschaft – zur „freiwilligen Knechtschaft“ – entziehen, sei es als Akt rein innerer Distanzierung („innere Emigration“), sei es als Akt der aktiven Verweigerung, ohne dass an ihn die Erwartung auf Wandel gekoppelt wäre.

Das ist aber nicht die Position, die Étienne de La Boétie einnimmt, und nach ihm diejenigen, die den zivilen Ungehorsam als Hebel der Wandlung zum Besseren ansehen. Für sie tut sich stets der Widerspruch auf, dass die Menschen, sei es als einzelne oder sei es als Masse, einerseits die Unterwürfigkeit praktizieren, andererseits sich aber in so großer Zahl erheben sollen, dass die Herrschaft ohne einen Akt der Revolution einfach in sich zusammenfällt. Der Glaube an eine revolutionäre Masse, die wie ein Individuum unisono handelt, die Interessen, Ziele, gar Emotionen habe, sollte die zweite Hälfte des 19. und das erste Quartal des 20. Jahrhunderts bestimmen, sowohl in der anarchistischen als auch in der marxistischen, ja selbst in der faschistischen Bewegung. Die Empirie gibt freilich der Betrachtung recht, die die Mechanismen der Unterwerfung analysiert. Friedliche Erhebungen enden oftmals mit einer herben Niederlage, revolutionäre Erhebungen münden in Bürgerkrieg und anschließender Repression, egal, welche der Seiten den Bürgerkrieg gewinnt. Das ist der Verlauf der bisherigen Geschichte. Ob eine neue Qualität möglich ist, ist ungewiss. Erstaunlich, dass bereits Étienne de La Boétie den Widerspruch so klar auf den Punkt brachte, ohne ihn wirklich zu benennen.


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