13. Oktober 2024 06:00

Argentinien Neun Monate Javier Milei als Präsident

Eine kritische Bilanz

von Antony P. Mueller

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Bildquelle: Oscar Gonzalez Fuentes / Shutterstock Bisherige Erfolgsbilanz Mileis: Daumen hoch?

Seit etwas über neun Monaten im Amt, steht der argentinische Staatspräsident Javier Milei weiterhin vor gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen. Seine Unterstützung durch Kongress und Senat ist fragil und die Gegner des Präsidenten versuchen, die Massen gegen seine Politik zu mobilisieren. Umso dringender ist ein Erfolg im wirtschaftlichen Bereich. Hier geht es darum, möglichst rasch einen Ausweg aus der Stagflation, dem gleichzeitigen Auftreten von Stagnation beziehungsweise Rezession und Inflation, in der sich die argentinische Wirtschaft derzeit befindet, zu erzielen. Die Zeichen dafür stehen nicht gut. Als die westlichen Industrienationen in den 1970er Jahren in die Stagnation fielen, hat es fast ein Jahrzehnt gedauert, bis die Inflation einigermaßen besiegt war und das Wirtschaftswachstum wieder stärker wurde. So viel Zeit hat Milei nicht, auch wenn schon einiges erreicht wurde.

In der Zeit seit seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023 kann Javier Milei die folgenden Pluspunkte vorweisen:

  • Haushaltsüberschuss seit Januar 2024
  • Einschränkung der Geldschöpfung durch die Zentralbank seit April 2024
  • Senkung der Inflationsrate seit April 2024
  • Abschaffung diverser Preisregulierungen (unter anderem am Wohnungsmarkt)
  • Abbau diverser Preissubventionen
  • Abschaffung von acht Ministerien, teilweise mit kompletter Schließung und Entlassung von rund 30.000 Staatsbediensteten

Aber die Negativseite schlägt noch schwer zu Buche:

  • Preisinflation ist weiterhin hoch (237 Prozent pro Jahr)
  • Arbeitslosigkeit steigt (7,6 Prozent)
  • Erwerbsbeteiligung sehr niedrig (48 Prozent)
  • Industrieproduktion negativ (minus 5,4 Prozent auf Jahresbasis)
  • Auslandsverschuldung steigt auf rund 290 Milliarden US-Dollar
  • Unzureichender Stand der Devisenreserven (aktuell 21,7 Milliarden US-Dollar)
  • Extreme Währungsabwertung (aktuell 975 Pesos pro US-Dollar gegenüber 322 bei Amtsantritt).

Bei der Vorstellung des im September eingebrachten Haushaltsplans kündigte die Regierung Milei die folgenden Erwartungen für 2025 an:

  • Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um fünf Prozent
  • Senkung der Preisinflation von 237 Prozent (August 2024) auf 18 Prozent pro Jahr bis Ende 2025
  • Abwertung der argentinischen Währung auf 1.207 pro US-Dollar bis Ende 2025
  • Erreichen eines primären Haushaltsüberschusses von 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts

Sieht man sich die aktuellen Zahlen genauer an, wachsen die Zweifel, ob diese Ziele erreicht werden können. Bedenkliche Indikatoren sind, dass die Zentralbankgeldmenge nicht weiter sinkt und dass die sogenannte Geldmenge M1 sogar steigt. Die Inflationserwartung ist in der ersten Hälfte des Jahres stark zurückgegangen, seitdem aber konstant bei 50 Prozent pro Jahr geblieben. Angesichts der weiterhin hohen Preisinflation hat die Zentralbank die Zinssätze möglicherweise zu sehr gesenkt und wird zu einer Umkehr gezwungen werden, wenn die Steigerungsrate der Inflation wieder zunimmt. Dies wiederum würde die Erholung der Industrieproduktion weiter verzögern. Hinzu kommt, dass im Januar nächsten Jahres hohe Zinszahlungen auf die Auslandsverschuldung anstehen.

2025 wird das kritische Jahr für Javier Milei werden, auch deshalb, weil im Oktober 2025 Zwischenwahlen anstehen und bis dahin der Präsident sein Wahlbündnis auf Vordermann bringen muss, um für die nächste Etappe seiner Politik über genügend Stimmen in der Legislative zu verfügen.

Um zu verstehen, weshalb Milei als erklärter „Anarchokapitalist“ überhaupt an die Macht gekommen ist, genügt es, darauf hinzuweisen, dass Argentinien seit mehr als fünfzig Jahren einen Wohlstandsverlust verzeichnen muss. Während viele andere Schwellenländer massive Wohlstandsgewinne erzielten, ist das Niveau in Argentinien sogar gefallen. Aber nicht nur deshalb ist der Frust so verbreitet; ein Auslöser, etwas ganz Neues zu versuchen, ist die Preisinflation. Diese war zwar auch die ganzen vorherigen Jahrzehnte schon sehr hoch, aber in den beiden vergangenen Jahren ist sie rasant angestiegen. Betrug die jährliche Inflationsrate zu Beginn des Jahres 2022 noch etwa 50 Prozent, war sie zum Amtsantritt von Javier Milei im Dezember 2023 auf über 200 Prozent gestiegen. Es war vor allem das Versprechen, mit der Inflation endlich Schluss zu machen, was Milei ins Amt brachte.

Jetzt stellt sich für ihn die Aufgabe, ob er dieses Versprechen halten kann, ohne dass die Rezession sich vertieft. Auf den Punkt gebracht, stellt sich die Aufgabe so dar, dass die Reduzierung der Geldmenge und die Kürzung der Staatsausgaben durch entsprechende Steigerung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit kompensiert werden, sodass die Arbeitslosigkeit nicht zu sehr ansteigt. Vieles hängt somit davon ab, inwieweit es der Regierung durch Deregulierung und Privatisierung gelingen wird, den privaten Sektor zu stärken.

Neben den innenpolitischen Problembereichen ist die Außenwirtschaft ein entscheidender Faktor. Argentinien ist so gut wie ganz von der privaten Auslandsfinanzierung abgeschnitten. Neue Kredite sind höchstens vom Internationalen Währungsfonds zu erwarten, aber Argentinien ist mit 42 Milliarden US-Dollar ausstehenden Krediten jetzt schon das beim IWF am meisten verschuldete Land. In Bezug auf die Auslandsverschuldung von derzeit 287 Milliarden US-Dollar sind wegen der Zinsen und teilweise fälligen Amortisierungen, beginnend im Januar des nächsten Jahres, schätzungsweise 15 Milliarden US-Dollar fällig. Finanziell wird Argentinien sehr auf Deviseneinkünfte angewiesen sein. Diese sind von der eigenen Exportwirtschaft kaum zu erbringen. Ein Ausgleich müsste durch ausländische Direktinvestitionen erfolgen. Hier gibt es schon eine Reihe positiver Signale. Aber ob den Ankündigungen Taten folgen, ist offen, denn das Wirtschaftsklima trübt sich auch in den Industriestaaten ein.

Argentinien gehört zur großen Gruppe jener Länder, die von den eigenen Regierungen systematisch zugrunde gerichtet wurden. Ob eher „rechts“ oder mehr „links“, diesen Politikern war der tiefe Hang zum Interventionismus gemeinsam. Was Javier Milei auszeichnet, ist, dass er dem argentinischen Volk eine Alternative anbietet. Er nennt sich selbst „Anarchokapitalist“, aber was er verspricht und umsetzen will, ist im Wesentlichen eine solide Wirtschaftspolitik. Man sollte also nicht zu viel Anarchokapitalismus vom Präsidenten erwarten. Selbst wenn er es wollte, könnte er es politisch nicht durchsetzen. Viel wäre aber schon gewonnen, wenn er makroökonomisch obsiegt und es ihm gelingt, die Inflation zu zähmen und einen Wirtschaftsaufschwung herbeizuführen. Allein dies schon hätte weltweit Signalwirkung, vor allem aber für Lateinamerika, wo der Hang zum Sozialismus immer noch weitverbreitet ist.

Wo bleibt der Anarchokapitalismus von Milei, fragt man sich. Davon ist wenig zu sehen. Er betreibt eine Politik, wie sie der Internationale Währungsfonds schon vielen Schuldnerländern vorgeschrieben hat. Oft sind die Regierungen eher widerspenstig den Auflagen des IWF gefolgt. Milei tut es freiwillig und das in noch schärferem Maße. Ein ganzes Land schlagartig anarchokapitalistisch zu reformieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Besser wäre es wohl, wenn Milei einen anderen Weg gehen würde, den von privaten Freistädten beziehungsweise speziellen Wirtschaftszonen.

Dieses Konzept besagt, dass die Regierung eines Landes bestimmte Territorien ausweist, sich der Staat administrativ weitgehend zurückzieht und den Großteil der Privatwirtschaft überlässt. Niedrige oder gar keine Steuern, fast keine Regulierungen sind die Anreize zur Ansiedelung von Unternehmen und Privatinvestoren. Der Arbeitsmarkt ist in diesen Zonen fast vollständig frei von Reglementierung und die Menschen kommen freiwillig dorthin, um zu arbeiten oder unternehmerisch tätig zu werden.

Gerade die Lage Argentiniens ist wegen seiner vielen nahezu vollständig unbewohnten Regionen ideal für eine solche Strategie. Die argentinische Regierung könnte Gebiete von der Größe Hollands ausweisen und diese ausgewählten Territorien einer Privatgesellschaft zur Pacht überlassen, deren Höhe je nach dem wirtschaftlichen Erfolg, der dort erzielt wird, variiert. Ein Vergleich der Umstände mit den schon existierenden administrativen Sonderzonen in anderen Teilen der Welt deutet darauf hin, dass die Chancen für einen Erfolg in Argentinien sehr günstig erscheinen. Dies wäre besonders dann der Fall, wenn eine libertär geneigte Regierung, wie die von Milei, es unternähme, die Abwesenheit der Staatsherrschaft in einer solchen Sonderzone möglichst weit auszudehnen und entsprechend für eine Privatrechtsordnung umfassend Platz zu schaffen. Ein solches Projekt könnte eine Signalfunktion für die ganze Welt ausüben und den praktischen Nachweis liefern, dass und wie Anarchokapitalismus funktioniert. 

Dieser Artikel beruht auf dem Vortrag „Milei After Nine Months. A Critical Update“, den der Autor am 21. September auf der 19. Konferenz der Property and Freedom Society (PFS) in Bodrum, Türkei, gehalten hat.


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