Kapitalismus: Maschinerie des Wohlstands
Die Masse der Konsumenten profitiert

Wirtschaftsgeschichtlich kennt die Welt nur zwei Epochen: die Zeit vor der industriellen Revolution um 1800 und die Zeit danach. Verglichen mit heute befand sich vor zweihundert Jahren die ganze Welt in Armut. Es gab nur sehr wenige Reiche, wobei von diesen fast alle ihren Reichtum einzig der Herkunft zu verdanken hatten. Inzwischen sind immer mehr Menschen der extremen Armut entkommen. Dies geschah überall dort, wo der moderne Kapitalismus Fuß fassen konnte.
Der Start zum modernen Kapitalismus fand gegen Ende des 18. Jahrhunderts statt. Die Grundlagen für die industrielle Revolution wurden aber schon vorher gelegt. Die bahnbrechende Erfindung, die den Grundstein zur modernen Welt legen sollte, war neben der Beschreibung der Prinzipien der doppelten Buchführung durch Luca Pacioli im Jahre 1494 die Erfindung der Druckerpresse mit beweglichen Lettern, die 1450 von Johannes Gutenberg in Mainz erdacht wurde.
Die doppelte Buchführung förderte die rationale Geschäftsführung, und mit der Druckerpresse war es von nun an möglich, Ideen zu einem Bruchteil der früheren Kosten den Interessierten zugänglich zu machen. Bis dahin waren Lesen und Schreiben ein Privileg, das dem oberen Klerus und hohen Beamten vorbehalten war, die damit eine umfassende Kontrolle über das Denken ihrer Zeit ausüben konnten. Der erschwingliche Zugang zur Lektüre machte es für das breite Volk erst lohnend, überhaupt Lesen zu lernen.
Zur Verbreitung des Schrifttums leistete die 1517 mit Luthers Thesenanschlag in Wittenberg einsetzende Reformation einen wichtigen Beitrag. Das Interesse am Lesen nahm zu, da die Reformation die Bibellektüre zur Christenpflicht machte. Es kam hinzu, dass Europa in den Jahrhunderten vor der Reformation im Unterschied zu anderen Regionen der Welt geistig durch das Kirchenlatein eine Einheit darstellte, politisch aber aus einer Vielzahl von Teilen bestand. Vor allem die Städte spielten als autonome politische Institutionen eine große Rolle für die Herausbildung einer freiheitlichen Tradition.
Bücher, Pamphlete und Artikel über Gott und die Welt konnten sich als Produkte der Druckerpresse deshalb in Europa rasch verbreiten, weil es keine Zentralregierung, so wie den chinesischen Kaiser oder den Sultan der islamischen Welt, gab, die alles per Befehl unterdrücken konnte, was ihre Herrschaft zu gefährden schien. Die Versuche, Schriftgut zu kontrollieren und die moderne Druckerpresse einfach zu verbieten, scheiterten in Europa – im Gegensatz zu anderen Regionen der Welt, wo Zensur herrschte und die nun geistig und bald darauf auch wirtschaftlich relativ gegenüber Europa drastisch zurückfielen.
Für den wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt kommt es darauf an, dass neue Ideen entstehen. Genauso wichtig ist es, dass die Ideen schnell und weit verbreitet werden. Die Erfindung der Druckerpresse ermöglichte dies nun. Neue Ideen blieben nicht länger auf kleine Kreise beschränkt, sondern verbreiteten sich von nun an über den gesamten Kontinent. In Europa gingen von da an Erfindung und Entdeckung Hand in Hand mit der raschen Verbreitung der neuen Erkenntnisse.
Druckerpresse und Alphabetisierung führten zur Aufklärung und zur wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. Ab dem 15. Jahrhundert begann der wirtschaftliche Aufstieg Europas und bereitete den modernen Kapitalismus vor. Die geistige Grundlage des modernen Kapitalismus, die in den drei Jahrhunderten vor der industriellen Revolution Gestalt annahm, bestand aus der Triade von freiem Markt, Alphabetisierung und Geistesfreiheit. Das wissenschaftliche Denken als logische und experimentelle Vorgehensweise konnte sich so Bahn brechen. Die Aufklärung machte das eigenständige Denken zu ihrem Grundpfeiler.
Der Kapitalismus wurde nicht von oben eingepflanzt, sondern er ging als spontane Ordnung aus der praktischen Lebenswirklichkeit hervor. Der moderne Kapitalismus erblühte dort, wo sich die Privatinitiative möglichst frei entfalten konnte.
Die monetäre Unternehmenswirtschaft erwuchs aus dem Volk. Es waren Bastler, Handwerker, Händler und Ingenieure, welche die ersten industriellen Maschinen bauten, Konsumgüter für die Massen erfanden, Firmen gründeten und Fabrikherren wurden – angefangen mit Thomas Newcomen (1664–1729), dem Erfinder der Dampfmaschine (1712) über Friedrich Krupp (1787–1826) und Werner von Siemens (1816–1892) bis hin zu Gottlieb Daimler (1834–1900) und Thomas Edison (1847–1936), dem Erfinder der nutzbaren Glühbirne (1880), oder Gottfried Daimler (1834–1900) und Werner von Siemens (1816–1892), um nur einige zu nennen.
Diese Unternehmer repräsentieren die Dynamik des Kapitalismus. Sie zeigten die Durchsetzung von Innovationen als die grundlegende unternehmerische Leistung. Diese Entwicklungen geschahen spontan, lokal und ohne Zentralgewalt. Als solche waren sie nicht das Ergebnis der Gesetzgebung, sondern diese einzelnen Bereiche, zum Beispiel der Fernhandel, entwickelten ihre eigenen Rechtsgrundlagen, ihr eigenes Regelwerk und eine eigene Kaufmannsethik. Der moderne Kapitalismus entstand nicht im und durch den Staat, sondern er entwickelte sich spontan neben dem Staat, gleichsam als Parallelgesellschaft, und zwar umso schneller, je mehr wirtschaftliche Freiheit es gab.
Ludwig XIV. (1638–1715) soll in seinem Palast von Versailles Tausende von Dienern gehabt haben. Das würde aber nichts an der Tatsache ändern, dass es trotz dieser Schar von Untergebenen im ganzen Palast keine Warmwasserdusche gab und vieles andere an Körperpflege fehlte, was heute in jeder Sozialwohnung zu finden ist. Der Sonnenkönig konnte sich zwar reichhaltig parfümieren und eine großartige Perücke tragen, aber das war auch nötig angesichts der mangelhaften Hygiene in seinem Prunkpalast.
Vor der industriellen Revolution waren die Reichen ärmer als heute die Armen in den kapitalistischen Industrieländern. Heutzutage fährt der Normalbürger als Tourist nach Versailles bequem im Reisebus oder mit dem eigenen Fahrzeug. Wenn er seine Besichtigungstour beendet hat, warten in der Stadt Paris Abertausende von Kellnern und anderen Bediensteten in Tausenden von Restaurants, Cafés und Bars darauf, diesen Touristen, aus welchem Land er auch kommen mag, zu bewirten.
Der moderne Kapitalismus dient der Masse der Konsumenten. Diejenigen, die in den Fabriken als Arbeiter und Angestellte arbeiten, sind dieselben Menschen, die die dort hergestellten Güter konsumieren. Wohlstand drückt sich nicht allein dadurch aus, dass man quantitativ mehr konsumiert, sondern auch durch den Zugang zu besserer Qualität der Güter und zu einer größeren Vielfalt an Produkten. Heutzutage führt ein mittelgroßer Supermarkt ein Sortiment, das in die Zehntausende von verschiedenen Produkten geht.
Wirtschaftswachstum ist ein falscher Begriff, wenn es bedeuten soll, dass es um mehr desselben geht. Wachstum im Kapitalismus besteht in der Nutzung neuer, besserer und billigerer Güter. Die Grundlage des wirtschaftlichen Wachstums ist eine höhere Produktivität, der technische Fortschritt in allen seinen Varianten. Im Zuge dieser Entwicklung kommen mehr Menschen in den Genuss von Gütern, die vorher ausschließlich den Reichen vorbehalten waren. Kein anderes Wirtschaftssystem hat den einfachen Leuten so viel Wohlstand gebracht wie der moderne Kapitalismus.
Das kapitalistische System zeichnet sich dadurch aus, dass es anpassungsfähige und effiziente Firmen fördert und die weniger produktiven Betriebe ausmerzt. Der Grundkonflikt des modernen Kapitalismus besteht nicht im Kampf der Kapitalisten gegen die Proletarier, sondern im Konflikt zwischen denjenigen, die sich erfolgreich dem Wandel anpassen und Pioniergewinne erlangen, und denen, die zurückfallen, weil sie es versäumen, sich anzupassen. Dies gilt nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Beschäftigten. Auch die Arbeitnehmer müssen sich der Herausforderung stellen, sich möglichst vorausschauend den Konsequenzen der kreativen Zerstörung, die die Dynamik des Fortschritts kennzeichnet, anzupassen, und konkret solche Fähigkeiten zu erlangen suchen, die zukünftig gefragt sind. Die unternehmerische Geldwirtschaft ist ein beständiges Ringen um die höchstmögliche Produktivität. Kurzfristig gibt es einige Verlierer, langfristig aber macht der Kapitalismus alle zu Gewinnern.
Der Kapitalismus ist ein dynamisches System. Unsicherheit und Risiko sind das Kennzeichen des Fortschritts. Auch in der Vergangenheit war dies nicht anders. Doch damals war die Lage hoffnungslos. Es gab keinen Fortschritt. Die sogenannte „gute alte Zeit“ war viel unsicherer als unsere gegenwärtige. Mehr als heute war man den Krankheiten ausgeliefert, den Unbilden des Wetters und den Schwankungen der Nahrungsproduktion. Ein Leben in Hunger, Not und Armut kennzeichnete über Jahrtausende das Leben der Mehrheit der Menschheit. Niemals und nirgendwo herrschte auf dieser Welt ein System vollständiger Sicherheit. Not und Sorge sind der ewige Begleiter des menschlichen Daseins. Auch der freie Kapitalismus führt nicht zum sorglosen Leben. Worum es beim freien Kapitalismus geht, ist, die Menschheit von extremer Armut zu befreien.
In der vorkapitalistischen Zeit war die Ungleichheit größer als heute. Zwar ist es richtig, dass der Kapitalismus als unternehmerische Geldwirtschaft zu konzentrierten Anhäufungen von Vermögen und Einkommen führt, aber diese sind heute eher geringer als in der Vergangenheit, vor allem jedoch sind sie nicht dauerhaft. Vor der industriellen Revolution war die Oberschicht sehr klein; die große Mehrheit der Bevölkerung lebte in extremer Armut und Not. Seit der industriellen Revolution hat die Armut in all jenen Regionen abgenommen, die das Wirtschaftssystem der unternehmerischen Geldwirtschaft konsequent übernommen und ausgestaltet haben. Frühere Systeme machten einige wenige reich, alle anderen waren aber bitterarm. Auch der Kapitalismus macht einige wenige sehr reich, den Rest aber viel wohlhabender, als es jemals in der Vergangenheit der Mehrheit der Bevölkerung vergönnt war.
Trotz der enormen Erfolge ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung gefährdet. Viele Menschen sind immer noch Opfer der antikapitalistischen Mentalität, die ihnen meist in der Kindheit schon eingepflanzt und durch das Schulsystem verstärkt wird. Es ist nicht Bösartigkeit, die die Haltung der Antikapitalisten prägt, sondern Ignoranz. Damit uns der Wohlstand erhalten bleibt, bedarf es steter Aufklärungsarbeit und des unermüdlichen Kampfes gegen die verbreitete Unwissenheit.
Antony P. Mueller: „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie. Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ (2021)
Thorsten Polleit: „Der Antikapitalist: Ein Weltverbesserer der keiner ist. Wie sich eine vernünftige Zukunft im Kapitalismus statt Antikapitalismus gestalten lässt“ (2020)
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.