17. Oktober 2024 06:00

Bedrohte Grundrechte Wie mit „negativen Externalitäten“ unsere Freiheit zunichtegemacht wird

Einfallstor für den Totalitarismus

von Olivier Kessler

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Bildquelle: Whyframe / Shutterstock Die Rückkehr des digitalen Impfpasses: Zunächst in Form eines Pilotprojekts, an dem Deutschland „freiwillig“ teilnimmt – ab 2026 verpflichtend in der ganzen EU

In letzter Zeit werden bei Freiheitseinschränkungen vermehrt „negative externe Effekte“ ins Feld geführt. Kurz zusammengefasst geht es dabei darum, dass die Freiheit des einen dort ende, wo die Freiheit des Nächsten beginne. Deshalb müssten negative Auswirkungen auf andere strikt unterbunden werden. Diese Denkweise ist bemerkenswert, rollt sie doch dem Totalitarismus den roten Teppich aus.

Freiheit ist der Grundzustand des Menschen: Wenn wir denken und handeln, sind wir frei. Niemand anders kann unmittelbar unseren Körper steuern und über unsere Gedanken verfügen. Das heißt nicht, dass es keine äußeren Beeinflussungsversuche, Drohungen und Naturzwänge gibt, doch wie wir auf diese reagieren, ist allein jedem Einzelnen überlassen. Die Freiheit ist also die „condition humaine“.

Aus diesem Grundzustand und dem Bewusstsein, dass jeder Mensch über eine Würde verfügt, ergeben sich Grundrechte, die im Kern Abwehrrechte gegen äußere Eingriffe sind. Jeder Mensch soll sein Leben nach eigenem Willen gestalten dürfen. Diese Grundrechte sind an die Existenz einer Person gebunden. Es bedarf zur Entstehung solcher Rechte aus naturrechtsphilosophischer Sicht kein positives Recht des Staates, also keine „Rechtssetzung“ durch eine politische Instanz. Seit der Aufklärung werden universell geltende Grundrechte im breiten Stil eingefordert, beflügelt durch den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant, der dazu aufforderte, den Mensch als Zweck zu behandeln – und nicht nur als Mittel zum Zweck. Die Rolle des Staates hat sich folglich auf den Schutz dieser Freiheitsrechte zu beschränken. Von der Steuerung der Gesellschaft ist abzusehen.

Der Staat, wie wir ihn heute kennen, tut aber weit mehr als das: Er setzt sich regelmäßig über diese Freiheitsrechte hinweg. Die Entmündigungsquote steigt auf Rekordhöhen, obwohl es doch Aufgabe des Staates gewesen wäre, diese Quote nahe bei null zu halten. Diese staatlichen Grundrechtsverletzungen werden mit immer neuen Begründungen initiiert und forciert.

Heute behaupten die Grundrechtsverletzer zwar meist nicht mehr, ein „Paradies auf Erden“ zu schaffen, wie damals die Sozialisten, aber sie behaupten, dass Freiheitseingriffe nötig seien, um tatsächliche oder vermeintliche Katastrophen abzuwenden. Diese Gefahren werden zum Anlass genommen, bestimmte Werte wie etwa den „Gesundheits-“ oder den „Klimaschutz“ absolut zu setzen und über Freiheitsrechte und die Menschenwürde zu stellen.

Das zentrale Argument für diese Grundrechtsrelativierung sind die sogenannten „negativen externen Effekte“. Die Freiheit des einen, mit anderen Leuten Kontakt zu haben, kann dazu führen, dass er auf diese ein Virus überträgt. Die Freiheit des einen, Auto zu fahren und CO2 auszustoßen, führt eventuell dazu, dass sich das Klima erwärmt, womit andere die Auswirkungen eines milderen Klimas zu spüren bekämen.

Oftmals wird nun behauptet, dass die Freiheit des einen dort ende, wo sie die Freiheit anderer bedrohe. Das ist natürlich als allgemeines Prinzip richtig. Das Problem, das wir hier haben, ist das folgende: Die Schwelle, an der die freie Lebensgestaltung des einen der freien Lebensgestaltung des anderen in die Quere kommt und nicht mehr erlaubt sein soll, ist nicht von vornherein konkret festgelegt. Es stellt sich die Frage, wie stark das Handeln des Einzelnen eingeschränkt werden darf, damit diese Einschränkung der individuellen Freiheit letztlich nicht mehr Schaden verursacht als die vermeintliche oder tatsächliche Schädigung anderer.

Eine offene Gesellschaft verwandelt sich umso stärker in einen Totalitarismus, je enger diese Grenze gezogen wird. Denn je kleiner der Spielraum für den Einzelnen wird, desto unfreier wird die Gesellschaft als Ganzes. Eine offene Gesellschaft muss also „negative externe Effekte“ in Kauf nehmen, wenn sie weiterhin frei sein will. Allfällige Schädigungen gilt es dann, wenn immer möglich, privatrechtlich abzugelten. Wenn also jemand nachweisen kann, dass er von jemandem konkret in seinem Eigentum geschädigt wurde, so hat er einen rechtlich einklagbaren Anspruch auf Schadenersatz.

Wichtig ist auch, dass die Beweislast aufseiten der vermeintlich Geschädigten liegt. Dies entspricht dem wichtigen juristischen Prinzip „in dubio pro reo“, also im Zweifel für den Angeklagten. Es kann nicht angehen, alle Menschen bei allem, was sie tun, unter Generalverdacht zu stellen und damit die Beweislast umzukehren. Es ist in einer offenen Gesellschaft schlichtweg unpraktikabel, wenn alle ständig ihre Unschuld beweisen müssen, zum Beispiel dass ein Autofahrer nun nicht für einen potenziellen Anstieg des Meeresspiegels in hundert Jahren verantwortlich ist oder dass man nicht für die Ansteckung eines anderen mit einem Virus verantwortlich war. Wie will man so etwas auch beweisen?

In letzter Zeit bietet die Politik den Pauschalangeklagten – also uns allen – eine Art modernen Ablasshandel an: Von der Schuld und dem Generalverdacht könne man sich dadurch befreien, indem man ein Zertifikat wie etwa ein Impfzertifikat erlange. Vorstellbar und teilweise in der Pipeline sind auch ein allgemeiner Gesundheits-, ein Impf-, ein Nachhaltigkeits- und ein Sozialpass. Wie das in der Praxis aussehen könnte, zeigt das soziale Kreditsystem in China, bei dem man Punkteabzüge erhält, wenn man sich nicht so verhält, wie es die Regierung will, woraufhin man zum Beispiel nicht mehr mit bestimmten öffentlichen Verkehrsmitteln reisen kann oder die eigenen Kinder nicht mehr in guten Schulen aufgenommen werden. Doch mit der Einführung solcher Zertifikate und Pässe werden die Grundrechte abgeschafft. Die Gewährleistung von Grundrechten hängt damit von einer Genehmigung durch eine Elite ab, die diese Genehmigung auch verweigern kann, wenn man sich nicht so verhält, wie das die politischen Herrscher wollen.

„Negative externe Effekte“ sind außerdem unmöglich objektiv messbar. Das beginnt schon damit, dass es eine Wertungsfrage ist, was als negativ und was als positiv wahrgenommen wird. Nehmen wir beispielsweise die Klimaerwärmung: Für jemanden, der ein Haus direkt am Wasser hat, dürfte ein steigender Meeresspiegel natürlich suboptimal sein. Für einen Landwirt in Sibirien mag eine Erwärmung des Klimas wiederum positiv sein, weil die Ernte ergiebiger werden dürfte. Außerdem sterben heute 18-mal mehr Menschen an Kälte als an Hitze. Energieengpässe lassen sich außerdem mit milden Wintern besser bewältigen. Woher wollen wir nun wissen, ob beim CO2-Ausstoß ein positiver oder ein negativer externer Effekt vorliegt? Auf der Basis von vermeintlich externen Effekten Steuern einzuführen (also das Grundrecht des geschützten Eigentums zu verletzen) und Zwangsinterventionen vorzunehmen, ist ein Akt der reinen Willkür.

Außerdem werden die „externen negativen Effekte“ der Zwangsmaßnahmen selbst ironischerweise vergessen. Die Intervenierenden fragen sich kaum je, ob Lockdowns, Kontaktverbote und aufgenötigte Impfungen mehr Leben zerstören als sie retten, indem zum Beispiel Leute an Depressionen erkranken, lebensrettende Operationen verschoben werden oder schwere Impfschäden auftreten. Sie tun einfach so, als gäbe es diese Effekte gar nicht.

Für jene an den Schalthebeln politischer Macht bieten „negative externe Effekte“ eine ideale Rechtfertigung ihres Treibens, solange die Bürger dieses Spiel nicht durchschauen. Wenn wir nicht aufpassen, wird uns unsere Freiheit immer stärker durch die Hintertür genommen, während man uns einredet, dass dies angeblich in unserem Interesse und nur zu unserem eigenen Schutz sei.

Wer’s glaubt, wird selig.


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