23. Oktober 2024 06:00

Goethe und X Eine unbequeme Lage

Als Deutschland nach mehr Freiheit verlangte

von Oliver Gorus

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Bildquelle: B_Dmitry / Shutterstock Mehr Freiheit: Auf X wurde zuletzt deutlich, wie groß dieser Wunsch bei vielen Bürgern ist

Als Johann Wolfgang von Goethe im März 1832 im hohen Alter von 82 Jahren eine Erkältung mit Fieber durchgemacht hatte, war er fröhlich, frühstückte, trank dazu ein Glas Madeira und verbrachte einen erholsamen, munteren Tag, an dem er mit seinem Leibarzt herumalberte, die Auszahlung einer finanziellen Unterstützung für eine talentierte junge Weimarerin anwies und sich für den nächsten Tag vornahm, sein gewohntes Tagewerk wieder aufzunehmen. Doch in der folgenden Nacht erlitt er gegen Mitternacht im Schlaf wohl einen Herzinfarkt.

Ab diesem Moment ging es ihm sehr schlecht, er hatte Angst, die Unruhe trieb ihn bald ins Bett, bald aus diesem heraus in seinen Lehnstuhl, er hatte Schmerzen in der Brust, ihm war kalt, seine Zähne klapperten, er stöhnte und schrie, sein Gesicht war grau, die Augen lagen tief in den Höhlen. Er hatte Durst, schwitzte, sein Puls war schnell, der Bauch aufgetrieben, er konnte nur noch mühsam Worte ausstoßen.

Im Lehnstuhl ging es ihm besser als im Bett, aber er quälte sich, eine erträgliche Position zu finden. Am nächsten Morgen ging es ihm noch mal etwas besser, doch ab Mittag lag er im Sterben, besser gesagt: Er saß sterbend in seinem Lehnstuhl, das Haupt nach der linken Seite geneigt. Die Sprache wurde immer mühsamer und undeutlicher. Da sagte er: „Mehr Licht!“ Dann verstummte er und wenig später war er gestorben.

Es könnte aber auch sein, dass er gar nicht „Mehr Licht!“ gesagt hatte, sondern auf Frankfurterisch einen halben Satz begonnen hatte: „Mer liescht …”, also „Man liegt …“ – vielleicht wollte er sagen: „Man liegt hier aber unbequem!“

Wie dem auch sei, jedenfalls war seine letzte Regung so oder so ein Ausdruck von Unzufriedenheit und das Beklagen eines Mangels, entweder mangelte es an Licht und er wollte es heller haben, oder es mangelte an einer erträglichen Lagerung und er wollte es bequemer haben.

Der verkalkte Staat

Die Bundesrepublik Deutschland beklagt ebenfalls einen akuten Mangel. Sie ist nicht 82, sondern erst 75 Jahre alt, was aber für einen Staat im historischen Maßstab bereits ein sehr fortgeschrittenes Alter ist. Die Zeichen der Hinfälligkeit sind bereits deutlich zu spüren: kaum noch vorhandene Agilität, fehlende Kraft und Beweglichkeit, Verkalkung der Blutgefäße, amputierte Gliedmaßen, Phantomschmerzen, stockende, stammelnde Sprache, Gedächtnisverlust, Schwerhörigkeit, wunderliches Gebaren und Eigensinnigkeit, Inkontinenz, Blindheit auf dem linken Auge und ein gestörter Stoffwechsel – man merkt, es geht dem Ende zu. Eine neue Generation im Land müsste übernehmen und den Staat ersetzen oder erneuern, jedenfalls gründlich reformieren, bevor er noch ein schlimmes Ende nimmt.

Was in jedem Falle nötig ist, analog Goethes letzten Worten: Mehr Freiheit!

Die Überalterung der staatlichen Strukturen und Institutionen der Bundesrepublik äußert sich vor allem darin, dass in allen gesellschaftlichen Bereichen die Freiheit der Bürger immer weiter eingeschränkt wird und der Staat die Bürger mit einer grotesken Unzahl von kodifizierten oder informellen Regeln, Vorschriften, Gesetzen, Verordnungen, Geboten und Verboten bis tief ins Privatleben hinein gängelt und schikaniert. Mehr Freiheit bedeutet vor allem mehr Freiheit von Politik und Ideologie, mehr Freiheit vom Staat und von seinen Akteuren.

Und mehr Freiheit ist buchstäblich der Lösungsansatz für alle großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Krisen.

#mehrFreiheit

In der vergangenen Woche wurde auf X überraschend deutlich, wie groß das Verlangen der Bürger nach mehr Freiheit ist. Dazu sollte zunächst klar sein, dass X ein Vorläufer- und Brennglas-Medium ist: Entwicklungen, Trends und Bewegungen in der Gesellschaft werden auf X oft mehrere Wochen und Monate, bevor sie in der physischen Welt wirksam werden, bereits sichtbar – und das eruptionsartig verstärkt. Durch die unendliche Vernetzung von Inhalte-Konsumenten und Inhalte-Produzenten werden auf diesem extrem schnellen und hochsensiblen sozialen Medium in der realen Welt vorhandene Muster in luhmannschen Erregungswellen hochgeschaukelt, wenn sie bei den Menschen anschlussfähig sind.

Und genau eine solche Welle rauschte letzten Montag durchs Netz. Irgendjemand hatte einen Post mit dem Hashtag „#mehrFreiheit“ losgeschickt und plötzlich sprangen Tausende X-Nutzer auf und posteten, einander nachahmend, warum und wozu sie mehr Freiheit wollten: „Ich bin für #mehrFreiheit, weil ich keine DDR 2.0 erleben möchte“, „Ich bin für #mehrFreiheit, weil Menschen, Wohlstand und Wirtschaft nur mit Freiheit gedeihen“, „Ich bin für #mehrFreiheit, weil ich meine 18,36 Euro lieber jeden Monat einem Kinderhospiz geben würde, als dem Elfenbeinturm“ – so etwa lauteten die Posts. Massenhaft.

Am frühen Abend war der Hashtag #mehr Freiheit auf Platz eins der X-Trends in Deutschland, noch vor #GERNED, dem Hashtag des Länderspiels Deutschland gegen die Niederlande. Und das ist wirklich sensationell.

Vom Mittelstand verlassen

Drei Tage später trat Thilo Scholpp, Mitglied des baden-württembergischen Landesvorstands der FDP und Vorsitzender der FDP-Vorfeldorganisation „Liberaler Mittelstand Baden-Württemberg“ aus seiner Partei aus – und zwar mit einem fulminanten Austrittsschreiben, das sich wie das Sündenregister der FDP der letzten Jahre liest.

Obwohl Scholpp nur einen kleinen X-Account mit wenig über 50 Followern besaß und das letzte Mal vor über drei Jahren etwas gepostet hatte, erreichte sein dort veröffentlichter offener Brief völlig überraschend eine Viertelmillion Aufrufe. Er erhielt zwei Tage lang pausenlos E-Mails und Anrufe, vor allem von FDPlern und Ex-FDPlern – und der Tenor war zu 99 Prozent positiv, nämlich zustimmend, beglückwünschend und voller Verständnis, wie er selbst erzählte.

Scholpp fühlte sich in seinem Wunsch nach mehr Freiheit von seiner Partei verraten und konstatierte insbesondere: „Die FDP hat den Mittelstand verlassen.“

Aus meiner Sicht sind diese beiden Ereignisse, die zwar lediglich in der überspannten und nervösen virtuellen X-Bubble stattgefunden haben, ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Bedürfnis im Volk nach einer wirklich freiheitlichen Kraft in Parlamenten und Regierungen enorm groß ist. Die produktiven Bürger, die Steuerzahler und Leistungsträger wollen wieder repräsentiert werden, und zwar nicht durch eine linke Partei, nicht durch eine rechte Partei, sondern durch eine freiheitliche Partei.

Das Problem ist lediglich, dass „freiheitlich“ und „Partei“ ein Widerspruch in sich ist. Dieses Problem muss gelöst werden. Das ist die Aufgabe. Eine unternehmerische Aufgabe.


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