Tod und Elend im Gazastreifen: Die Hassspirale wird sich weiterdrehen
Israel plant Umerziehungsprogramm
Seit Beginn der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen im Oktober 2023 haben rund 45.000 Menschen in der Exklave ihr Leben verloren. Wie viele davon Hamas-Kämpfer waren und wie viele Zivilisten darunter sind, ist Gegenstand der Propaganda beider Seiten, verlässliche Angaben entziehen sich unserer Kenntnis. Eines lässt sich hingegen schon jetzt sicher sagen: Der gegenseitige Hass, die Radikalisierung auf beiden Seiten und der Wunsch nach Vergeltung für erlittenes Unrecht werden dadurch nicht weniger werden. Wer ernsthaft glaubt, dass nach Erreichen der israelischen Kriegsziele Frieden im Nahen Osten einkehren werde, ist wirklich maximal naiv. Im Gegenteil: Eine weitere Generation wird, wie während und nach der Zweiten Intifada, im Hass auf die jeweils andere Seite aufwachsen.
Auf Seiten der israelischen Regierung gibt man sich da weniger pessimistisch. Das offizielle Israel macht gerne einseitig die Indoktrinierung palästinensischer Kinder in Schulen für den Hass im Gazastreifen und im Westjordanland verantwortlich. Für den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu ist eine umgekehrte Gehirnwäsche somit auch fester Teil einer Nachkriegsordnung. Die „Deradikalisierung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza“ hat Netanjahu im Interview mit der „Welt“ als Ziel ausgegeben, das durch „erfolgreiche internationale Partner vor Ort“ erreicht werden solle, was auch immer damit gemeint ist. Dies werde „eine friedliche Zukunft garantieren, für Palästinenser wie Israelis“.
Um diese Worte richtig einzuordnen, muss man zunächst einmal verstehen, dass Netanyahu natürlich weiß, dass das Unsinn ist. Keine Umerziehung, keine Enthamasifizierung, keine Gehirnwäsche dieser Welt wird aus Palästinensern, die Angehörige durch Israel verloren haben, Zionistenversteher machen. Im Gegenteil: Netanjahu weiß, dass der Wunsch nach Rache zunehmen wird, und spielt damit. Bibi gehört nicht zu denen, die der eigenen Propaganda aufsitzen. Seine Botschaft richtet sich an Israel-Fans in Europa, die sich mit derlei Talking Points aus Jerusalem nur zu gerne abspeisen lassen.
Für die Radikalen auf beiden Seiten ist der gegenseitige Hass sogar eine Überlebensgarantie. Für die Rechtsnationalisten in Israel gibt es keine schlimmere Horrorvorstellung als Palästinenser, die, statt Terror gegen Zivilisten, zivilen Ungehorsam praktizieren und an einem Ausgleich mit der anderen Seite interessiert wären. Das würde ja bedeuten, dass der Druck auf Israel, Kompromisse einzugehen, wüchse. Ohne die Aufrechterhaltung eines permanenten Bedrohungsszenarios würde der Staat Israel vermutlich ohnehin bald auseinanderfallen; zu groß sind die innerjüdischen Spannungen. Würden die Palästinenser die Israelis einfach mal 20 Jahre in Ruhe lassen, würden diese wohl anfangen, sich gegenseitig zu zerfleischen. Und für einen unter Korruptionsanklage stehenden Ministerpräsidenten kann es ohnehin nichts Besseres geben als ständigen Krieg. Umgekehrt hat auch die Hamas jedes Interesse daran, dass sich die Radikalisierungsspirale in der israelischen Gesellschaft immer weiterdreht. Die Organisation, die bei ihrer Gründung im Winter 1987 tatkräftig von der israelischen Regierung als Gegengewicht zur PLO unterstützt wurde, zieht ihre gesamte Existenzberechtigung aus dem nie endenden bewaffneten Kampf. Ohne die Zweite Intifada und die damit verbundenen israelischen Kollektivstrafen wäre der Wahlsieg der Hamas 2006 gar nicht denkbar gewesen.
Die Radikalen auf beiden Seiten brauchen einander. Man darf sich gerne an dieser Stelle einmal in Erinnerung rufen, wie Benjamin Netanjahus politischer Durchbruch Mitte der 90er Jahre überhaupt möglich wurde. Nach dem Attentat auf Yitzhak Rabin im November 1995 hätten selbst Likud-Sympathisanten keinen müden Schekel darauf verwettet, dass Netanjahu bei den Direktwahlen zum Premierminister im Mai 1996 den amtierenden Ministerpräsidenten und Oslo-Architekten Shimon Peres schlagen würde. Netanjahu galt als ideologischer Heißsporn und Querulant, der Ende der 80er Jahre von US-Außenminister James Baker sogar Hausverbot im State Department bekam. Niemand mochte Netanjahu. Fast 80 Prozent Unterstützung konnte Peres in Umfragen im Winter 1995 verbuchen. Zu groß war der Wunsch nach Frieden und Ausgleich in der israelischen Gesellschaft, als dass Netanyahu auch nur den Hauch einer Chance haben würde, so die einhellige Meinung im Winter 1995.
Doch gerade noch rechtzeitig betraten im Februar und März 1996 Netanjahus beste Wahlkampfhelfer die Bühne. Am 25. Februar und am 3. März sprengten sich zwei Terroristen der Hamas in Linienbussen in Jerusalem in die Luft und töteten dabei 33 israelische Zivilisten. Mastermind der Anschläge damals war übrigens Mohamed Deif, den Israel auch als Chefplaner des 7. Oktober identifiziert hat und der laut israelischen Angaben im Juli in Gaza den Tod gefunden hat. Nur einen Tag später, am 4. März 1996, dem Vorabend des Purim-Festes tötete ein Selbstmordattentäter der Hamas dann am Eingang des Dizengoff-Centers in Tel Aviv, das zu jenem Zeitpunkt voll mit Familien mit Kindern war, zwölf israelische Zivilisten. Am Wahltag siegte Bibi mit 50,5 Prozent. 30.000 Stimmen machten den Unterschied. Damit begann auch die ständige Abriegelung der palästinensischen Gebiete – soziales Elend, von Israel geschaffen, dass der Hamas und ihren sozialen Diensten die Menschen geradezu in die Arme trieb. Israel spielt gerne die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren bei der Radikalisierung herunter. Doch ein Blick auf die Statistik spricht eine andere Sprache: Über 95 Prozent aller palästinensischen Attentäter kommen aus der Westbank und dem Gazastreifen, nicht aus Kernisrael und Ostjerusalem, wo fast 2,5 Millionen Palästinenser leben, deren ökonomische Situation jedoch eine völlig andere ist.
Netanyahus Wahl 1996 entsprang genau wie Ariel Scharons Sieg 2001 dem Mehrheitswunsch der Israelis nach Härte und Vergeltung. Die Friedenshoffnungen der Israelis wurden von der Hamas und anderen radikalen Kräften seit Mitte der 90er Jahre und später während der Zweiten Intifada (2000–2005) regelrecht weggebombt; das Beste, was der israelischen Rechten passieren konnte. Eine friedensbewegte israelische Linke gibt es heute praktisch nicht mehr. Die Arbeitspartei und ihre linke Verbündete Meretz kamen 1992 zusammen auf 56 Mandate in der stets 120 Parlamentarier zählenden Knesset. Aktuell sind es gerade einmal noch vier Sitze. Stattdessen bekleiden Rassisten wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich Ministerämter. Das heutige Israel hat mit dem der 90er nur noch wenig gemeinsam.
Das hat allerdings nicht nur mit der Radikalisierung der israelischen Gesellschaft zu tun. Oslo war in vielerlei Hinsicht ein Konstruktionsfehler, den die Israelis der Linken nie verziehen haben. Der heutige Flickenteppich im Westjordanland mit Checkpoints und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ist eine direkte Folge von Oslo. Ebenso die Tatsache, dass sich Israelis und Palästinenser aus den besetzten Gebieten heute praktisch nicht mehr begegnen. Wie früher günstig in den palästinensischen Gebieten einzukaufen, ist für Israelis heute nicht mehr möglich. Und schuld daran sind nicht die Palästinenser. Ihre eigene Regierung verbietet ihnen das Betreten der Zone A, die die großen palästinensischen Städte umfasst. Und für Palästinenser stellt Israel auch kaum noch Genehmigungen aus, mit denen sie legal in Israel arbeiten können. Oslo war schlecht für die Menschen auf beiden Seiten.
Ob die Hamas als Organisation nach Ende der Kampfhandlungen und der Ausschaltung ihrer führenden Köpfe noch existieren wird, steht in den Sternen, ist aber auch völlig irrelevant. Die Ideologie, für die Hamas steht, wird weiterleben. Und weder Hamas noch eine mögliche Nachfolgeorganisation werden nach Ende des Gemetzels irgendwelche Rekrutierungsprobleme haben. Nahost-Journalist Lawrence Pintak brachte es gut auf den Punkt: „Stellen Sie sich vor, Sie wären ein zwölf Jahre alter palästinensischer Junge in Gaza. Sie liegen verwundet in einem Krankenhaus. Immer wieder bringen Luftschläge das Gebäude ins Wanken. Ihre Eltern sind tot. Ihr einjähriger Bruder und Ihre drei Jahre alte Schwester sind gerade zusammen in einen Leichensack gewickelt worden. Drei weitere Geschwister liegen irgendwo unter Ihrem zerstörten Apartment begraben, zusammen mit Ihren sechs Cousinen und vier Tanten und Onkeln, die in demselben Gebäude Schutz suchten. Man braucht keinen Doktortitel in Terrorismus-Studien, um sich vorstellen zu können, wie der weitere Lebensweg dieses Jungen aussehen wird.“
Auch die Worte von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin treffen ins Schwarze: „In dieser Art Krieg ist die Zivilbevölkerung das Gravitationszentrum. Treibt man diese in die Arme des Feindes, verwandelt man einen taktischen Sieg in eine strategische Niederlage.“ Und auch der frühere Chef des israelischen Inlandsgeheimdiensts Shin Bet, Ya'akov Peri, versteht diese Gleichung: „In vier oder fünf Jahren werden wir dann gegen ihre Söhne kämpfen.“ In der Tat sind heute unter den Hamas-Kämpfern nicht wenige derer, die durch die Militäroperation Protective Edge 2014 in Gaza zu Waisen oder Halbwaisen wurden. Israel befördere, dass eine weitere Generation Palästinenser im Hass auf Israel aufwachse, schreibt „Haaretz“-Journalist Gideon Levy.
Der Angriff von Hamas-Terroristen auf Orte in Südisrael liegt nun mehr als ein Jahr zurück. Dass die israelische Regierung von den Angriffsplänen wusste, ist heute belegt. Die Frage ist lediglich, warum die beste Armee im Nahen Osten untätig zusah, wie über 1.000 bärtige Gotteskrieger erst Löcher in den Grenzzaun sprengten, nach Israel spazierten und Stunden später durch dieselben Löcher mit Geiseln im Gepäck unbehelligt nach Gaza zurückkehren konnten. Nahm man entsprechende Warnungen nicht ernst? Ich denke, dass vor dem Hintergrund der Ereignisse der vergangenen zwölf Monate eine andere Deutung wahrscheinlicher ist. Israel hat die Invasion geschehen lassen, um eine Rechtfertigung für eine Neuordnung des Nahen Ostens zu erhalten und den iranischen Einfluss auf Terrorgruppen vor der eigenen Haustür zu eliminieren. Und genau wie die Hamas das individuelle Leid in Gaza für ihre eigenen politischen Ziele nutzt, hat auch Netanyahu den Hass und die Radikalisierung einkalkuliert, den der 7. Oktober in Israel auslösen würde. Der islamische Terror ist Netanjahus politische Lebensversicherung. Traumatisierte Menschen sind leichte Opfer für Regierungen, die individuelles Leid und den individuellen Wunsch nach Vergeltung für ihre politischen Ambitionen ausnutzen.
Ändern wird sich das erst, wenn mehr Menschen auf beiden Seiten merken, wer ihr tatsächlicher Feind ist. So wie Lino Hermesh, der am 7. Oktober seinen Bruder im Kibbuz Kfar Aza verloren hat. Auf seinem Grabstein hätte sein Bruder Omer am liebsten den Satz stehen gehabt: „Ermordet von der Hamas in Kooperation mit dem Israel-Konzern“, ist sich Lino Hermesh in der Trauerrede für seinen Bruder sicher. Millionen Menschen in Israel und in Gaza würden „wie in einem Schockzustand schlafwandeln“ und dabei „von niederträchtigen Herrschern wie Schafe zur Schlachtbank geführt“. Währenddessen stelle sich der Rest der Welt auf eine der beiden Seiten „wie bei einem Fußballspiel“ und heize damit das Feuer des Hasses der Spaltung und der Rache noch weiter an. Hermeshs Botschaft an seine Landsleute: Bekämpft eure inneren Feinde nicht weniger als eure äußeren!
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