Herrschaftslosigkeit: Missverstandene Anarchie
Die eigentliche kriminelle Organisation ist das staatliche Gewaltmonopol
von Olivier Kessler
Wann immer Entpolitisierungsmaßnahmen vorgeschlagen werden, wird früher oder später die Befürchtung geäußert, dass dies anarchistische Zustände zur Folge hätte, was doch niemand ernsthaft wollen könne. Hier wird bewusst mit Schreckensbildern gearbeitet, die den meisten Menschen durch den Kopf schießen, wenn sie den Begriff „Anarchie“ hören. In den gedanklichen Vorstellungen fliegen Pflastersteine, Fensterscheiben werden durch rücksichtslose Plünderer eingeschlagen und Hauswände besprayt. Es gilt das Recht des Stärkeren. Alle anderen kommen drunter.
Doch diese Horrorvorstellungen haben mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs „Anarchie“ nichts zu tun. Anarchie bedeutet nicht „Gesetzlosigkeit“ oder „Chaos“, wie oft impliziert wird (der dafür zutreffende Begriff wäre „Anomie“). „Anarchie“ hat seinen Ursprung im Altgriechischen und bedeutet so viel wie „Herrschaftslosigkeit“. Ohne Herrschaft ist nicht dasselbe wie ohne Regeln oder ohne Gesetze. Kaum einem Anarchisten dürfte es darum gehen, Dieben und Räuberbanden den roten Teppich auszurollen. Vielmehr erkennt er im staatlichen Gewaltmonopol eine kriminelle Organisation, die andere Menschen herumkommandiert, sie ausraubt, versklavt und notfalls auch ermordet.
Anarchisten argumentieren, der Staat knöpfe der Bevölkerung zum Beispiel unter Androhung oder Anwendung von Gewalt Steuern ab. Steuern seien auch eine Form von Raub, einfach einer, der durch das staatliche Gesetz legalisiert wurde. Man könnte nun einwenden, dass dieser Vergleich unzulässig sei, weil der Staat mit diesen eingezogenen Geldern ja etwas „Sinnvolles“ tue: Er behalte das Geld ja nicht nur für sich, sondern gebe es aus, wovon die Allgemeinheit profitiere. Doch auch ein Räuber tut mit dem von ihm geraubten Geld Sinnvolles, etwa wenn er sich davon einen Kaugummi kauft, es einem Bettler spendet, sich ein Konzert-Ticket beschafft oder sich ein Fitnessabo leistet. Auch davon profitieren die Armen, die Kultur, die Wirtschaft et cetera. Der behauptete ethische Unterschied zwischen Steuern und Raub scheint also eher eine Schutzbehauptung der staatlichen Beutemacher zu sein.
Einige Anarchisten argumentieren, dass Raub weniger schlimm sei als Besteuerung, nicht weil er weniger gewalttätig, sondern weil er meist nur einmalig vollzogen werde. Steuern jedoch würden wiederholt eingetrieben, bei jedem Einkauf, den Sie tätigen, und bei jedem Franken, den Sie verdienen. Es sei nicht ein Akt, bei dem man dem Räuber sein Geld geben müsse und dann wahrscheinlich für immer von ihm in Ruhe gelassen werde. Vielmehr werde man regelmäßig vom Steuereintreiber belästigt und auch zu Hause aufgesucht, wenn man der staatlichen Plünderei keine Folge leiste.
Und drängt der Staat nicht auch einen Großteil der jüngeren Bevölkerung gewissermaßen zur Sklavenarbeit, indem er sie ins Militär oder in den Zivildienst einzieht und sie Zwangsarbeiten verrichten lässt? Staaten schrecken auch nicht davor zurück, ihre zwangsweise eingezogenen Arbeiter gegen ihren Willen in Kriege zu entsenden und damit ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Allein im 20. Jahrhundert fielen schätzungsweise 170 Millionen Menschen der Staatsgewalt zum Opfer, wie der Politikwissenschaftler Rudolph Rummel in seinem aufsehenerregenden Werk „Death by Government“ errechnet hatte.
Anarchisten haben also nicht unrecht, wenn sie auf das zerstörerische, gewalttätige Potenzial des Staates hinweisen. Die unter Liberalen kontrovers diskutierte Frage ist, ob wir als Gesellschaft gänzlich ohne Staat auskämen. Klassisch Liberale verneinen und versprechen sich von einem Minimalstaat, der sich auf den Schutz von Leib, Leben und Eigentum beschränkt, den effektivsten Schutz der Freiheit. Doch diese Theorie hat einen Haken, auf den die sogenannten Anarchokapitalisten (anarchistische Liberale) hinweisen: Ist erst einmal ein staatliches Gewaltmonopol installiert, das über ein Besteuerungsrecht und die Letztentscheidungsgewalt über alle Konflikte auf seinem Territorium verfügt, so wächst es unaufhaltsam. Selbst wenn man also nur einen Minimalstaat haben möchte, verwandelt sich dieser über kurz oder lang aufgrund seiner inneren Logik in einen Maximalstaat. Das haben alle einst einigermaßen liberal organisierten Länder gezeigt.
Doch auch der Anarchokapitalismus hat seine Tücken: Wenn sich hier zwei Streitparteien zum Beispiel nicht auf ein Gericht oder gewisse Regeln einigen können, so könnten Konflikte in gewalttätigen Auseinandersetzungen enden (wobei man anmerken muss, dass auch ein Staat regelmäßig in gewalttätige Auseinandersetzungen verstrickt ist). Auch stellt sich die Frage, wie gewisse Güter wie Luft vollends privatisiert werden könnten, damit Haftungsfragen wie etwa bei Verschmutzung klar beantwortet werden könnten.
Sowohl der klassische Liberalismus wie auch der Anarchokapitalismus haben also theoretische Stärken und Schwächen und es dürften wohl noch viele Debatten darüber geführt werden, ob Freiheitsfreunde nun Minimalstaatler oder Anarchisten sein sollten. Dennoch kann man festhalten, dass der Ruf des Anarchismus, gemessen an seinen Forderungen, viel zu schlecht ist. Er wird von den meisten schlichtweg missverstanden. Anarchie bedeutet die Abwesenheit einer politischen Herrschaft. Und viele alltägliche Situationen funktionieren bestens ohne Politiker, wie der Philosoph Larken Rose argumentiert: „Supermärkte sind sehr gut organisiert, sehr effizient, äußerst nützlich und alles andere als chaotisch und gewalttätig – unter Abwesenheit einer Regierung. Sie können daher durchaus korrekt als ‚anarchistisch‘ bezeichnet werden. Die meisten zwischenmenschlichen Interaktionen sind ‚anarchistisch‘, weil Regierungen dabei keine Rolle spielen. Die Menschen grüßen sich gegenseitig, sie pflegen ihre Gärten, sie gehen in die Kirche, sie machen gemeinsam Musik, sie halten sich die Türen auf, sie malen Bilder, sie kaufen ihren Kindern Fahrräder, sie wünschen sich gegenseitig einen schönen Tag, sie winken ihren Nachbarn zu und so weiter – und das alles ohne irgendein Gesetz, das sie dazu zwingt. Trotzdem denken sie sofort an einen Mob, der plündernd und brandschatzend durch die Straßen zieht, wenn sie das Wort ‚Anarchie‘ hören. Bei einem Begriff, der definitionsgemäß Abwesenheit (einer Gewalt und Zerstörung verursachenden) Regierung bedeutet, denken sie sofort an Chaos, Gewalt und Zerstörung.“
Für den Journalisten Joseph Sobran ist diese Tatsache, dass die Menschen beim Begriff „Anarchie“ sofort an Schreckliches denken, ein Anzeichen dafür, dass die Staatspropaganda bestens verfangen hat: „Der Maßstab des Erfolgs eines Staates ist, wie sehr sich die Menschen vor dem Wort ‚Anarchie‘ fürchten und wie harmlos das Wort ‚Staat‘ für sie ist.“
Dass Menschen die Abwesenheit einer politischen Autorität für so gefährlich halten, hat auch mit dem weitverbreiteten Menschenbild zu tun, das gemäß dem Bestseller-Autor Rutger Bregman viel zu pessimistisch sei. In seinem lesenswerten Buch „Im Grunde gut“ liefert er unzählige Belege für diese These. Mit einigen Ausnahmen sei der Mensch von Natur aus tendenziell gut. Eine Mehrheit habe etwa Skrupel davor, andere zu ermorden, wie diverse Untersuchungen von Kriegsschauplätzen ergeben haben. Wenn wir hier zu einem realistischeren Menschenbild kämen, würde uns eventuell bewusst, dass wir tendenziell von jenen wenigen Menschen politisch beherrscht werden, die keine Skrupel haben. Demnach wären unsere Mitbürger gar nicht unsere Feinde, weil sie mehrheitlich gar nicht die „Wölfe“ darstellen, wie Hobbes behauptete.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.