10. Januar 2025 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 32 Die Tränen des Anderen sind für den Staatsdiener unsichtbar

Emmanuel Levinas: Der liberale Außenseiter

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Bracha L. Ettinger / Wikimedia Jüdischer Gelehrte Levinas: „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden“

Der intellektuelle Weltgeist blies in den 1960er Jahren in die Richtung des Marxismus und der linken kollektivistischen Positionen. Emmanuel Levinas (1905–1995) hielt an der Vision eines durch liberales Recht begrenzten Staats fest. Nicht zuletzt diesem Umstand schreibe ich es zu, dass er und seine Philosophie mehr oder weniger aus der akademischen, universitären, intellektuellen Welt ausgegrenzt wurden und werden.

Aber auch die Liberalen wussten wenig mit Levinas anzufangen. Er dachte die (politische) Ethik vom „Anderen“ her. Das klang den Liberalen gefährlich nach Altruismus und Kollektivismus. Bei genauerem Hinsehen könnte nichts falscher sein. Der Andere dürfe, sagt Levinas, „streng genommen in keinem Erkenntnisakt Platz finden, der als solcher Zugriff, Be-Greifen, Herstellung von Objekten“ sei. Levinas befürchtet, der Glaube, zu wissen, was der Andere sei und was er brauche, führe dazu, ihn zu überwältigen. Er wittert Gewalt sogar in jeder Art von Kausalität, in jeder Art von Verursachungszusammenhang. Radikal individualistisch spricht Levinas von einer „unabweisbaren Verantwortung, als riefe mich der Nächste ganz dringend, und zwar nur mich, als wäre ich als einziger davon betroffen“.

Das Problem, dem Levinas auf die Spur zu kommen trachtete, war, dass ich (jedes Ich) stets versuche, den Anderen mir gleichzumachen, ihn zu vereinnahmen, kalkulierbar und kontrollierbar zu machen, ihm die Fremdheit und Bedrohlichkeit zu nehmen. Der Versuch, den Anderen in einem kollektiven Wir von Gleichartigen zu vereinnahmen, folgt dem verständlichen und begründeten Wunsch, die Bedrohung zu bändigen, die der Andere darstellt. Jeder Andere birgt nämlich das Potenzial in sich, mich zu töten.

Andererseits sagt das Antlitz des Anderen, jedes Anderen, zu mir: Töte mich nicht. Das sagt das Antlitz des Anderen unabhängig von Herkunft, Vorgeschichte oder auch Schuld, die dieser Andere auf sich geladen haben mag.

Levinas verneint mit seiner Position nicht das Recht auf Selbstverteidigung, wie er auch in Stellungnahmen zu tagesaktuellen Ereignissen klargemacht hat. Aber er stellt die Aufgabe, dass die Selbstverteidigung nicht in der Vernichtung und Gleichschaltung des Anderen und in der Verfügung über ihn münden dürfe. Damit bezieht Levinas einen Standpunkt, der jedem Denken von Kollektivschuld und -strafe entgegensteht, der jedem Kollektivismus im Sinne von Gleichmachung widerspricht. Insofern ist sein Standpunkt radikal individualistisch. Zugleich aber verbietet es sich seine Ethik, das eigene Interesse in den Vordergrund zu stellen und in diesem Sinne egoistisch zu handeln: Es gilt, dem Recht des Anderen zur Geltung zu verhelfen. Nur auf diese Weise konstruiere man einen Liberalismus, der sich nicht als Lobbyist für partikulare Interessen missbrauchen lässt. Gegenseitigkeit, Gleichheit oder Gerechtigkeit negieren laut Levinas bereits die Andersheit des Anderen; er plädiert dagegen für eine Perspektive der „ethischen Ungleichheit“ und der „Asymmetrie des intersubjektiven Raumes“.

Wenn sich der Mainstream schon mal Levinas widmet, wird stets versucht, ihn zu neutralisieren, so wie der „Spiegel“ ihn vor etlichen Jahren beschrieb als den Philosophen, der „noch nie so aktuell war in der Blütezeit des neoliberalen Ego-Trips, also heute“. Manch ein Rezipient meint gar, ihn gegen das Konzept von Freiheit als Handlungsfreiheit des Einzelnen anführen und mit ihm Freiheit als ein „pathologisches Konzept“ stigmatisieren zu können. Die „ethische Verantwortung“, sagt Levinas demgegenüber, bedeute nicht nur, aber auch, „dass niemand für mich, der ich verantwortlich bin, einspringen kann“. Levinas stellt die rhetorischen Fragen: „Wie kann man die universalen, das heißt sichtbaren Prinzipien der Politik, des Staates dem Antlitz des Anderen entgegensetzen, ohne vor der Grausamkeit dieser unpersönlichen Gerechtigkeit zurückzuschrecken? Und muss man nicht unter diesen Umständen die Subjektivität des Ich als einzige mögliche Quelle der Güte einführen? Die Metaphysik führt uns also zurück zum Vollzug des Ich als Einzigkeit; dieser Vollzug weist dem Werk des Staates seine Stellung und seine Gestalt an.“ Auch wenn die Hierarchie des Staates perfekt funktioniere, so Levinas, und alle sich an die universalen Regeln halten, bleibe die Gewalt des Staates problematisch; die „Tränen des Anderen“ seien für den Staatsdiener unsichtbar.

„Ein abstrakter Frieden, der nach Beständigkeit in den Gewalten des Staates sucht, in der Politik, die durch Gewalt den Gehorsam gegenüber dem Gesetz sichert. Folglich ein Rückgriff der Gerechtigkeit auf die Politik, auf ihre Kunstgriffe und Listen: rationale Ordnung, die um den Preis der eigenen Notwendigkeiten des Staates erlangt wird, die in ihr impliziert sind. Diese bilden einen Determinismus, der so streng wie derjenige der gegen den Menschen gleichgültigen Natur ist, auch wenn anfänglich die Gerechtigkeit als Zweck oder Vorwand für die politischen Notwendigkeiten gedient hat“, schrieb Levinas 1985. Die beiden ersten Sätze sind auch im französischen Original unvollständig und schließen an einen Ausruf an: „Bleibt nicht der Frieden, den [das durch Gerechtigkeit begrenzte Menschenrecht] errichtet, ein prekärer Frieden? Ein schlechter Frieden, aber gewiss besser als ein guter Krieg! Doch ein abstrakter …“

Mit wenigen Worten gelingt es Levinas hier, das Dilemma des Staats auf den Punkt zu bringen. Und dennoch verstört in dem Statement die Entgegensetzung von Gerechtigkeit und Menschenrecht. Ist denn nicht das Menschenrecht ein Teil der Forderung nach Gerechtigkeit? Oder die Gerechtigkeit Teil des Menschenrechts? Aber der Reihe nach.

Ein Frieden, der auf Staatsgewalt gründet, ist prekär, unsicher. Das leuchtet unmittelbar ein, denn Frieden ist die Abwesenheit von Gewalt, die in der Staatsgewalt immer potenziell anwesend ist, selbst dann, wenn der Staat aktuell keine Gewalt ausübt. In diesem Fall bleibt sie als Drohung bestehen. Inwiefern ist er auch abstrakt? Er sieht ab davon, dass im Staat die Drohung der Gewalt ganz konkret sein muss, damit sie ihre beabsichtigte Wirkung entfalten kann. Frieden ist im und mit dem Staat nur denkbar als momentane Abwesenheit aktuell ausgeführter Gewalt.

Aber nicht nur der innere Widerspruch zwischen der im Staat beinhalteten Gewalt und dem Frieden lässt diesen unsicher und abstrakt sein. Die Politik, die mit dem Staat ins Leben der Menschen Einzug hält, wird von einer Rationalität geprägt, die an den Notwendigkeiten der Machterhaltung orientiert ist, landläufig „Staatsraison“ genannt. Besteht das aufklärerische Versprechen der „rationalen Ordnung“ darin, die menschliche Gesellschaft aus dem brutalen Naturzusammenhang zu lösen, bildet die Staatsraison den mitleidlosen Naturzusammenhang auf gleichsam höherer Stufe wieder ab: Aus ihr gibt es kein Entrinnen; die Staatsraison ist so gleichgültig gegen den einzelnen Menschen wie die Natur. Levinas nennt dies nur darum nicht wie Adorno (Teil 31 dieser Serie) „Dialektik der Aufklärung“, weil er kein Dialektiker ist, sondern Phänomenologe.

Nun beginnt klar zu werden, was das Problem der Gerechtigkeit ist: Sie ist gleichgültig gegenüber dem je einzelnen Menschen; sie wird unter Absehung des konkreten Menschen vollstreckt. Eine Auffassung von Menschenrecht, die wesentlich durch Gerechtigkeit gekennzeichnet ist, kommt demnach ohne den (konkreten, einzelnen) Menschen aus.

Das Zentrum von Levians’ Philosophie besteht darin, der „Spur des Anderen“ zu folgen, wie eine Sammlung bedeutender Essays von ihm überschrieben ist. Die Sorge, die Levinas umtrieb, lautete, dass man versuche, den Anderen sich gleichzumachen. Der in Litauen geborene Levinas hatte in Deutschland bei Edmund Husserl (Teil 28) und Martin Heidegger (Teil 29) studiert und lebte seit 1930 in Frankreich. 1940 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Seine Eltern und Brüder fielen in Litauen der Ausrottung der Juden durch die Nationalsozialisten zum Opfer. Levinas schwor, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Anders als andere Intellektuelle verfiel Levinas aber nicht darin, den anderen Pol des gleichmachenden Kollektivismus, den strukturell dem Nationalsozialismus ebenbürtigen Stalinismus zu preisen. Ganz im Gegenteil, er widmete sein Werk von nun ab ganz der Analyse, wie die Gleichschaltung des Anderen, wie das Nichtakzeptieren der Andersheit des Anderen funktionieren. Selten wurde Levinas so politisch und staatskritisch wie in dem eingangs zitierten Statement. Radikal setzte er beim Erkenntnisprozess selbst an, der stets darauf angelegt ist, alles zu verstehen, alles unter klar geordnete Begriffe zu subsumieren, keine Abweichungen zuzulassen. Das Buch von Judith Butler zu ihrer Levinas-Rezeption heißt im Original „Giving an Account of Oneself“ (2005), Auskunft über sich erteilen; es ist dies einer der seltenen Fälle, in dem der Titel der Übersetzung bedeutend treffender ist: „Kritik der ethischen Gewalt“. Gegen die „ethische Gewalt“ der Gerechtigkeit, die die Andersheit des Anderen nicht hinnehmen kann und ihn sich gleichmachen will, setzte Levinas das (ethische) Prinzip, das gekennzeichnet ist durch die Erkenntnis, das Antlitz des Anderen sage: „Töte mich nicht.“

Ich kann nicht sagen, dass ich gerne auf den Begriff der Gerechtigkeit verzichte, dennoch mahnt mich die Kritik von Levinas, achtsamer mit ihm umzugehen.

Levinas Schaffensperiode liegt in einer Zeit, die stark von rechten, vor allem aber linken kollektivistischen Idealen bei den Geisteswissenschaftlern geprägt war. Ihm ist es hoch anzurechnen, dass er dennoch einen nahezu unvergleichlichen Individualismus und eine in der Konsequenz nicht zu überbietende Kritik am Gleichmachen philosophisch entwickelt und an ihr gegen alle Widerstände festgehalten hat. Seine Philosophie verdient es, in Ehren gehalten und wiederentdeckt zu werden.


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