Krieg und Frieden – Teil 5: Befreiungs-, Bürger- und Untergrundkrieg
Das Problem der Protostaaten
von Stefan Blankertz

Neben den regulären Heeren, Armeen und Milizen etablierter Staaten hat es immer auch „irreguläre“ Kampfverbände gegeben, die das Interesse spezieller Teile der Bevölkerung widerspiegeln, die keine staatliche Infrastruktur hinter sich haben. Sie können nur dann „irregulär“ genannt werden, wenn man das Dasein unter der Gewaltherrschaft eines Staats als die „Regel“ annimmt.
Für diese Kampfverbände sind Namen wie Partisanen, Freischärler oder Freikorps, Bürgerwehr oder heute auch Miliz geläufig. Seit den Zeiten des argentinisch-kubanischen Revolutionärs Che Guevara (1928–1967) wird auch von Guerilla gesprochen. Partisanen kämpfen hinter der Front oder an unklaren Fronten; meist ist ihr Gegner ein regulärer Staat, manchmal kämpfen sie auch untereinander. Wenn man mit den Zielen der Partisanen übereinstimmt, sind sie Helden; wenn man sie ablehnt, sind sie Verbrecher. Die regulären Staaten behandeln Partisanen mit besonderer Härte. Die Privilegien, wie gegnerische Soldaten behandelt zu werden, die ihre Pflicht tun (wenn auch auf der falschen Seite), wird ihnen nicht zuteil. So werden die Soldaten des Feindes nach dessen Niederlage meist verschont, dessen Partisanen in der Regel nicht.
Vom militärisch-strategischen Gesichtspunkt aus gesehen haben Partisanen vor allem zwei Nachteile. Sie verfügen meist über kein gesichertes Gebiet, von dem aus sie operieren können, und sie können nicht auf Zwangsrekrutierung ihrer Kämpfer und auf Steuergelder zur Finanzierung ihres Kampfes zurückgreifen. Diese beiden Nachteile werden unter bestimmten Umständen durch zwei taktische Vorteile ausgeglichen. Der erste Vorteil ist ihre Ortskenntnis. Partisanen kämpfen in Gebieten, die ihnen vertraut sind, was den feindlichen Truppen abgeht. Dass die Ortskenntnis selbst im heutigen hochtechnologischen Cyberkrieg entscheidend sein kann, hat der Afghanistankrieg gezeigt, und zwar sowohl gegen die inzwischen aufgelöste UdSSR (1979–1989) als auch gegen die USA (2001–2021). Obwohl der Zusammenbruch der UdSSR sicherlich viele Gründe hatte, ist die Nichtgewinnbarkeit des Afghanistankriegs ein entscheidender Faktor in der Schlussphase gewesen. Und das ist bemerkenswert: Ein technologisch rückständiges kleines Volk zwingt eine Supermacht in die Knie. Wohlgemerkt nicht ohne fremde Unterstützung (die Logik der Bündnispolitik werde ich einem gesonderten Teil der Serie beleuchten, Teil 12). Die USA sind zweimal durch Guerillakrieg besiegt worden, neben dem Afghanistankrieg im Vietnamkrieg, einer Hybridform von Guerilla- und Staatskrieg (mehr dazu im Teil 9 der Serie).
Der zweite taktische Vorteil der Partisanen ist für meine Fragestellung bedeutsam: Da sie nicht auf Zwangsrekrutierung und Steuereinnahmen zurückgreifen können, sind sie auf die freiwillige Unterstützung durch eine genügend große Menge in der Bevölkerung angewiesen und auf das wohlwollende Stillhalten des Rests. Dieser Mechanismus der Begrenzung von Grausamkeit im Krieg gilt freilich nur nach innen, also bezogen auf die Gruppe der Bevölkerung, deren Interessen die Partisanen vertreten oder behaupten zu vertreten. Meist geht es um nationale Befreiung und Selbstbestimmung, manchmal um religiöse, viel seltener um politisch-gesellschaftliche Belange. Nach außen, also bezogen auf die Gegner, können Partisanen unbegrenzt grausam agieren, sofern die Bevölkerung, auf die sie sich stützen, damit einverstanden ist (in heutiger Zeit spielt darüber hinaus die Weltöffentlichkeit und deren Meinung eine erhebliche Rolle). Der Guerillero müsse, so sagte Mao Zedong (1893–1976), im Volk schwimmen wie der Fisch im Wasser.
Freilich ist die Rücksichtnahme auf die Bevölkerung und die Unfähigkeit, Zwangsrekrutierung und Steuereintreibung zur Verfügung zu haben, für die Partisanen eine Bürde, die sie gern loswerden würden – und derer sie sich tatsächlich zu entledigen trachten, wenn sie dazu in der Lage sind. Mao selber ist ein Beispiel hierfür. Nicht erst seit seiner Machtergreifung 1949 regierte er mit ungezügelter Brutalität. Inzwischen wissen wir über die Verbrechen, die er beziehungsweise seine Armee in den Kampfzeiten des chinesischen Bürgerkriegs verübte. Sobald Partisanen über eine räumlich und bevölkerungsmäßig hinreichende Basis verfügen, haben sie die Tendenz, staatliche Strukturen aufzubauen. Diese Phase nenne ich „Protostaat“: Eine Organisation hat noch nicht das faktische Gewaltmonopol in dem beanspruchten Gebiet, strebt es aber an.
Die Tendenz zum Protostaat und die Fähigkeit, ihn auch zu etablieren, nimmt dann zu, wenn die Partisanen Unterstützung von einem Staat erhalten: Mit dieser finanziellen und militärischen Unterstützung werden die Partisanen teilweise oder vollständig unabhängig von der Bevölkerung, von der sie vorgeben, deren Interessen zu vertreten. Dies gilt auch für Mao, der durch Stalin mal vehement, mal halbherzig protegiert wurde. Protostaatliche Partisanen, die auf eine solche Unterstützung nicht zählen können, verlieren, wenn sie es an Rücksicht auf die Bevölkerung fehlen lassen und zu brutaler Unterdrückung übergehen, die Gunst. Ein Beispiel hierfür ist der „Sendero Luminoso“ (der Leuchtende Pfad), der in Peru ab 1980 operierte und zeitweilig Teile des Landes unter Kontrolle hatte – aber diese Situation ausnutzte, um Terror gegen ihre eigene Zielgruppe auszuüben (so unter anderem gegen bestimmte indigene Volksgruppen). Teile des Leuchtenden Pfads gingen, nachdem sie als revolutionäre Organisation besiegt waren, in den Bereich der organisierten Kriminalität über, wie dies auch bei ehemals marxistischen Guerilla-Organisationen in anderen lateinamerikanischen Ländern der Fall war.
Eine besondere Form „irregulärer“ Truppen stellen Bürgerwehren dar. Der Begriff ist nicht trennscharf, denn auch Staaten stellen, wenn ihre regulären Truppen mit dem Rücken zur Wand stehen, mitunter Bürgerwehren auf. Generell entstehen Bürgerwehren in Situationen, in denen ein regulärer Staat entweder militärisch oder polizeilich am Ende ist und gewisse Gebiete nicht mehr zu schützen versteht. Die Bewaffnung der Bürger ist somit eine Mischform aus kriegerischer und polizeilicher Auseinandersetzung. Bürgerwehren müssen, wie Partisanen, im Einklang mit der Bevölkerung agieren. Da Bürgerwehren aber in extrem angespannten Situationen entstehen, tendieren sie zu Lynchjustiz. Da sie weder militärisch noch polizeilich ausgebildet sind und da sie meist nur über eine schlechte Ausrüstung verfügen, haben sie selten Erfolg.
Miliz war ursprünglich der Begriff für das Volksheer aus Wehrpflichtigen, die im Bedarfsfall zum Dienst verpflichtet wurden, im Gegensatz zum stehenden Berufsheer aus Soldaten. Inzwischen wird er aber eher für irreguläre Truppen verwandt, die protostaatlichen Charakter haben. Dabei umfasst die Bedeutung, je nach Kontext, den Sinn einer Bürgerwehr bis hin zu einer Söldnertruppe, die von einem Protostaat (kriminelle Bande oder politische Organisation) unterhalten wird. Bezogen auf die Frage der Ent- oder Begrenzung des Kriegs gelten für die Miliz die jeweiligen Bedingungen des Kontextes, in dem sie entstehen oder organisiert werden.
Der Partisanen- oder Bürgerkrieg zeigt, dass der Krieg sich nicht durch einen Weltstaat beenden ließe. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Weltstaat nicht ständig irgendwo in bewaffnete regionale Konflikte verwickelt werden würde, ist äußerst gering, selbst wenn er mit brutaler Unterdrückung der Bevölkerung vorgehen würde. Statt mit einer solchen Unterdrückung der Bevölkerung könnte der Weltstaat auch besondere Umsicht walten lassen, um regionale Konflikte friedlich zu lösen, bevor sie in Waffengewalt ausarten. Aber letztlich könnte er das nur, wenn er das Sezessionsrecht anerkennt, wie es im Teil 2 der Serie entwickelt wurde, und damit aufhört, Weltstaat zu sein.
Letztlich wirft das Vorhandensein von Partisanen die Frage auf, die ich im ersten Teil der Serie anschließend an die Bedingungen des ewigen Friedens gestellt habe, wie sie von Immanuel Kant formuliert worden sind: Wollen wir Frieden unter allen Bedingungen? Wollen wir den Status quo der staatlichen Grenzen auch dort widerstandslos akzeptieren, wo sie offenkundig unrecht sind? Wollen wir die inneren Angelegenheiten aller Staaten widerstandslos akzeptieren, auch dort, wo Staaten unfassbare Gräueltaten begehen? Mit der Frage eines möglicherweise „gerechten Kriegs“ geht es nächste Woche weiter.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.