Religion und Gesellschaft 7: Das Bündnis von Thron und Altar
Religion und Kapitalismus 2
Die These, dass der Protestantismus mit seiner Arbeitsethik bei gleichzeitiger asketischer Lebensführung den „Geist“ des Kapitalismus ausmache (Thema der Folge 6 dieser Serie), formulierte Max Weber zu genau der Zeit, als die Ära des (relativ) freien Kapitalismus in einigen wenigen der industriellen Kernstaaten zu Ende ging. Obwohl er seine These mit einiger Empirie untermauern konnte, vermochte Weber die Tatsache nicht zu integrieren, dass der Kapitalismus vor allem durch eine ungeahnte Vermehrung des Wohlstands und des Luxus für die Massen aufwartete, was ihm von konservativer und religiöser Seite zum Vorwurf gemacht wurde. Außerdem unterließ Weber die genauere Analyse der grundlegenden sozio-ökonomischen Differenzierungen im Protestantismus. Die in den USA mächtigen Puritaner zum Beispiel waren ausgesprochene Gegner der wirtschaftlichen und sozialen Freiheit. Sie setzte sich in den USA gegen den erbitterten Widerstand der Puritaner durch.
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in den USA der „Progressivismus“, getragen von der – hört, hört – Republikanischen Partei. Der Progressivismus läutete, beginnend mit der Präsidentschaft des Republikaners Theodore Roosevelt von 1901 bis 1909, das Ende des Laissez-faire ein. Wie nun ist dieser Zusammenbruch des Laissez-faire zu erklären, wenn man nicht der Linie der Standardgeschichtsschreibung folgen will, dass dessen Schwäche und dessen Krisenanfälligkeit die Ursache seien?
Die Grundlegung des Verhältnisses zwischen modernem Staat und Wirtschaft im US-amerikanischen Progressivismus hat der in der vorherigen Woche bereits erwähnte US-amerikanische Ökonom und Historiker Murray Rothbard in seinem posthum 2017 erschienenen, während der 1980er Jahre verfassten Buch „The Progressive Era“ aufgezeigt. Rothbard sagt, für eine Erklärung müssten wir „Ideologien (einschließlich der religiösen Doktrinen) und wirtschaftliche Interessen“ betrachten.
Die wirtschaftlichen Interessen, die den Progressivismus konstituieren, sind entgegen der landläufigen Meinung nach Rothbards Rekonstruktion gerade nicht die Interessen der Arbeiter, Farmer, kleinen Handwerker und Händler, sondern die der Großindustrie und der Finanzwelt. Sie wollen Konkurrenten im In- und Ausland mittels staatlicher Mittel ausschalten, sofern und weil dies auf dem Markt nicht gelingt. Sie wollen staatliche Aufträge. Sie wollen, dass der Staat die Märkte überall auf der Welt zu ihrem Vorteil bereitet. Sie wollen vor Marktschwankungen geschützt werden. Die großen Gewerkschaften wollen die Löhne für ihre Mitglieder hochhalten, gerade dann, wenn weitaus ärmere und bedürftigere Arbeitskräfte auf den Markt drängen. Diese sind dann die gelackmeierten.
Allerdings können gesellschaftliche Gruppen sich nur darum an den Staat wenden, um ihre Interessen zu bedienen, weil der Staat prinzipiell schon die Macht erlangt hat, solche Maßnahmen zu ergreifen. Diesen Aspekt vernachlässigt Rothbard in „The Progressive Era“ etwas, weil er zu sehr darauf bedacht ist, das Bild einer guten Zeit des Laissez-faire vor dem Progressivismus zu zeichnen. Wenn wir dagegen seine Geschichte des kolonialen Amerikas bis zur Amerikanischen Revolution, die fünf Bände von „Conceived in Liberty“ (1975–1979 sowie, posthum, 2019), hinzunehmen, wird schnell klar, dass die USA von Beginn an gemischt sind aus Etatismus und Liberalismus. Die Zunahme der Staatstätigkeit folgt der Interventionsspirale. Sowohl die Krise, die zum Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) führt, als auch die, die 1893 den Bankrott der Demokratischen Partei als Bollwerk des Laissez-faire nach sich zieht, gehen aus vorangegangenen Interventionen hervor.
Als ideologischen Gegensatz, der die Zeit des Progressivismus prägte, beschreibt Rothbard den zwischen „Liturgikern“ und „Pietisten“. Die „Liturgiker“ ordneten ihre gesellschaftlichen Angelegenheiten durch die Kirche und wollten vom Staat vor allem in Ruhe gelassen werden. Ihre Partei war die Demokratische. Dagegen sahen die „Pietisten“ im Staat die Möglichkeit, ihre Vorstellung einer geordneten und sündenfreien Gesellschaft als Vorbereitung auf die Wiederkunft von Jesus Christus durchzusetzen. Ein zentrales Anliegen der „Pietisten“ war das generelle Verbot von Alkoholkonsum, also die „Prohibition“. Darüber hinaus fochten sie für eine „Reinerhaltung“ des Blutes und in diesem Sinne gegen Einwanderung. Die Beispiele für frühe eugenische Argumentationen, die Rothbard bringt, sind schockierend. Die Partei der „Pietisten“ war die Republikanische. Eine Ausnahme von dieser Regel bildeten die Südstaaten, wo die Weißen zwar zu den Pietisten zählten, jedoch aufgrund der Rolle der Republikaner im Bürgerkrieg diese niemals gewählt hätten. Unter die Rubrik der „Liturgiker“ fallen die katholischen und lutheranischen Einwanderer aus Irland, Italien und Deutschland, von den einheimischen Amerikanern nur die Anglikaner. Die „Pietisten“ konstituierten die einheimischen Evangelikalen, denen unter den Einwanderern nur einige Gruppen aus Skandinavien zuzurechnen waren. (Bei den Begriffen „Liturgiker“ und „Pietisten“ handelt es sich wohlgemerkt um analytisch gebildete Kategorien, nicht um die Eigenbezeichnung der jeweiligen Gruppen. Rothbard greift hier zurück auf die Vorarbeiten von Paul Kleppner [1935–2016], Historiker und Politologe der Northern Illinois University.)
Rothbard streift nur das Problem, dass diese ethnoreligiöse Zuordnung zu politischen Visionen keineswegs über die Zeit hinweg stabil ist. Wiederum „Conceived in Liberty“ zu Rate ziehend, können wir schnell sehen, dass die Quäker im 19. Jahrhundert „Pietisten“ sind, von denen nur ein kleiner Teil die Demokraten wählte, in der kolonialen Zeit radikale Libertäre, ja Anarchisten waren. In der kolonialen Zeit zahlten sie keine Steuern, beteiligten sich nicht am Militär und erkannten nicht einmal die staatlichen Gerichte an. Sie lehnten sowohl wirtschaftliche Eingriffe ab, wie sie zum Beispiel mit Lohn- und Preiskontrollen bei den Puritanern üblich waren, als auch das Verbot von Lastern für die Mitmenschen, auch wenn sie selbst streng asketisch lebten. Umgekehrt waren die Anglikaner naturgemäß eng mit der quasi-feudalistischen Kolonialverwaltung der britischen Krone verbunden. In Europa hatten die „Liturgiker“ keine Probleme damit, die Staatsgewalt in ihrem Sinne einzusetzen, weder die Katholiken noch die Lutheraner.
Das auch von Rothbard häufig eingesetzte Beispiel des Bündnisses von „Thron und Altar“ führt uns schnell zur Einsicht in die Ursache für die wechselnden Koalitionen religiöser Doktrinen mit der Staatsgewalt oder ihre Stellungnahme gegen sie: Man verbündet sich als Religiöser aus dem gleichen Grund mit dem Staat wie die Wirtschaftsvertreter, nämlich sobald man annimmt, die eigenen Anliegen durch Zuhilfenahme seiner Gewaltmittel umsetzen zu können. Man wendet sich gegen den Staat, wenn man kalkuliert, dass die eigenen Vorstellungen sich nicht machtpolitisch durchsetzen lassen. Darum ist der Kampf gegen den Staat, sofern er mit dem eigenen Interesse begründet wird, immer in der schwächeren Position; denn sobald man sich als der Stärkere fühlt, fördert es das eigene Interesse bedeutend mehr, seine Gewaltmittel auch zu nutzen.
Dies ist das Geheimnis hinter den wechselnden Koalitionen, die die gesellschaftlichen Gruppen, ob ökonomische Interessen oder religiöse Eiferer, für oder gegen den Staat eingehen. Dies ist das Geheimnis, welches die zunehmende Staatstätigkeit erklärt. Aus diesem Kreislauf gibt es nur ein Entkommen, wenn man sich für die Durchsetzung der eigenen Interessen und Anliegen, egal worauf sie sich beziehen, nicht mehr an die Staatsgewalt wendet. Das ist die Lehre, die wir aus der allgemeinen Geschichte der Re-Etatisierung in den USA und besonders derjenigen des Progressivismus ziehen und als das Programm des Libertarismus umsetzen müssen.
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