Mobilität in Deutschland: Die Bahn ist kein Amt für Sozialhilfe
Abgeschaffte Sitzplatzreservierung für Familien
von Klaus Peter Krause drucken

Wir haben ja sonst keine Sorgen. Also müssen welche her. Zum Beispiel der Ärger über die Sitzplatzreservierung für Kinder in Zügen. Die nämlich ist, wenn eine Familie mit Kindern reist, nicht mehr unentgeltlich. Bislang war eine Familienreservierung für bis zu fünf Personen zu einem Pauschalpreis von 10,40 Euro möglich. Damit ist es vorbei. Kaum hatte die Deutsche Bahn diese Neuregelung getroffen, sah sie sich zornigen Forderungen ausgesetzt, sie solle den Schritt rückgängig machen. Zu Beschwerden kam es zum Beispiel vom ökologischen Verkehrsclub VCD, vom Sozialverband Deutschland, vom Fahrgastverband Pro Bahn und, klar, von Greenpeace. Prompt nutzten auch Politiker der CDU, SPD, Grünen und Linken die schöne Gelegenheit, im Populismus zu baden. Sie forderten ein Umdenken der Bahn, warfen ihr unter anderem vor, sie treibe Familien ins Auto. Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) nannte die Entscheidung ein „falsches Signal“. Bundesumweltminister Carsten Schneider (SPD) sagte, „Da ist die Bahn völlig falsch abgebogen“, und forderte diese auf, den Schritt noch mal zu überdenken. Der Verkehrsclub Deutschland hat gegen das Beenden der Familienreservierung eine Petition gestartet.
Für 5,50 Euro von Flensburg nach München, das ist so gut wie geschenkt
Für Kinder also muss die Sitzplatzreservierung nun ebenfalls bezahlt werden wie die für alle Bahnreisenden. Zuvor noch hatte die Bahn geworben: „Sitzplätze für Familien besonders günstig. Mit unserem Familienangebot sparen Sie bei der Sitzplatzreservierung und sichern sich und Ihren Kindern eine bequeme Reise.“ Bequem dürfte die Reise im Zug mit Kindern weiterhin sein, sofern er pünktlich abfährt und ankommt, nur nicht mehr „besonders günstig“ beim Sichern der Sitzplätze. Eltern, die jetzt mit ihren Kindern im Zug unterwegs sind, zahlen das Entgelt für jedes Kind. Allerdings: Solange ein Kind noch nicht 15 ist, fährt es für null Euro, zum Beispiel von Flensburg nach München. Nur die Reservierung kostet jetzt was, nämlich 5,50 Euro. Das ist so gut wie geschenkt.
Die abgeschaffte Sitzplatzreservierung für Familien
Mit dem Fahrplanwechsel am 15. Juni hat die Deutsche Bahn die Sitzplatzreservierung für Familien abgeschafft. Der Preis für die Reservierung ist vom Alter der Bahnkundschaft nunmehr unabhängig, er gilt also auch für mitreisende Kinder jeglichen Alters, außerdem in gleicher Höhe: 5,50 Euro in der zweiten Zugklasse und 6,90 Euro in der ersten. Zugleich hat die Bahn die Reservierung etwas verteuert, denn zuvor sind es 5,20 und 6,50 Euro gewesen. Weiterhin unentgeltlich reservieren kann jener, der sich im ICE, IC oder EC mit „Flexpreis-Ticket“ in der ersten Klasse kutschieren lässt. Für ihn ist die Reservierung im „Flexpreis“ inbegriffen, aber nicht für andere Ticketarten in der ersten Klasse wie Sparpreis oder Super-Sparpreis.
Die Bahn ist eine privatwirtschaftliche Aktiengesellschaft, kein Gemeinnützigkeitsverein
Will eine Familie mit gesicherten Sitzplätzen reisen, sind für eine Familienreservierung in der zweiten Klasse mit zwei Kindern anstelle der bisherigen 10,40 Euro künftig 22 Euro fällig. Für Hin- und Rückweg kommen 44 Euro zusammen, mit drei Kindern werden es 27,50 und 55 Euro. Kinderreiche Familien, zumal wenn sie nicht sonderlich betucht sind, wird es schmerzen. Doch vielleicht können sie sich eine Bahnfahrt ohnehin nicht mehr leisten, können aber immerhin ausweichen auf Sparpreise. Wohl ist die Deutsche Bahn (DB) ein Staatskonzern mit dem Staat als Alleineigentümer, aber in Form einer privatwirtschaftlichen Rechtsform der Aktiengesellschaft (seit 1994). Die Bahn ist kein Gemeinnützigkeitsverein, sie ist kein externes Amt für Sozialhilfe, sondern ein Wirtschaftsunternehmen, das wirtschaftlich arbeiten muss und wieder wirtschaftlich werden will.
Die Bahn muss, obwohl in Staatshand, gewinnorientiert wirtschaften
Als Unternehmenskonzern mit ihren fünf Geschäftsfeldern steckt die Bahn als Konzern in der Verlustzone. Obwohl im staatlichen Eigentum, muss sie gewinnorientiert wirtschaften. Auch EU-Richtlinien verlangen die Eigenwirtschaftlichkeit. Gewinne erzielt hat sie von 2005 bis 2019 (Ausnahme 2015). 2024 hat die Bahn abermals einen Milliardenverlust gemacht: 1,8 Milliarden Euro, wenn auch knapp eine Milliarde weniger als im Jahr zuvor. Der mit Abstand bedeutendste Zuschussgeber ist wegen seiner grundgesetzlichen Gewährleistungsverantwortung der Eigentümer Bundesrepublik Deutschland. 2024 kamen 87Prozent aller Investitionszuschüsse vom Bund (10,7Milliarden Euro), die restlichen Mittel von Ländern und Gemeinden (1,2 Milliarden Euro). Der überwiegende Teil war für ihre Infrastruktur bestimmt. Die wirtschaftliche Lage der Bahn gilt nach wie vor als sehr ernst.
Die Bahn ist nach wie vor sehr kinder- und familienfreundlich
Allerdings wird die Bahn das nun zusätzlich für mitreisende Kinder unabhängig von deren Alter erhobene Reservierungsentgelt nicht aus der Verlustzone und der Verschuldung herausholen. Der Erlös daraus fällt zu wenig ins Gewicht. Die Familienreservierung haben nach Angaben der Bahn bisher fünf Prozent aller Fernreisenden gebucht. Bei 133,4 Millionen Reisenden 2024 im DB-Fernverkehr wären das rund 6,7 Millionen Fahrgäste, die diese Vergünstigung genutzt haben. Ein großer Teil davon seien Erwachsene, die ohnehin nur mit einem Kind reisten. Mehr an Erlös würde es der Bahn einbringen, einen Fahrpreis für alle Kinder zu verlangen, nicht nur für die, die 15 Jahre und älter sind. Bis zum Alter von 14 Jahren fahren sämtliche Kinder in deutschen Zügen nach wie vor unentgeltlich. Sie müssen noch nicht einmal in Begleitung ihrer Eltern, Großeltern oder anderer Erwachsener im Zug sitzen, es genügt, dass sie jemand begleitet, der mindestens 15 Jahre alt ist. Damit ist die Bahn nach wie vor sehr kinderfreundlich, was familien- sowie sozialpolitisch durchaus erwünscht ist.
Zeitweilige Unentgeltlichkeit als frühzeitige Werbebotschaft
Aber soll das privatwirtschaftliche Bahnunternehmen auf Einnahmen verzichten, um dem Staat als Sozialhelfer zu dienen, auch wenn es diesem gehört? Nicht zu diesem Zweck, aber zum eigenen Vorteil durchaus. Sie muss es dürfen, nicht müssen, also dürfen für sich selbst, aber nicht müssen für staatliche Zwecke. Denn: Gibt es nicht auch völlig staatsferne Unternehmen, die ihre Leistungen für junge Kinder ebenfalls unentgeltlich zur Verfügung stellen? Bei Eintrittsgeldern zum Beispiel? Ja, die gibt es. Ihre Motive dafür mögen altruistisch oder geschäftlich ausgerichtet als Vorteil im Wettbewerb gedacht sein, nämlich dann, wenn solche Unternehmen ergänzend zur Werbung in Funk, Fernsehen, Internet und mit Plakaten sowie zu anderen Werbeaktionen schon die Jüngsten der Gesellschaft ins Visier nehmen. Es zielt darauf ab, sie als mögliche Kunden schon früh mit einem Produkt oder einer Dienstleistung vertraut zu machen, um sie dann im vorangeschrittenen Alter vielleicht als zahlende Kunden gewonnen zu haben. Also zeitweilige Unentgeltlichkeit als Werbemittel, als frühzeitige Werbebotschaft zu nutzen. Also schon Kinder an ein Produkt zu gewöhnen, das sich ihnen später verkaufen lässt. Ist doch eine prima Idee.
Zum Fördern von Familien verpflichten darf der Staat seine Bahn nicht, aber sie darf es von sich aus tun
Darüber entscheiden sollen die Unternehmen natürlich selbst, auch die staatliche Bahn – so, wie sie nun entschieden hat, die Familienreservierung zum günstigen Pauschalpreis wieder zurückzuziehen und mit dem Sitzplatzreservierungsentgelt Kinder sämtlichen Alters zu belasten. Das mag die betroffene Elternkundschaft bejammern, das mögen eigensüchtige Interessenverbände beklagen und routinierte Politiker brandmarken, aber auch die Bahn muss es dürfen. Wohl ist die Bahn, weil sie dem Staat gehört, politisch motivierten Wünschen ausgesetzt, die ihr wirtschaftlich aber schaden können. Sie darf kein Umverteilungsinstrument sein. Fördern von Familien ist Sache des Staates, sein Unternehmen Bahn dazu mitverpflichten, sollte er nicht. Wenn es von sich aus tut, was Familienwünsche erfüllt, nur zu. Der Wettbewerb wird es richten, ob sich die Maßnahme für sie wirtschaftlich rechnet oder nicht.
Maßgeblich sind die Reaktionen im Wettbewerb am Markt
Dabei kommt es nicht darauf an, wie die Bahn ihre Abkehr begründet. Diese mag überzeugend sein oder auch nicht. Überzeugend ist erst, wie die Kundschaft, wie der Markt, also auch wie die Konkurrenten reagieren. Zum Beispiel: Die Bahn lohnt sich zum Reisen für Familien nur, solange die Kinder noch unentgeltlich mitfahren dürfen. Schon mit zwei zahlenden Kindern Bahn zu fahren, kann so teuer sein, dass sich das Auto rechnet. Dann verliert die Bahn diese bisherige Kundschaft, hat sich also selbst geschadet und wird wohl ihre Entscheidung überprüfen (müssen). Auch hat die Bahn auf ausgewählten Verbindungen im Fernverkehr seit 2018 den Konkurrenten FlixTrain im Nacken. Dieser plakatiert: „Ganz entspannt reisen mit garantiertem Sitzplatz.“ Bei ihm ist eine Sitzplatzreservierung ohne irgendwelche Rabatte im Fahrpreis enthalten. Dabei sind seine Preise bekanntermaßen niedriger als die der Staatsbahn.
Ohne Reservierung kein Sitzplatzanspruch, bloß ein Anspruch auf Transport
Die Deutsche Bahn dagegen verkauft ihre Fahrscheine für jede Zugverbindung auch im Fernverkehr unbegrenzt, als wolle sie die Waggons bis oben hin vollstopfen. Aber den Anspruch auf einen Sitzplatz enthalten sie nicht, nur die Möglichkeit, einen zu finden, und dann die Berechtigung, sich auf ihm niederzulassen. Sind alle Plätze eines Zuges mit Reisenden belegt, weichen weitere Reisende aus ins Bordbistro oder -Restaurant. Ist auch dort alles voll, müssen sie stehen oder auf dem Boden hocken. Komfortables Reisen ist das nicht. Aber der deutschen Kundschaft ist die Gefahr einer Bahnfahrt ohne Sitzplatz vertraut. Wer ihr entgehen will, reserviert und zahlt das Extra-Entgelt. Wer sie in Kauf nimmt, spart es ein und kann sich gewiss sein, dass es im reinen Fahrpreis nicht enthalten ist, und genehmigt sich im Zug für das Ersparte ein Bier. Nur, einen Sitzplatzanspruch hat er nicht, bloß einen Anspruch auf Transport.
Zugtickets stets mit konkreten Sitzplätzen wie im Theater, Konzert oder Kino
Manche oder viele mögen das gut finden. Andere jedoch würden es vielleicht vorziehen, mit dem (dann etwas teureren) Fahrschein zugleich einen reservierten Sitzplatz zu bezahlen – mit dem Ziel, dass die Bahn nur noch so viele Tickets verkauft, wie Plätze im Zug vorhanden sind. In Frankreich seit Ewigkeiten kein Problem. Auch in vielen anderen Ländern gibt es für jede Fahrkarte zugleich ebenfalls einen Sitzplatz. Dort verbindet man Zugtickets stets mit konkreten Sitzplätzen, einfach so wie im Theater, Konzert oder Kino, quasi überall.
Aber das bei der Deutschen Bahn von heute?
Gewiss, für deutsche Bahnfahrten eine hübsche Idee, goldig geradezu, an sich sogar bestechend. Aber das bei der Deutschen Bahn von heute? Mit ihren ständigen Verspätungen und Ausfällen einzelner Waggons oder ganzer Züge? Mit dem Ändern der Reihenfolge der Waggons (im Bahnjargon: Wagenreihung) und mit dem Verpassen von Anschlusszügen, die nicht warten (dürfen)? Mit dem Liegenbleiben von Zügen mitten auf der Strecke und dem Hinüberklettern in den Ersatzzug auf dem Gegengleis, in dem die Reservierung perdu ist? Als Vielreisender mit der Bahn, der ich einst war, habe ich das alles schon viel zu häufig erlebt, allerdings – lang, lang ist’s her – auch bessere Zeiten. Würde die Bahn es ausprobieren, was woanders prima läuft und Usus ist, bräche im Bahnverkehr Germaniens Chaos aus. Dann würde man, wenn gerade ein Zug mit kurzfristig geänderter „Wagenreihung“ eingelaufen ist, die sich anschließende Völkerwanderung auf dem Bahnsteig oder im Zug wohl als das nur kleinere Übel empfinden.
Die Freiheit, beim Reisen zu sitzen oder auch nicht
Was soll die Bahn tun? Es allen recht zu machen, ist bekanntlich schwer bis unmöglich. Aber Kundenanregungen ernst nehmen und prüfen, das könnte sie. Wer Zug fährt, will sitzen, im Fernverkehr auf jeden Fall. Wer einen Platz garantiert haben will, lässt sich ihn mit dem Ticketkauf reservieren – ob mit oder ohne Extraentgelt. Dann ist er an diesen Zug gebunden. Verpasst er ihn, warum auch immer – Pech. Er kann einen nächsten Zug nehmen. Kauft er das Ticket ohne Sitzgarantie, nimmt er das Risiko, ohne Sitzen zu reisen, in Kauf. So ist es bei der Deutschen Bahn jetzt. Der Fahrgast hat die Freiheit, beim Reisen zu sitzen oder auch nicht. Wenn ein Waggon fehlt, wenn der ganze Zug ausfällt, wenn die Waggon-Reihenfolge verdreht ist – Pech gehabt. Das kann auch dann passieren, wenn die Bahn beschließen würde, im Fernverkehr jede Fahrkarte nur mit Platzreservierung zu verkaufen.
Das Problem: zu viel Unpünktlichkeit. Zur Kaiserzeit war das noch anders
Das freilich setzt Pünktlichkeit voraus. Die wird es bei den vielen Bahnbaustellen für ein paar Jahre noch nicht geben. Bezeichnend dafür ist, dass sich die Bahn schon freut, wenn sie eine Pünktlichkeit von 65 Prozent erreicht. Die nämlich hat sie sich für 2025 im Fernverkehr als Mindestziel gesetzt. Im Mai lag sie mit nur 62 Prozent darunter. Ein Vorstandsmitglied der Bahn bekannte: „Wir fahren eine Pünktlichkeit, die von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert wird.“ Zu deutschen Kaiserzeiten war das noch anders. Da fuhren die Züge nur mit Dampf, nicht mit elektrischem Strom. Aber bei ihrer Abfahrt und Ankunft konnte man nach beiden seine Taschenuhr stellen. Freilich, es gab wohl auch weniger Züge. Und es konnte noch keine Elektronik ausfallen.
Petition „Die Familienreservierung muss bleiben“
Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Autors.
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