07. November 2025 06:00

Religion und Gesellschaft 1 Im Tanz der spontanen Ordnung

Klärung der Grundbegriffe

von Stefan Blankertz drucken

Symbolische Darstellung von Religion und Gesellschaft mit religiösen Symbolen
Bildquelle: e-Redaktion Symbolische Darstellung von Religion und Gesellschaft mit religiösen Symbolen

These: Religion bekräftigt auf eine spirituelle, über- oder vorrationale Weise Moral und Verantwortungsbewusstsein vor der Gesellschaft, was vielen Menschen Halt gibt und Orientierung bietet.

Gegenthese: Religion fördert Konzentration aufs eigene Seelenheil, Gehorsam gegenüber Autoritäten und ermutigt einen Wahn, der scheinbar dazu berechtigt, namens der Religion Grausamkeiten zu begehen.

Gibt es eine Synthese? Wir werden sehen.

So abstrakt ausgesprochen, gibt es viele historische und gegenwärtige Belege für die Gegenthese, kaum welche für die These, die darüber hinaus ein performativer Eigenwiderspruch kennzeichnet.

Erste Erwägung zu dem performativen Eigenwiderspruch: Religion behauptet, Moral qua Tradition oder Offenbarung zu stiften. Sofern es nicht erlaubt ist, den Inhalt der Tradition oder Offenbarung mit Rationalität kritisch zu überprüfen, kann jedweder Inhalt – demnach auch die Anweisung zu Grausamkeiten – als von der spirituellen Instanz angewiesen gelten. Dies ist kein Gedankenspiel, sondern blutige Wirklichkeit über die Jahrtausende, von der die Rede sein wird. Wenn andererseits eine rationale Moral unabhängig von der Religion angenommen wird, die die Religion nur noch zusätzlich heiligt, sinkt die Religion herab zu einem didaktischen Spiel, das sich der Vernunft zu unterwerfen habe. Dies war in der Tat die Lösung, wie sie Avicenna (980–1037), Abaelard (1079–1142) und Thomas von Aquin (1225–1274) vorlegten: Die heiligen Texte seien Gottes Weg, solchen Menschen die Wahrheit mitzuteilen, die nicht in der Lage sind, durch eigene Vernunft bis zu ihr vorzudringen. Allerdings stellte sich sogleich heraus, dass dieser didaktische Weg höchst unzuverlässig ist, denn sowohl einfache Menschen als auch größte Gelehrte haben die Texte in vielfältiger Weise fehlinterpretiert, und es kostet jede Menge Mühe, diese Fehlinterpretationen zu korrigieren.

Bevor ich fortfahre, möchte ich klären, was ich mit den beiden zentralen Worten dieser Serie, Religion und Gesellschaft, im Folgenden verstehe.

Religion ist ein System von aufeinander aufbauenden und verweisenden Glaubenssätzen, die Aussagen machen über das Entstehen (und eventuell das Vergehen) der Welt, die rechtschaffene Lebensführung sowie das individuelle und gemeinschaftliche Schicksal. Zu den ältesten Zeugnissen von Religiosität zählen Bestattungsrituale, die den Tod als Reise in eine andere Welt oder als Vorbereitung einer Wiedergeburt ansehen und den Toten entsprechend ausstatten. Die Glaubenssätze zieht man aus der Tradition oder schöpft sie aus einer Offenbarung, oft ist beides miteinander verknüpft. Individuelle und gemeinschaftliche Rituale stützen das Glaubenssystem. Den gemeinschaftlichen Ritualen eignet die Tendenz, dass sie von professionellem Personal angeleitet werden. Dieses Personal bezeichnet man traditionell als Schamanen, Gurus, Priester oder dergleichen.

Ein wichtiges soziales Unterscheidungsmerkmal der Religionen ist der Grad ihrer Institutionalisierung. Die Möglichkeiten reichen von im organisatorischen Sinne nahezu hierarchiefreien lokalen Gemeinden (in denen selbstredend starke informelle Machtasymmetrien herrschen können) bis hin zu weltweiten starren Formen der Hierarchien mit klar definierten formalen Rollen und einem Theokraten an der Spitze.

Das für die Frage des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft entscheidende Unterscheidungsmerkmal der Religionen ist die Stellung einer Religionsgemeinschaft zu den jeweils in ihrem Umfeld gültigen sozialen Gebräuchen und politischen Institutionen. Diese Stellung kann von einer absoluten Gleichschaltung wie in Staatsreligionen bis hin zu einer absoluten Entgegensetzung reichen. Wenn nach dem Verhältnis von Religion und Gesellschaft gefragt wird, ist es klar, dass nur solche Religionen in Betracht kommen, die von der Zahl und Aktivität ihrer Anhänger her gesehen in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld wahrgenommen werden. Kleine religiöse Gemeinschaften, die sich im Widerspruch zu ihrem jeweiligen sozialen Umfeld befinden, werden gern als Sekten bezeichnet. Das Wort Sekte hat eine lange Geschichte vom Altgriechischen über das Lateinische und die Übernahme ins Hebräische bis hin ins Mittelalter. Ursprünglich stand es nur für „Schulrichtung“, wurde dann aber in der mittelalterlichen Theologie synonym für Irrlehre und Kirchenspaltung benutzt. Ab der Neuzeit setzen etablierte Kirchen es als Kampfbegriff gegen kleinere Glaubensgemeinschaften ein.

Sicherlich ist es richtig, dass jeder (kleinen) Gemeinschaft, die sich im Widerspruch zu ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld befindet, die Tendenz innewohnt, einen hohen internen Konformitätsdruck – gern auch als Gehirnwäsche bezeichnet – aufzubauen, während sie ihre Mitglieder nach außen hin abschirmt und den Kontakt einschränkt oder gar ganz unterbindet. Allerdings sind die den Sekten regelmäßig vorgeworfenen Probleme von der Indoktrination über Kindesmissbrauch bis hin zu Kontaktkontrollen ebenso bei den jeweiligen dominierenden Religionen zu beklagen. Sie fallen nur darum weniger auf, weil es sich um eine scheinbare Normalität handelt.

Was als widerwärtig oder wenigstens absonderlich erscheint, hängt generell von dem in einem Kulturraum Üblichen ab. Im alten Europa kann man sich getrost über die Glaubenssysteme etwa der Scientologen oder der Mormonen, über die Geisterlehre der Buddhisten das Maul zerreißen, aber an der Vorstellung beispielsweise, dass der Vater und sein Sohn ein und dieselbe Person seien, findet man nichts auszusetzen. Man lacht über den Regenmacher, aber wer in der Not ein Gebet spricht, dem wünscht man Glück. Schlimm wird es, wenn das religiöse (Wahn-) System (Menschen-) Opfer fordert. Aber in den Heiligen Krieg ziehen, um Gott zu gefallen, das dürfen wir getrost tun.

Vielleicht noch schwieriger als einen umfassenden Begriff der Religion zu formulieren, ist es, zu umreißen, was Gesellschaft sei, obwohl wir den Begriff häufig im Munde führen und jeder meint, ihn gut verstehen zu können. Was ist Gesellschaft?

Gesellschaft ist ein Raum des Zusammenlebens, in welchem die spontane Ordnung für gewisse gemeinsame Konventionen sorgt. Die spontane Ordnung ist der Schnittpunkt von informellen Traditionen (Sprachen, Sitten, Glaubenssätzen) und formellen Institutionen (Staat, Kirchen) mit den individuellen Wünschen (Bedürfnisse, Strategien der Lebensbewältigung). Es handelt sich also um das Dreieck von Traditionen, Institutionen und Personen. Das wesentliche Merkmal der spontanen Ordnung besteht darin, dass sie unverfügbar bleibt. Die Institutionen beabsichtigen die Verfügbarmachung, indem sie Regeln (zum Beispiel Gesetze) erlassen; aber die Wirkung, die die Absicht auf die spontane Ordnung erzielt, kann niemals vollständig vorhergesagt und kontrolliert werden. Ein Beispiel ist, dass viele religiöse Glaubenssysteme vorehelichen Sex und Ehebruch als Sünde bekämpfen, aber auch dort, wo sie dominieren, beides nicht verhindern können. Selbst schwere staatliche Strafandrohungen vermögen es nicht, gewisse individuell präferierte Verhaltensweisen auszurotten, so zum Beispiel Drogenkonsum.


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