31. Oktober 2025 06:00

Sexualität und Freiheit – Teil 12 Sublimation und ihre Umkehrung

Schlussbetrachtung

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: LP Design / Shutterstock Manchmal auch sehr unbefriedigend: Die „schönste Nebensache der Welt“

Für das Lebensglück der meisten Menschen hat Sexualität natürlicherweise die größte Wichtigkeit. Für die Gesellschaft ist die Organisation des Haushaltes und der Erziehung von erstem Rang. Eine Theorie und Praxis der Freiheit kommt ohne einen Bezug zur Sexualität nicht aus. Dennoch ist die Beziehung zwischen Sexualität und Freiheit historisch, gesellschaftlich und psychologisch keine leichte. Einerseits ist es wahr, dass die Macht sich gern der Unterdrückung von Sexualität bedient. Gerade weil dieser Lebensbereich einen so hohen Stellenwert für fast alle hat, eignet er sich dazu, die gelungene Unterwerfung anzuzeigen. Andererseits sind politisch-soziale Befreiungsbewegungen oft alles andere als Anwälte einer befreiten Sexualität. Oft erscheinen die Träger der Macht als sexuell entfesselt. Die Perversion der Sexualität, das heißt die Verbindung von sexueller Aktivität mit Gewalt, ist zwar Folge der Unterdrückung, wird aber der Sexualität selber angelastet, ganz so, als sei sie deren natürlicher Ausdruck. Angefangen bei den biblischen Propheten über die Frühchristen, die Reformatoren und Puritaner bis hin zu den Realsozialisten, den Islamisten und den sogenannten Rechtspopulisten kopiert die Opposition die repressive herrschende Sexualmoral und klagt die jeweils Herrschenden an, sie nicht zu befolgen.

Die Funktion der Religion als Magd der Herrschaft ist nicht die Beförderung der Moral, sondern die Züchtung von schlechtem Gewissen: Dieses ermöglicht die Opfer-Täter-Umkehr und macht die Opfer verfügbar. Sie fühlen sich schuldig und stehen in der Schuld der Herrschaft. Als probates Mittel bietet sich die Sexualität an. Denn erstens ist die Sexualität allen Menschen gemeinsam, keiner ist ausgenommen, und zweitens kann niemand sich sexueller Regungen erwehren. Wenn sexuelle Regungen allein ausreichen, um sich schuldig zu machen, bleibt jeder Mensch schuldig, und dies, solange er lebt.

Aber auch die Hoffnung der Advokaten sexueller Befreiung, dass diese die gesellschaftliche Befreiung gleichsam automatisch nach sich ziehen werde, hat getrogen. Ein solcher Automatismus existiert nicht. Wenn befreite Sexualität auf eine weiterhin unfreie Gesellschaft stößt, ergeben sich neue Perversionen. Diese geben wiederum Anlass, nach einer Repression der Sexualität zu rufen, und der unheilvolle Kreislauf beginnt von vorn. Der Grund für die Herausbildung des neuen Typus von Perversionen beim Regiment (teil-) befreiter Sexualität bei fortbestehender oder gar intensivierter Herrschaft ist das, was ich „umgekehrte Sublimation“ nennen will. Als Sublimation bezeichnete Sigmund Freud den Vorgang, dass quantitativ unbefriedigte oder qualitativ unbefriedigende Sexualität die sexuell frustrierten Energien in andere Kanäle umleitet. Der in seinem primären Bedürfnis frustrierte Mensch sucht nach sogenannten Ersatzhandlungen (sekundären Bedürfnissen), in denen er seine Frustration ausagieren oder, psychoanalytisch gesprochen, „entsublimieren“ kann. Negativ können die anderen Kanäle Gewaltphantasien, reales Ausagieren von Gewalt, Sadismus (Lust, anderen Menschen Gewalt anzutun) oder Masochismus (Lust, selber Gewalt zu erfahren) sein, positiv kulturelle, technische oder wirtschaftliche Leistungen. Basierend auf Überlegungen der Gestalttherapie möchte ich den Begriff der „umgekehrten Sublimation“ ins Spiel bringen: Wenn das Streben nach einem befreiten, selbstbestimmten Leben frustriert wird, die Sexualität aber relativ frei belassen wird, versucht die frustrierte Energie, sich durch die und in der Sexualität auszudrücken. Sexualität, obwohl von größter Wichtigkeit, kann freilich die Frustration von Lebensenergie aus anderen sozialen Bereichen nicht kompensieren. Dergestalt wird Sexualität mit Erwartungen überfrachtet, die sie unbefriedigt lassen muss. Nun lastet man der Sexualität an, unbefriedigend zu sein. Es bedarf dann einer stärkeren Stimulation, die vor allem in Verbindung mit Gewalt gesucht wird. Es ist zwar nicht möglich, sich friedliche und glückliche Menschen ohne befreite Sexualität vorzustellen. Aber zugleich suchen unglückliche Menschen ihr Heil in der Sexualität und missbrauchen sie auf diese Weise.

In keinem Bereich ist Freiwilligkeit so sehr Vorbedingung von moralisch richtigem Handeln wie in der Sexualität. Jeder Verstoß gegen die Freiwilligkeit in der Sexualität führt zu einem nicht mehr gutzumachenden körperlichen und psychischen Schmerz bei der Person, die gegen ihren Willen einer sexuellen Handlung unterworfen oder die an der Ausführung einer solchen Handlung gehindert wird. Die sexuelle Unterwerfung ist der Urtyp jeder herrschaftlichen Beziehung: der Über- und Eingriff in die Person des Unterworfenen durch die Instanz der Herrschaft. Herrschaft ist, um einen Begriff von Michel Foucault zu benutzen, Biopolitik am Körper: Die körperliche Freiheit wird beschnitten, um den Zugang zur Psyche des Unterworfenen zu etablieren. Dem Körper Schmerz zuzufügen, macht ihn verfügbar, sofern der Körper Schmerz vermeiden will und über einen psychischen Apparat verfügt, der in der Lage ist, präventive Maßnahmen zu ergreifen, um die Zufügung von Schmerz abzuwenden. Schmerz ist das Gegengift gegen Sexualität. In dem Zusammenhang von Sexualität und Schmerz drückt sich die Perversion aus, die unweigerlich zur Herrschaft gehört.

Natürlichkeit dagegen ist kein Kriterium, um erlaubte von verbotener Sexualität zu unterscheiden. Nicht alles Verhalten, das in der außermenschlichen Natur vorkommt, kann gesellschaftlich toleriert werden. Beispiele hierfür sind Infantizid oder Kronismus (Kindstötung, etwa bei Löwen), Siblizid oder Kainismus (Geschwistertötung, etwa bei Greifvögeln) und Vergewaltigung (etwa bei Orang-Utans). Andererseits müsste jede willentlich herbeigeführte Jungfräulichkeit als unerlaubt angesehen werden. Das einzige brauchbare Kriterium ist, dass (mit den Worten des heiligen Thomas) niemandem ein Schaden zugefügt werde – verbürgt durch Freiwilligkeit.


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