Sexualität und Freiheit – Teil 5: Wie schädlich sind Schranken der Sexualität?
Augustinus

„Beseitigt die Prostituierten aus der Gesellschaft“, schrieb der Kirchenvater Augustinus, „und alles wird in Wollust versinken.“ Wir brauchen also nicht bis Sigmund Freud zu warten, um den Hinweis zu erhalten, dass die Beschränkung der Sexualität unabhängig von der Frage, was natürlich und was moralisch richtig sei, Folgen hat: Folgen, die sich gesellschaftsschädlich auswirken können. Damit formuliert Augustinus die Kehrseite der letzte Woche behandelten Aussage des Ökonomen Ludwig von Mises, um Gesellschaft möglich zu machen, sei es nötig, der Sexualität Schranken aufzuerlegen – eine Aussage, die Ludwig von Mises auf Sigmund Freud zurückführte.
Nun war Augustinus wahrhaftig kein Propagandist von Libertinage und freier Liebe, sondern der Vertreter einer sittenstrengen, ja mitunter asketischen Moral, und das, obwohl (oder: gerade weil?) er vor seiner Konversion zum Christentum selber ein ausschweifendes Leben mit Konkubinat und sogar einer inzestuösen Beziehung zu seiner Mutter geführt hatte (übrigens beides in den Augen der Römer keine moralischen Makel). Seine Lehre wird die Jahrhunderte einer christlichen Doppelmoral prägen: Auf der einen Seite steht der Imperativ zu einer sowohl monogamen als auch lustfeindlichen, auf die Funktion der Reproduktion reduzierte Sexualität, auf der anderen Seite das Zugeständnis, dass es des Ventils für die Lust und die sogenannten niederen Triebe insbesondere des Mannes bedürfe, des Mannes, der paradoxerweise als in jeglicher übrigen Hinsicht der Frau charakterlich angeblich überlegen betrachtet wurde. Dieses Ventil findet die Lust in der Prostitution oder der Affäre, die unter dem Mantel des wohlanständigen Schweigens vonstattengeht. Der einzige Ort, an dem über das Verschwiegene gesprochen werden kann, ist die Beichte, in der die lustvolle Tat sowohl moralisch abgeurteilt und bestraft als auch vergeben wird. Heimlichkeit, Lüge und moralische Stigmatisierung reduzieren ihrerseits die Lust: Sie bricht sich Bahn und mündet wiederum in Unlust.
Es ist erstaunlich, dass erst Sigmund Freud das Resultat dieses Vorgangs so präzise auf den Punkt brachte: Dieser Vorgang führt ein „Unbehagen in der Kultur“ herbei, das sich, wenn es auf dem Höhepunkt sich befindet, bereit ist, alles kurz und klein zu schlagen und sogar den eigenen Tod herbeizusehnen. Freud identifizierte hier einen „Todestrieb“, den er für biologisch verankert hielt. Viel wahrscheinlicher ist, dass er aus dem kulturell produzierten Unbehagen hervorgeht, das, weil es jahrtausendelang gezüchtet wurde, als gleichsam natürlich erscheint.
So betrachtet, ist die Funktion der von Augustinus begründeten christlichen Doppelmoral nicht wirklich die Erhaltung der Gesellschaft, die einer auf das jenseitige Heil gerichteten Religion ziemlich egal ist, vielmehr genau umgekehrt die Ausbildung eines Charakters, der nicht am irdischen Leben hängt. Dieser Charakter soll dazu bereit sein, sich, seine Angehörigen, sein Land und seinen Besitz für die übergeordnete Sache zu opfern. Dass der Pazifist Jesus dazu herhalten musste, eine zutiefst bellizistische und zerstörerische Kultur zu begründen, gehört zum schlechtesten allerr Treppenwitze des Weltgeistes. Aber so ist es: Die Perversionen, die die lustfeindliche Moral unweigerlich mit sich bringt, sind keine ungewollten und vielfach nicht einmal unbewussten Nebenwirkungen, sondern liegen vielmehr der Intention zugrunde.
Freilich hat es auch Gegenworte gegeben. Den eingangs zitierten Satz des Augustinus nutzte Thomas von Aquin im Hochmittelalter für eine weitherzigen Auslegung, um das Maßhalten wieder an den vernünftigen Aristotelismus zurückzubinden. Thomas war darauf bedacht, sich nicht offen gegen die akzeptierten Autoritäten auszusprechen, sondern mit gewagten Interpretationen sie aristotelisch umzudeuten. Thomas hielt nichts davon, die Lust an sich zu verdammen und moralisch abzuwerten. Die recht verstandene Lust begleitet die gute Tat. Unmäßigkeit ist nicht abzulehnen, weil sie der Lust folgt, vielmehr gerade umgekehrt deshalb, weil sie die Lust in Wirklichkeit reduziert. So widersprach Thomas den Theologen seiner Zeit, die lehrten, im Paradies sei die Sexualität nicht von Lust begleitet worden, denn dort sei alles menschliche Handeln nur nach der Vernunft gesteuert worden; es verhalte sich umgekehrt, sagte Thomas: Weil im Paradies das menschliche Handeln nicht durch letztlich lusttötende Unmäßigkeit gekennzeichnet gewesen sei, sei die Lust ungleich größer gewesen. Thomas und sein aristotelischer Hedonismus spielten eine wichtige Rolle dabei, dass das Christentum als eine gesellschaftliche Instanz weiterhin eine Möglichkeit darstellte, während das Unbehagen in der Kultur bereits überall Risse hervorrief, weil die (sexuelle) Energie nach einem Ventil suchte. Die sogenannte Babylonische Gefangenschaft der Kirche, während der die Päpste von 1309 bis 1376 in Avignon residierten, war von einem obszönen Luxus und von perverser Sexualität gekennzeichnet; gleichzeitig meinte man dort, einen unbescholtenen und gerechten Mystiker wie Meister Eckhart wegen Häresie aburteilen zu dürfen.
Umgekehrt als der thomistische Aristotelismus ging der Puritanismus einige Jahrhunderte später vor. Indigniert von der Zügellosigkeit der Herrschenden, fand eine Rückbesinnung auf die Sittenstrenge des Kirchenvaters Augustinus statt. Ein Teil des Puritanismus verband sich mit dem Ringen um wirtschaftliche und politische Freiheit. Diese Kombination war wirtschaftlich so erfolgreich, dass Puritanismus (oder allgemeiner: Protestantismus) und Kapitalismus als zusammengehörig angesehen wurden (siehe Max Weber). Mit Freud ist der Erfolg leicht erklärbar: Die sexuelle Energie wird zu wirtschaftlichem Erfolg sublimiert. Dennoch ist die Kombination historisch gesehen nicht ganz korrekt. Die radikalsten englischen Puritaner, die Levellers und die Diggers, waren Gleichmacher und eine Art Vorläufer des (Staats-) Kommunismus. Die amerikanischen puritanischen Siedler bauten Gemeinden auf, in denen neben dort herrschender Sittenstrenge und religiöser Intoleranz auch jede wirtschaftliche Freiheit unterdrückt wurde. Die pazifistischen Quäker, eine Abspaltung von den amerikanischen Puritanern, dagegen verbanden die absolute religiöse mit der wirtschaftlichen Freiheit und lehnten jede staatliche Einmischung ins Leben ab; sie waren Vorläufer des (libertären) Anarchismus, wie Murray Rothbard in seiner genialen Geschichte der nordamerikanischen Kolonien bis zur Verfassungsgebung darstellt.
Von Murray Rothbard stammt auch die von mir immer wieder ins Spiel gebrachte Unterscheidung zwischen persönlicher Moral und politischer Ethik. Unter persönlicher Moral fasste Rothbard auch die Normen in freiwilligen Gruppen wie zum Beispiel Religionsgemeinschaften. Solange die Mitgliedschaft freiwillig ist, können diese Gruppen moralische Normen aufstellen, wie sie wollen. Wem die Normen nicht passen, der kann austreten. Wer sich nicht an die Normen hält, den kann die Gruppe ausschließen. Was die Gruppe nicht darf, und darin besteht die einzige Norm der politischen Ethik, ist, ihre Normen mit Zwang auf nicht zustimmende Personen auszudehnen.
Bei der Vermischung von persönlicher Moral und politischer Ethik stand Augustinus im Abendland an vorderster Front (im Morgenland fand diese Vermischung tausend Jahre vorher bei Konfuzius statt): Er fand es unerträglich, dass religiöse Abweichler und Abweichler in der persönlichen Moral ungestraft davonkommen. Da das römische Recht noch halb privat war, nämlich daran gebunden, dass es einen geschädigten Kläger gibt (Motto: „Wo kein Kläger, da kein Richter“), musste Augustinus dieses Recht zum reinen Staatsrecht ummodeln, damit opferlose Delikte wie Ketzerei oder Homosexualität justiziabel werden konnten.
Von diesem üblen Paradigma haben wir uns bis heute nicht erholt: Sowohl auf der rechten wie auf der linken Seite des politischen Spektrums herrscht die Vorstellung, eigene Moralvorstellungen den Mitmenschen per gesetzlichem Zwang aufoktroyieren zu dürfen, ja zu müssen.
Der eingangs zitierte Satz des Augustinus im Original: „Aufer meretrices de rebus humanis, turbaveris omnia libidinibus“ („De ordine“, II, 4:12).
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