Religion und Gesellschaft 2: Gehorsam und Widerstand
Die Geburt des schlechten Gewissens
Ein Glaubenssatz macht nur dann Sinn, sofern sein Inhalt der Erfahrung oder der Logik widerspricht; das heißt, sofern die Aussage nicht aus schlussfolgerndem Denken und einer sinnvoll gedeuteten Empirie abgeleitet werden kann: Eine schlussfolgernde oder empirisch belegte Aussage braucht nicht geglaubt, sie kann gewusst werden.
Heutige religiöse Eiferer verfallen bisweilen darauf, zu behaupten, die moderne Wissenschaft (Anthropologie, Biologie, Neurowissenschaft, [Quanten-]Physik usw.) würde die uralten heiligen Texte bestätigen; damit schaffen sie sich in Wirklichkeit ab. Falls die Wissenschaft eine Aussage macht, ist Glaube fortan überflüssig; wobei selbstredend die Wissenschaft niemals eine Aussage macht, sondern Wissenschaftler machen eine vorläufige und zur Revision fähige Aussage, die zudem zu keinem Zeitpunkt einen Konsens aller Wissenschaftler hinter sich weiß. Was die Eiferer eigentlich bezwecken, ist ein billiger Propagandatrick: Sie meinen, wenn die Wissenschaft den heiligen Text in einem gewissen Punkt bestätigt, dann ließe sich daraus ableiten, dass er insgesamt der Wahrheit entspricht. Dies ist freilich blanker Unsinn. Daraus, dass eine Aussage wahr ist, lässt sich keineswegs ableiten, dass eine mit der ersten Aussage unverbundene oder nur summativ verbundene zweite Aussage ebenfalls zutrifft.
Aus dem notwendigen Charakteristikum, dass ein Glaubenssatz unweigerlich der Erfahrung oder der Logik zuwiderläuft, folgt, dass in jeder Religion der Gehorsam an die Stelle von Logik und Erfahrung, also an die Stelle des Wissens, tritt. Ungehorsam bestraft Gott, bestrafen die Götter oder andere übernatürliche Wesen, und zwar in der Form, dass den Ungehorsamen selber oder seine Angehörigen Verhängnisse treffen. Insofern soll die Erfahrung den Ungehorsamen belehren. Allerdings ist die Zuordnung eines Schicksalsschlags zu einem voraufgegangenen Verstoß gegen die religiöse Norm meist nur dem Gläubigen einsichtig. Die Erfahrung lehrt vielmehr, dass manchmal einem Verstoß ein Unglück folgt, das andere Mal nicht; dass manche sich sogar sehr oft schwere Verstöße ungestraft erlauben dürfen, während andere für kleinste Verstöße schwer bestraft werden. Da also die übernatürlichen Wesen in ihrer Reaktion auf Verstöße höchst unzuverlässig sind, springen in Religionen die Priester ein und nehmen die Bestrafungen vor. Sie sind verlässlicher; bei ihnen jedoch hängt die Bestrafung daran, ob sie von dem Verstoß erfahren.
Die Sinnlosigkeit der Normen und die Ungewissheit der Bestrafung führen herbei, dass der Gläubige in ständiger Angst lebt. Egal, was er tut, das schlechte Gewissen verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Er kann seiner eigenen Moral nicht folgen, sondern veräußert sie. Somit wird der Gläubige das perfekt zugerichtete Objekt von Herrschaft. Oder? Hierzu gleich mehr, zunächst aber noch etwas zur Brutalität des Gehorsams.
In einer für Judentum, Christentum und Islam verbindlichen Erzählung, die den Beginn der Menschheit und ihres Schicksals markiert, hat Gott Adam und Eva erschaffen und ihnen das ganze Paradies mit all seinen Herrlichkeiten zur Verfügung gestellt, bis darauf, dass er ihnen verbot, von einem bestimmten Apfelbaum zu essen. Eine Begründung für das Verbot gibt es nicht. Selbst wenn wir die metaphorische Kennzeichnung des Baumes, dass seine Früchte diejenigen der Erkenntnis seien, hinzunehmen, erhalten wir wenig Begründung. Warum sollen die Stammeltern keine Früchte der Erkenntnis genießen dürfen? Dies hat allerlei gelehrte Spekulationen eröffnet, auf die ich am Ende dieser sowie in einer späteren Folge der Serie noch eingehen werde. Jedoch dürfte feststehen, dass Adam und Eva die (mögliche) Begründung unbekannt blieb, vor allem, da sie sich ja im Zustand vor der (möglichen) Erkenntnis befanden. Wenn das Paradies nun alle Herrlichkeiten in sich barg, warum fühlten Adam und Eva sich dann zu dem verbotenen Apfelbaum hingezogen? Es musste also notwendigerweise in der Herrlichkeit des Paradieses etwas fehlen; insofern ist der Text der Erzählung unvollständig. Wie dem auch sei, es geht hier um den unbedingten Gehorsam den Geboten Gottes gegenüber, die dem Verstand unzugänglich sind. Bei Ungehorsam droht die schwerste Strafe. Merkt euch das, Menschen!
Die Dialektik des religiösen Gehorsams: Der Gehorsam wird gegenüber der übernatürlichen Autorität, nicht gegenüber den Menschen gefordert, und dies kann auch Widerstand gegen die Herrschenden erzeugen. Ob man diesen Widerstand lobt oder tadelt, hängt freilich davon ab, wie man zu dem Inhalt steht. Einen katholischen Studenten, der sich weigert, seine Doktorarbeit in der geforderten Weise zu gendern, wird der Progressive tadeln, der Konservative loben. Eine Kirchengemeinde, die einem von Abschiebung bedrohten Ausländer Asyl gewährt, wird der Konservative tadeln, der Progressive loben. Beides erfolgt unabhängig von der eigenen Stellung zu der infrage stehenden Religion.
Ein Glaubenssatz macht nur dann Sinn, wenn sein Inhalt der Erfahrung oder der Logik widerspricht: Diese Aussage umreißt das Problem der religiösen Moral. Glaubenssätze erkennen weder ein individuelles Gewissen noch eine vor der Gesellschaft verantwortliche Vernunft an, sondern berufen sich allein auf das Gebot, das der übernatürlichen Instanz zugewiesen wird. Diese übernatürliche Instanz ist niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig und kann, weil man sie als übernatürlich und immateriell kennzeichnet, auch gar nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Sie ist derart maximal unverantwortlich und unmoralisch. Die Kraft zum Widerstand, die sie dem Gläubigen verleiht, mag zum Guten ebenso wie zum Bösen tendieren.
Niemand hat dies so auf den Punkt gebracht wie der mittelalterliche christliche Philosoph Peter Abaelard (1079–1142): In seiner „Ethik“ schrieb er, diejenigen, die Jesus ans Messer lieferten, hätten nicht gesündigt, insoweit zu sündigen heiße, gegen Gottes Gebot zu verstoßen; schließlich wähnten sie, mit der Kreuzigung den Willen ihres Gottes zu exekutieren. Übertragen wir diese Argumentation auf heute. Derjenige, der meint, den Abtrünnigen oder die Frau, die Schande über die Familie gebracht hat, im Auftrag Gottes töten zu müssen, sündigt nicht. Hiermit wird deutlich, dass das Kriterium, nach dem Willen Gottes zu handeln, kein moralisches Kriterium abgibt.
Die religiöse Moral hält die Menschen in permanenter kindlicher Abhängigkeit und verurteilt sie zu lebenslanger Sklaverei. Die kindliche Moral entwickelt sich, wenn wir dem Pionier der Entwicklungspsychologie Jean Piaget (1896–1980) folgen, nicht aufgrund der elterlichen Setzungen, sondern aufgrund der Erfahrung von Konsequenzen, die Handlungen im sozialen Kontext haben. Die moralische Urteilsfähigkeit des Kindes zeigt sich dann, wenn es in der Lage ist, den Eltern zu widersprechen. Und damit sind wir wieder bei Adam und Eva im Paradies, konfrontiert mit dem sinnlosen (oder wenigstens nicht explizit begründeten) Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen: Bevor sie von dem Baum der Erkenntnis aßen, waren sie gar nicht in der Lage, zwischen Richtig und Falsch, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden – denn diese Unterscheidung setzt Erkenntnisfähigkeit voraus; und indem sie von ihm aßen, emanzipierten sie sich notwendigerweise von Gott-Vater, der sie daraufhin straft. Aber sie bleiben standhaft.
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