05. November 2025 11:00

Künstliche "Intelligenz" Wird das „schäbige Boot der Realität“ zu einer GenAI-Wirklichkeits-Patchworkfamilie?

Richtige Warnung, nur fast schon zu spät?

von Axel B.C. Krauss drucken

Ein digitales Boot aus Bits und Bytes in einem stürmischen, schrillbunten Informationsmeer, das von Datenströmen und verzerrten digitalen Bildern umgeben ist, symbolisiert den Realitätsverlust durch KI-gestützte Propaganda
Bildquelle: e-Redaktion Ein digitales Boot aus Bits und Bytes in einem stürmischen, schrillbunten Informationsmeer, das von Datenströmen und verzerrten digitalen Bildern umgeben ist, symbolisiert den Realitätsverlust durch KI-gestützte Propaganda

Wird das „schäbige Boot der Realität“ zu einer GenAI-Wirklichkeits-Patchworkfamilie?

Richtige Warnung, nur fast schon zu spät?

„Das schäbige Boot der Realität“, schreibt Dr. Joshua Nieugebuurt in seinem Artikel „Schneller als die Wahrheit: Quantenverbesserte KI und die nächste Grenze der Informationskriegsführung“ vom 1. Oktober 2025, „an dem wir uns festklammern, hat bereits Lecks, und das Chaos des Informationsmeeres lockt uns von unten.“

Eigentlich ist das eine Untertreibung. Dr. Nieugebuurt drückt sich sehr akademisch aus, aber das „Boot“ der sogenannten Realität ist, um es unverblümt auszusprechen, schon längst abgesoffen. Der Fahnenmast schaut vielleicht noch raus: Wenn man sich die nicht unbeträchtliche Mühe macht, nach wirklich verlässlichen – oder halbwegs verlässlichen – seriösen, profunden Informationen zu suchen, wird man durchaus noch fündig. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich ungefähr fünf bis sechs Jahre brauchte (von heute aus zurückgerechnet), um die qualitativ besten, inhaltlich führenden Informationsquellen im Internet aufzuspüren. Mittlerweile hat sich ein „harter Kern“ aus sieben oder acht Webseiten herauskristallisiert, die ich regelmäßig aufsuche – weil ich weiß, dass ich dort stets solides Wissen vorfinde. Den Rest spare ich mir.

Wenn Nieugebuurt nun also die Warnung ausspricht, dass diese Situation – der Verlust einer halbwegs festen Grundlage für das, was gemeinhin Wirklichkeit genannt wird – zunehmend verloren ginge, und dass der massenhafte Einsatz von KI für Propagandazwecke in naher Zukunft eine rasante Beschleunigung erfahren könnte, so kommt sie eigentlich schon zu spät. Die Situation muss nicht erst schlimmer werden – sie ist jetzt schon schlimm. Man braucht sich ja nur die Myriaden an gesteuerter „Information“ und „Aufklärung“ auf Youtube, Telegram oder sonstwo anzuschauen, um angesichts der erdrückend scheinenden Übermacht an gekauften Narrativschustern, Framern, Diskussionsbremsern etc. fast zu verzweifeln. Doch diese Fehlentwicklung birgt natürlich auch eine positive Chance – eine überaus positive. Dazu gleich mehr. Nieugebuurt über den wachsenden Einsatz algorithmengesteuerten „Nudgings“:

„Die bevorstehende Flut digitaler Medien wird dieses Phänomen individuell nachahmen, jedoch in einem Ausmaß, das derzeit noch schwer vorstellbar ist. Algorithmisch zugeschnittene Propaganda wird den digitalen Raum überziehen und eine Simulation vierter Ordnung schaffen: Eine Welt, die nur in und durch die Daten und die Rhetorik des Individuums und seine Interaktionen mit fortschrittlichen digitalen Maschinen existiert. Die Verschleierung der Realität, in der die eigene phänomenologische Erfahrung von demjenigen gefärbt und verzerrt wird, der die Mechanismen der Abschreckungsmaschine kontrolliert: für kommerzielle Zwecke, für politische Ziele und für die Kristallisierung der persönlichen und öffentlichen Meinung in Echtzeit.“

Letzteres ist allerdings goldrichtig: Wenn derzeit so viel über die Risiken von KI gesprochen wird, geht dabei oftmals die dringend nötige Diskussion über ihre Urheber – ihre Programmierer – und deren Intentionen unter. Stattdessen wird der falsche Eindruck erweckt, es handele sich um eine Art Naturgewalt, um eine völlig zufällige Entwicklung, eine vermeintlich natürliche Fortschrittsdynamik, kurz: Es ist halt so und damit müsse man leben. Keineswegs. Man darf nicht nur, man muss Fragen nach den Hintergründen stellen – etwas, das heuer jedoch eher verpönt ist, denn wer von Hintergründen spricht, von möglichen Absichten hinter welcher Entwicklung auch immer, gilt bekanntlich schnell als jemand, dessen liebstes Hobby im Basteln von Aluhüten besteht.

Die Beschreibung einer möglicherweise entstehenden „Hyperrealität“ durch den französischen Philosophen Jean Baudrillard trifft ziemlich genau auf den heutigen Stand der Dinge zu. Nieugebuurt:

„Da GenKI [generative KI, meine Anmerkung] Propagandisten unterschiedlicher Einflussgröße einen besseren Zugang zu Technologie ermöglicht, verschwimmen bereits die Grenzen zwischen dem, was real ist, und dem, was real sein könnte. Ein bereits erwähntes Beispiel aus der realen Welt stammt aus dem Israel-Iran-Konflikt im Jahr 2025, in dem KI-generierte Fotos und Texte sowie aus dem Zusammenhang gerissene Videos blitzschnell im Internet verbreitet wurden. Diese Social-Media-Beiträge sorgten sowohl in den Medienökosystemen der beiden am Konflikt beteiligten Länder als auch in anderen Ländern weltweit für Verwirrung. Insgesamt erleben wir gerade die Anfänge dieses Phänomens, das sich langsam, aber stetig ausbreitet. Digitale Medien haben dazu beigetragen, Fehlwahrnehmungen der politischen Realität zu erzeugen, was zu einer zunehmenden Polarisierung im gesamten politischen Spektrum und zu einer Erosion des zwischenmenschlichen Vertrauens geführt hat. All dies wird zunehmend durch GenAI unterstützt.“

Und genau da liegt die eben erwähnte, große Chance: Denn natürlich sind nicht alle Menschen so leichtgläubig oder naiv, alles, was sie online konsumieren, für wahr zu halten oder ohne jede kritische Distanz stets nur irgendwelchen (nicht selten künstlich aufgebauten) Agitatoren hinterher zu laufen. Sie werden sich irgendwann fragen – angesichts des Desinformations-Überdrucks wahrscheinlich eher früher als später – ob es nicht doch besser wäre, sich lieber selber (!) auf die Suche nach Informationen zu machen, sich wieder mehr auf die eigenen Fähigkeiten zu verlassen und diese zu kultivieren, statt immer nur zu „folgen“ – ein Prozess, der zweifellos nicht über Nacht absolviert werden kann, aber letzten Endes zu einer Stärkung der individuellen Kritikfähigkeit und besseren Informationsauswahl führen könnte. Vielleicht, so sei hiermit gehofft, führt es irgendwann sogar zu einer Abkehr von der vielzitierten und zurecht beklagten „Internetsucht“, der Verwechslung – damit käme wieder der Realitätsbegriff ins Spiel – von zwischenmenschlichem Informationsaustausch und Diskussion mit künstlicher Online-Dauerempörung, geschürter Aufgereiztheit, Sensationalismus und der nur noch irren Jagd auf die schrillste Schlagzeile nur zum Zwecke des Clickbaiting. Nieugebuurt sieht die Entwicklung eher pessimistisch:

„Diese Technologie könnte leicht für böswillige Zwecke missbraucht werden. Sie könnte aber auch zu effektiveren Methoden der Informationsverbreitung, Echtzeitinformationen in Notfällen, adaptiver Bildung und anderen spezialisierten und maßgeschneiderten Erfahrungen führen […] Vielleicht erweist sich dies jedoch als nichts weiter als ein Wunschtraum. Stattdessen haben wir vielleicht nur die Möglichkeit, einen Informationsalbtraum zu erleben – gefangen zwischen den Visionen von Matrix und Truman Show –, in einer falschen Realität zu leben, die die Menschen von ihrem natürlichen Zustand der Verbundenheit und des gemeinschaftlichen Fortschritts abbringt, zugunsten von Klicks, Stimmen, [und] digitalen Dollars.“

Könnte? Sie wird bereits massiv missbraucht – zum Zwecke der Narrativkontrolle in ganz großem Maßstab. Nieugebuurt meint damit zwar den möglichen Missbrauch von KI, aber da das Internet ja eh schon sehr fleißig für das zweckentfremdet wurde, was ich hier unter dem Oberbegriff „Gatekeeping“ zusammenfassen werde (es gibt natürlich viele andere), braucht man wahrlich nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie KI mit höchster Wahrscheinlichkeit wird herhalten müssen, um den Ausstoß – die „Schlagzahl“ – manipulativer und irreführender Inhalte drastisch zu erhöhen. Doch wie gesagt: Es wird definitiv Menschen geben, die sich dem nicht einfach hingeben werden – und das ist auf jeden Fall ein Lichtblick. Es gibt in der Natur keine einseitigen Prozesse. Nirgendwo. Es gibt zu jedem Ablauf, jedem Prozess, jeder Entwicklung, jeder Reaktion einen Gegenpol. Struktur- und Ordnungsbildungsprozesse (Verringerung der Entropie) sind immer und ausnahmslos mit einer Zunahme von Entropie anderswo verbunden. Das gilt auch für menschliche Systeme, egal ob wirtschaftlich, sozial, kulturell. Deshalb braucht niemand zu verzweifeln: Eine so krasse Fehlentwicklung, wie sie momentan im Internet zu beobachten ist, wird auf jeden Fall eine Gegenbewegung auf den Plan rufen.

Genau aus diesem Grund sind die schlicht größenwahnsinnigen Kontrollfantasien derjenigen Technokraten, die im Prinzip die gesamte Menschheit lediglich als große „Maschine“ sehen, die man durch ein paar Stellschrauben (KI-)kybernetisch in die gewünschte Form bringen und dort halten kann, zum Scheitern verurteilt.

Bis nächste Woche.

Quellen:

Faster Than Truth: Quantum-Enhanced AI and the Next Frontier of Information Warfare


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