28. November 2025 06:00

Religion und Gesellschaft 4 Schuld und Opfer

Illusion der Verfügbarkeit

von Stefan Blankertz drucken

Religion: Symbolische Darstellung der Verleugnung des Todes und der Illusion der Verfügbarkeit
Bildquelle: e-Redaktion Religion: Symbolische Darstellung der Verleugnung des Todes und der Illusion der Verfügbarkeit

Die Verleugnung des Todes bildet mit Verweis auf die ägyptischen Pyramiden nach Sigmund Freud ein wesentliches Motiv der Religion. Der Tod wird als eine Reise in eine andere Welt vorgestellt, in der die Seele als feinstoffliches Wesen oder als manifester Körper weiterlebt, entweder in einer Unterwelt oder in einem Paradies. Manche schaffen es gar auf den Olymp. Ob Auferstehung des Leibes oder Wiedergeburt – der Tod sei inexistent. Jeder weiß, dass diese Aussage falsch ist, denn sonst müsste man den Tod eines Anderen nicht betrauern und den eigenen nicht fürchten. Die Vorstellung vom Eingehen in ein Nirwana, wo kein Leiden mehr herrscht, setzt einen philosophisch etwas anderen Akzent, übt aber eine ebenbürtige Funktion aus. Doch die Verleugnung des Todes kennzeichnet nicht aller Religionen.

Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt das Judentum dar, in welchem die Auferstehung nur über eine heterodoxe Linie tradiert wird (auf die Jesus sich bezog). Weil es laut Judentum eben kein Leben nach dem Tod gibt, muss Gottes Strafe für Fehlverhalten entweder ganz konkret in diesem Leben erfolgen oder sich auf die Nachkommenschaft beziehen. Der Urtyp dieser auf die Nachkommen übertragenen Strafe ist der Sündenfall von Adam und Eva, das heißt ihr Ungehorsam gegenüber Gottes (sinnlosem) Verbot, die Früchte eines bestimmten Baumes zu essen. Alle Nachkommen tragen die Strafe, die darin besteht, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt im Schweiße ihres Angesichts verdienen müssen und dass die Frauen ihre Kinder unter Schmerzen gebären. Dies ist die für alle sogenannten abrahamitischen Religionen verbindliche Grundstruktur des Verhältnisses des Menschen zu Gott.

Die Verleugnung des Todes ist ein zwar häufig anzutreffendes, aber nicht allgemeines Kennzeichen der Religion, wohl aber ein Beispiel für die allgemeinere Tendenz, das Schicksal verfügbar machen zu wollen. Vom Regenmacher über die Selbstgeißelung bis hin zum einfachen Stoßgebet: Religion verkörpert die Illusion, das Schicksal in Situationen steuern zu können, in denen alle rationalen Methoden des Handelns versagen.

Die Illusion der Verfügbarkeit wird durch einen komplexen Weg erzeugt und aufrechterhalten. Im ersten Schritt muss die Religion das schlimme wie das gute Schicksal als durch Handeln verursacht interpretieren, denn Verfügbarkeit gibt es nur durch Handeln. Das, was einem Schlimmes widerfährt, muss sie als eine Strafe für ein eigenes falsches Verhalten ausgeben. Es kann nicht die natürliche Folge einer Handlung sein, denn eine solche natürliche Folge wäre nicht verfügbar. Vielmehr spricht ein übernatürliches Wesen diese Strafe aus. Es gilt, um das Schlimme abzuwenden, dies übernatürliche Wesen zu besänftigen. Die Mittel der Besänftigung sind Gehorsam (oder Verehrung) und Opfer. Die Römer trieben es in dieser Richtung besonders weit. Für sie stellte die Verehrung eines Gottes und die Opfergabe so etwas wie einen rechtsgültigen Vertrag dar. Beide Seiten mussten liefern: der Mensch und der Gott.

Damit die Illusion sich gegen die Erfahrung aufrechterhalten lässt, setzt Religion noch einen weiteren psychologischen Kniff ein: Wenn trotz Gehorsam und trotz Opfer dennoch das Schicksal nicht den gewünschten Verlauf nimmt, ging der Gehorsam nicht weit genug und das Opfer hatte nicht genug Wert. Um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, muss mehr vom Gleichen her. Diese Vorstellung konstituiert einen unwiderleglichen Zirkelschluss. Um ihm eine halbwegs rationale Basis und einen empirischen Anschein zu verleihen, bedarf es einer unübersehbaren Vielzahl an hochkomplexen Ritualen, in denen ständig die Gefahr lauert, dass einem ein Fehler unterläuft, der dann den gerechten Zorn Gottes heraufbeschwört. Dies ist im Judentum ausgeprägt, ebenso wie in vielen asiatischen Religionen, etwa dem Daoismus. In polytheistischen Religionen kommt hinzu, dass die Götter sich untereinander oft nicht grün sind und der Dienst an dem einen Gott den Zorn seines Konkurrenten zur Folge hat. Bei den Christen ist die Sündenlehre vergleichsweise einfach strukturiert, enthält aber Gebote, die ein widernatürliches Verhalten fordern (so besonders in sexueller Hinsicht), sodass kein Mangel an Verstößen herrscht. Der mittelalterliche Philosoph Thomas von Aquin konstatierte realistisch, ein gänzlich sündenfreies Leben zu führen, sei unmöglich. Von ihm sind herzzerreißende Selbstbezichtigungen als der größte aller Sünder überliefert.

Die psychologischen Kosten, die die Illusion der Verfügbarkeit verursacht, deuten ins Unermessliche. Das Leben in ständiger Gefahr, dass entweder eine Vielzahl von eifersüchtigen übernatürlichen Wesen oder der eine überstrenge Gott seinen Zorn walten lässt, macht aus einem stolzen Menschen einen kleinen Wurm. Die Gefahr eines Schicksalsschlags ist gar nicht geringer geworden (natürlich nicht); der einzige Gewinn besteht in der Illusion der Verfügbarkeit: Ich hätte es verhindern können, wenn ich gehorsamer gewesen wäre und das angemessene Opfer dargebracht hätte. Solche verängstigten Menschen ohne Selbstbewusstsein bilden eine Gesellschaft, die sich willig und freudig den herrschenden Instanzen unterordnet.

Eine besonders böswillige Steigerung der schädlichen Folgen, die die Illusion der Verfügbarkeit mit sich bringt, ist der Versuch, das Schicksal durch die Kontrolle des Verhaltens von Mitmenschen zu steuern oder durch das Opfern der Mitmenschen. Die ungerechten Götter ebenso wie der eine ungerechte Gott strafen nämlich Ungehorsam nicht nur am Einzelnen, sondern der ganzen Gemeinschaft gegenüber. Wiederum ist der Sündenfall der Urtyp: Nicht nur Adam und Eva werden gestraft, sondern alle ihre Nachkommen.

Ob man die Erzählung vom Sündenfall nun mag oder nicht, sie ist harmlos im Vergleich zu dem Wahn, den die Illusion der Verfügbarkeit beim Opfern von Mitmenschen erzeugen kann. Ob es die Menschenopfer bei den Mayas waren, die Inquisition durch Tomás de Torquemada (1420–1498) oder der Eifer von heutigen Islamisten, Ungläubige, Abtrünnige und Abweichler zu massakrieren – es ist das immer nämliche Muster: Nicht nur mein eigener Ungehorsam kann Gottes Zorn über mich heraufbeschwören, sondern der Ungehorsam der Mitmenschen wird uns alle ins Verderben stürzen, wenn wir nicht die Hand gegen sie erheben. Der Urtyp der Erlaubnis, Abtrünnige und Andersgläubige zu töten, findet sich für die abrahamitischen Religionen in der Erzählung um das Goldene Kalb: Moses hat auf dem Berg von Gott die Gesetzestafeln erhalten, deren sechstes Gebot lautet, du sollst nicht töten; aber als Moses in das Lager der Israeliten am Fuße des Berges zurückkehrte, war ein Teil vom Glauben abgefallen und betete ein Goldenes Kalb an. Umgehend ward das sechste Gebot außer Kraft gesetzt und die Ungehorsamen wurden unter Gottes beifälligem Gemurmel niedergemetzelt. Es bedarf keiner weiteren Erzählung, um vor allen Religionen, die von ihr abstammen und ihr zustimmen, blanken Widerwillen zu empfinden: Es starben an dem Tage, sagt die Erzählung, dreitausend Leute. Männer, Frauen, Kinder. Ein jeder erschlug Vater und Mutter, Sohn und Tochter.

Freilich gibt es eine theologische Linie, die einer allzu simplen Rückführung von Schicksalsschlägen auf eine Strafe Gottes entgegenläuft. Sie beruft sich auf das Buch Hiob im Tanach beziehungsweise Alten Testament. Gott lässt sich durch Satan dazu reizen, ein böses Experiment mit dem rechtschaffenen und gottergebenen Hiob zu treiben. Das Argument von Satan ist gewitzt: Hiob sei rechtschaffen und gottergeben, weil und nur weil er als Lohn dafür ein glückliches Leben erwarte. Um Hiobs Glauben zu testen, darf Satan ihm allerlei Unbill bereiten, doch Hiob bleibt seinem Glauben treu. Seine Freunde dagegen interpretieren die Unbill als Gottes Strafe für (verborgene) Sünden. Da liegen sie falsch. Die Botschaft ist: Du musst an Gott glauben, selbst wenn dir Böses widerfährt; du darfst keinen Lohn erwarten. Allerdings belohnt Gott Hiob für seine Treue am Ende doch noch. Der Autor der Erzählung weiß ganz genau, dass niemand einem Gott treu sein wird, von dem er nur Schlechtes zu erwarten hat.

Interessant (aber, verglichen mit den abrahamitischen Religionen, harmlos) ist der Fall des Daoismus. Obwohl im Gründungsdokument des Daoismus, dem Daodejing, in einem um den anderen Vers davon die Rede ist, man könne gute Ergebnisse nicht erzwingen – übe dich im Nichttun und nichts bleibt ungetan, lautet das Motto –, kennzeichnen den Daoismus eine Vielzahl von Ritualen, deren gehorsame Befolgung ein glückliches und langes Leben verspricht. Mein Lieblingsdaoist, Ruan Ji (210–263), starb trotz aller alchemistischen Rituale mit 53 Jahren – an gebrochenem Herzen, weil sein Freund Xi Kang vom Herrscher hingerichtet worden war. Auch Xi Kang hatten die Rituale nichts genützt.


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