Über die menschliche Natur: Die Universalität der Freiheit
Die Idee der Freiheit in der chinesischen Philosophie am Beispiel Yang Zhu
Friedrich August von Hayek hat überraschenderweise nicht erklärt, wie Freiheit in die Welt kommt. Er war der Ansicht, dass frühe Menschen nicht frei waren, denn „der einzelne konnte wenig unternehmen, wozu die anderen nicht ihre Zustimmung gaben. Es ist eine Illusion zu glauben, die einzelnen seien in einer primitiven Gesellschaft frei gewesen. Es gab keine »natürliche Freiheit« für ein Mitglied solcher primitiven Horden; Freiheit ist ein Kunsterzeugnis der Zivilisation.“ Und: „Freiheit ist […] ein Artefakt, wenn auch nicht eine Erfindung, sondern das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, in dem die Gemeinschaften, die dem einzelnen mehr davon zugestanden, den Vorsprung gewannen.“ (Die Anmaßung von Wissen, S. 183, S. 202) Für Hayek ist Freiheit also ein Ergebnis kultureller Evolution. Aber auch von Mises war der Meinung, „the idea of liberty is and has always been peculiar to the West. What separates East and West is first of all the fact that the peoples of the East never conceived the idea of liberty.“ (1)
Wenn aber Rothbard recht hätte, dass Selbsteigentum und ursprünglich angeeignetes Eigentum naturrechtlich gegeben sind, sollte man das nicht erwarten. Die Grundlagen der menschlichen Moral sind tatsächlich ein Ergebnis biologischer Evolution und nicht, wie Hayek es annahm, ausschließlich das Ergebnis kultureller Evolution. Empathie, Fairness, Reziprozität (Kooperation) sowie Aversion gegen grundlose Aggression (allerdings auch Aggression) sind angeborene Dispositionen. Jedoch, wie die ebenfalls angeborene Angst vor Haltverlust nicht dazu führt, dass Menschen nicht mit Fallschirmen aus Flugzeugen springen, so führen diese Dispositionen nicht automatisch zu moralischem Handeln. Die Disposition wird im Zuge kultureller Evolution überformt. Es ist aber dennoch möglich, angeborene Grundlagen der Moral bei Kindern, die den Überformungsprozess noch nicht durchlaufen haben, und Proto-Moral bei Schimpansen empirisch aufzuzeigen.
Wenn das Streben nach Freiheit als Abwesenheit von willkürlichem Zwang also biologische Wurzeln hat, sollte das Streben nach Freiheit trotz kultureller Überformung nie ganz verschwinden, auch im Osten nicht. Tatsächlich zeigt die Ethnologie, dass Hayeks Bild von frühen Gesellschaften falsch war. Die paläolithischen Jäger und Sammler kannten Freiheit, Freiheit ist kein Kunsterzeugnis der Zivilisation, sondern die Zivilisation ist die größte Quelle der Unfreiheit. Und auch Hayeks und Mises’ Annahme, Freiheit sei ausschließlich ein Ergebnis westlicher Zivilisation, ist falsch. Vor 2.500 Jahren, als die Juden den Monotheismus, die Griechen die Demokratie, die Inder den Buddhismus entwickelten (die sogenannte Achsenzeit), gab es auch in China einen religiösen und philosophischen Aufbruch, die Zeit der „Hundert Schulen“. Einen ihrer Vertreter, der selten erwähnt wird, weil er schon zu seiner Zeit von allen anderen Denkschulen abgelehnt wurde, möchte ich hier herausgreifen.
Yang Zhu (manchmal Yang Zi) lebte im 4. Jahrhundert v.u.Z. und hat keine eigenen Schriften hinterlassen. Was wir über ihn wissen, entspringt Erwähnungen von späteren, ihm nicht wohlgesonnenen Autoren. Yang Zhu positionierte sich scharf gegen den Konfuzianismus mit seinen Rollenpflichten und ebenso gegen den Mohismus mit seinem altruistischen Universalismus. Weder Herrscher noch Moralisten dürften Menschen zu Opfern für „das Gemeinwohl“ drängen. Der Mensch sei kein Werkzeug einer moralischen oder politischen Agenda. Der Mensch besitzt nur ein Leben, das nicht geopfert werden darf. „Nichts ist wertvoller als das eigene Leben.“
Seine Kritiker sagten über ihn: „Er würde nicht ein einziges Haar opfern, um der Welt zu nützen.“ Was auch immer er tatsächlich gesagt haben mag, er meinte, dass er kein erzwungenes Opfer des Individuums für kollektive Zwecke zu akzeptieren bereit sei. Das Haar steht hier als Teil des Körpers stellvertretend für die menschliche Natur. Der Konfuzianer Mencius sagte über ihn: „Yang Zhu lehrt ‚Für mich selbst‘.“ Was Yang Zhu aber nicht meinte, ist, dass man niemandem freiwillig helfen sollte, sondern dass es keine moralische Pflicht zur Selbstaufopferung gäbe: „Wenn jeder Mensch nicht ein Haarbreit nachgeben würde und jeder Mensch nicht danach streben würde, der Welt zu nützen, wäre die Welt gut regiert.“
Yang Zhu war Naturalist. Der Mensch sei ein natürliches Wesen ohne moralische Mission. Seine Bedürfnisse und sein Körper sind ihm unmittelbar gegeben. Regeln, die über diese Natur hinausgehen und Selbstaufgabe verlangen, sind künstlich (wir würden heute sagen kulturell). Er lehrt, die menschliche Existenz sei oft durch äußere Einflüsse verdeckt und durch soziale Strukturen eingeschränkt, wodurch die wahre Natur des Lebens verschleiert wird und der Einzelne sein Selbstbewusstsein verliert. Folglich plädiert er dafür, einen inneren Bereich zu suchen, in dem man Frieden und Erfüllung finden kann, um sich so von gesellschaftlichen Bindungen zu befreien und das Streben nach persönlicher Menschlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Er vertrat die Ansicht, dass Menschen nur durch die Wertschätzung ihrer angeborenen natürlichen Veranlagung Glück erlangen und „das Leben (die Natur) und die Authentizität bewahren“ können.
Das „Natürliche Selbst“ (性) werde durch gesellschaftliche Ideologien wie eben zum Beispiel der Forderung nach Altruismus und anderer Pflichten korrumpiert. Das verwendete Schriftzeichen enthält das Radikal für „Herz“, dessen Grundidee ist „Was im Herzen geboren ist“, also angeboren ist. Das gesamte Zeichen bedeutet je nach Kontext Natur, Wesen, Wesensart, biologisches Geschlecht, Sexualität, hat aber auch psychologische Aspekte wie Charakter, Veranlagung.
Yang Zhu fordert auf, das Leben zu genießen, den Körper zu pflegen, politische Einmischung zu meiden und nach persönlichem Wohlergehen zu streben, ohne anderen zu schaden. Oft wird er deshalb von seinen Gegnern als Hedonist dargestellt, aber er sagte: „Der Weise verschwendet nicht seine Lebenskraft für äußere Dinge.“ Er war Antipolitiker, weil er meinte, Politik korrumpiere das natürliche Leben: „Halte dich fern von Königen und Herrschern.“ „Suche keine Ämter, übe keinen Einfluss auf die Welt.“ Die Welt sei nicht durch Zwang zu verbessern. Er forderte eine nichtinterventionistische Regierungsführung.
Der Körper sei das Eigentum des Individuums, also Selbsteigentum, formuliert 2.300 Jahre vor John Locke! Er befürwortete ebenfalls den Schutz des Privateigentums. Daraus leitet er ab, dass niemand moralisch oder politisch gezwungen werden darf, sich zu opfern. Ideologien, die Selbstaufgabe fordern, seien illegitim. Dies entspricht funktional dem Nichtaggressionsprinzip.
Findet jemand einen noch früheren Libertären als Yang Zhu?
Quellen:
The Market for Liberty in Ancient China - Online Library of Liberty
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