Religion und Gesellschaft: Linke Mythen: Die Religion ist das Opium des Volkes
Religion und Freiheit gehören zusammen.
Linke Mythen: Die Religion ist das Opium des Volkes
Der Titel ist die verkürzte Version eines Zitates von Karl Marx aus „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von 1844. Komplett lautet es: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ Marx sieht die Religion nicht als die Ursache des menschlichen Leides, aber als ein Element des „gesellschaftlichen Überbaus“, welches das durch die materielle Basis verursachte Leid erträglicher macht und damit die eigentlich unerträglichen Verhältnisse stabilisiert.
Dass Linke dieses Zitat nicht mehr verwenden, liegt ausschließlich daran, dass institutionalisierte Religion in den meisten westlichen Ländern stark an Bedeutung verloren hat und die Kirchen sich weitgehend der linken Ideologie angeschlossen haben. Von der Grundidee, dass der „Überbau“ und damit die Kultur einer Gesellschaft die gesellschaftlichen Verhältnisse bloß stabilisiert und damit bekämpft werden muss, ist die Linke aber nie abgerückt. Im Gegenteil, sie hat mit Antonio Gramsci diesen Gedanken noch mehr ins Zentrum gerückt und zum Kulturkampf geblasen.
Religion erscheint auch vielen Liberalen und Libertären heutzutage als sekundär. John Stuart Mill, David Hume, F. A. von Hayek, Karl Popper, Ludwig von Mises, Ayn Rand, Milton Friedman waren entweder Atheisten oder meist Agnostiker. Braucht uns das Thema Religion deshalb nicht zu interessieren oder hatten die Linken mit ihrer Zuschreibung der Rolle der Religion gar recht?
Murray Rothbard vertrat zunächst einen rein rationalen und säkularen Libertarismus und lehnte Religion (wie Ayn Rand) klar ab. Diese Position verwarf er aber später, als er erkannte, dass die christliche Religion eine gesellschaftlich nützliche Funktion hat (keine schädliche wie bei Marx). Auch von Hayek, obwohl Agnostiker, sah das Christentum als Träger überlieferter moralischer Regeln, die sich bewährt haben, lange bevor Menschen ihre Bedeutung rational verstehen konnten. Er war überzeugt, nicht die Vernunft, sondern die religiöse Überlieferung habe die Regeln geschaffen, die das Funktionieren einer freien Gesellschaft ermöglichen.
Das ist eine dem linken Denken diametral entgegengesetzte Sicht auf die Rolle der christlichen Religion. Vor dem christlichen Gott sind alle Menschen gleich, Gott achtet nicht auf Unterschiede in Geschlecht, Herkunft, gesellschaftlichem Status, Reichtum etc. Alle sind gleichermaßen seine Kinder. Nächstenliebe überträgt dieses Verhältnis auf den zwischenmenschlichen Bereich und macht an Clangrenzen nicht halt. Jeder Christ hat seine ganz allein ihm gehörende Verbindung zu Gott, er spricht im Gebet als Individuum mit Gott. Nur ein Individuum kann überhaupt eine Beziehung zu Gott haben, kann errettet und erlöst werden. Der Mensch muss in moralischen Fragen seinem individuellen Gewissen folgen. Er ist nicht dem Herkunftskollektiv gegenüber verantwortlich, sondern Gott gegenüber. Das alles führt im Christentum zu einer Wertschätzung des Individuums, die es seit der Machtübernahme der patriarchalen Clans vor 10.000 Jahren nicht mehr gab.
In der Zeit, in der das Christentum entstand und sich ausbreitete, war die Gesellschaft in Clanstrukturen organisiert (in Rom „Gentes“ bestehend aus mehreren „Familiae“), so wie es auch heute noch in weiten Teilen der nichtchristlichen Welt der Fall ist. Es gab deshalb ein erhebliches Spannungsverhältnis zwischen der christlichen Lehre und den überlieferten Vorstellungen der Clans. Die Kirche reagierte darauf, indem sie Regeln schuf, die die Ehe und die Familienstrukturen betrafen. Der Anthropologe Joseph Henrich nennt es „Ehe- und Familienprogramm“ und führt auf zehn Buchseiten die von 305 bis 1983 andauernden Maßnahmen auf, von denen die wichtigsten das Verbot der Heirat zwischen Blutsverwandten bis hin zu Cousins und Cousinen sechsten (!) Grades, das Verbot der polygynen Ehe und das heute noch übliche „Ja, ich will!“ bei der Eheschließung sind. Diese Maßnahmen sind auch ein gutes Beispiel dafür, dass das Ziel einer Intervention niemals der tatsächlichen Wirkung entspricht: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Kirche die Clans zerschlagen wollte, aber tatsächlich ist genau das dann passiert.
Die Durchsetzung der Idee eines „Individuums“ ist die Basis der besonderen, vom Rest der Welt stark abweichenden inneren Verfasstheit westlicher Menschen. Henrich liefert umfangreiches Material aus psychologischer Forschung dafür, dass wir anders sind. Global betrachtet sind wir eine kleine Minderheit, er nennt uns „weird“ (Akronym für western, educated, industrialized, rich, democratic). Er benennt circa zehn Eigenschaften, in denen wir empirisch von der globalen Mehrheit signifikant abweichen. Hervorzuheben ist die Bevorzugung analytischen statt ganzheitlichen Denkens und die Tatsache, dass das Selbstwertgefühl weniger von der Wertschätzung anderer abhängt. Besonders folgenschwer ist aber die Tatsache, dass seltsame Menschen (weird people) ein hohes Maß an unpersönlichem Vertrauen haben, das heißt auch Fremden vertrauen. Das ist der größtmögliche Gegensatz zum Clandenken.
Religion ist also nicht „reaktionär“, sondern hat die westliche Gesellschaft und damit auch Karl Marx erst ermöglicht. Aber das ist ja Geschichte. Brauchen wir Religion denn heute noch? Nicht nur viele Linke, sondern auch Nicht-Linke würden das verneinen. Das erkennt man an dem abfälligen Gebrauch des Begriffs „Religion“, zum Beispiel wenn von „Klimareligion“ gesprochen wird. „Religion“ wird hier synonym zu „Ideologie“ verwendet.
Doch Religion ist nicht Ideologie, denn die Funktion beider ist verschieden. Ideologie deutet gesellschaftliche und politische Phänomene auf der Grundlage eines individuellen oder gruppenbezogenen Interesses und hat deshalb etwas Trennendes. Ideologie unterscheidet in „ich/wir“ und „Sie“. Religion aber sucht geistige Universalien hinter den Erscheinungen (die Naturwissenschaft sucht materielle) und hat deshalb etwas Verbindendes. Sie umfasst auch das Unsagbare, Einswerdung. Wie dies geschieht, ist kulturell bedingt und historischem Wandel unterworfen. Religion ist ein Spiegel der jeweiligen gesellschaftlichen Situation. Wohl die meisten Christen stellen sich Gott heute nicht mehr als alten weißen Mann mit Rauschebart, der im Himmel sitzt und uns beobachtet, vor.
Zu glauben (!), man könne Glauben durch Wissen ersetzen, ist eine „Anmaßung von Wissen“ (von Hayek). Definiert man Religion als eine Weltanschauung, die die Lücke dessen, was man nicht wissen kann, mit Glauben füllt, wird man als wissenschaftlich denkender und erkenntnistheoretisch reflektierter Mensch eingestehen müssen, dass viel zu glauben bleibt. Wenn man handlungsunfähig würde, weil man nicht weiß, macht Glauben wieder handlungsfähig. Richard Dawkins, ein radikaler Atheist, betrachtet Religion als ein Ergebnis der biologischen (!) Evolution, weil Glauben einen Überlebensvorteil verschafft, indem er sinnvolle Verhaltensregeln festigt. Die Suche nach Sinn und Glück sind für ihn aber nur eine Nebenwirkung der Evolution, genauer der Gehirnentwicklung. Unser komplexes Gehirn, das sich eigentlich für ganz andere Zwecke entwickelt hat, ermögliche es uns, darüber nachzudenken, woher wir kommen und wozu wir auf der Welt sind.
Religion bedarf keiner Gottesvorstellung, wie ostasiatische Religionen zeigen. Es gibt keinen Gegensatz zwischen libertärem Denken und Religion, sofern diese offen ist für Wissenschaft und Erkenntnistheorie und keine ideologischen Elemente beimischt (was natürlich stets geschah und geschieht).https://www.zeit.de/2025/47/richard-dawkins-the-genetic-book-of-the-dead-charles-darwin-evolution/komplettansicht
Quellen:
Richard Dawkins: "Glück ist nur eine Nebenwirkung der Evolution"
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