21. Dezember 2025 06:00

Russland und Ukrainekrieg Warum sie Putin hassen

Russland in den 1990er Jahren: Der fehlende Kontext

von Antony P. Mueller drucken

Ein symbolisches Bild von Russland und der Ukraine im Konflikt, das die historische Dimension und wirtschaftliche Umbrüche seit den 1990er Jahren illustriert, mit politischen Symbolen und einem düsteren Hintergrund, 16:9, Querformat, ohne Text/Schrift/Logo
Bildquelle: Redaktion Ein symbolisches Bild von Russland und der Ukraine im Konflikt, das die historische Dimension und wirtschaftliche Umbrüche seit den 1990er Jahren illustriert, mit politischen Symbolen und einem düsteren Hintergrund, 16:9, Querformat, ohne Text/Schrift/Logo

Warum sie Putin hassen. Russland in den 1990er Jahren: Der fehlende Kontext

Die anhaltende Eskalation des Ukrainekriegs lässt sich nur verstehen, wenn man sich von moralischen Schlagworten löst und stattdessen den historischen sowie ökonomischen Kontext in den Blick nimmt.

Die Feindseligkeit gegenüber Wladimir Putin speist sich weniger aus seiner Innenpolitik oder den häufig genannten demokratischen Defiziten – die bei westlichen Verbündeten oftmals übersehen werden – als vielmehr aus einer tiefer liegenden Kränkung: Putin beendete ein Projekt, das in den 1990er Jahren als abgeschlossen galt – die dauerhafte politische und ökonomische Unterordnung Russlands.

Für einflussreiche westliche Netzwerke war Russland nach dem Ende der Sowjetunion kein gleichberechtigter Partner, sondern ein geopolitisches Beutestück: Rohstoffquelle, Absatzmarkt und Experimentierfeld für Schocktherapien. Boris Jelzin garantierte diesen Zustand – um den Preis sozialer Verheerung und politischer Abhängigkeit. Putin hingegen zog dem Ausverkauf Grenzen, entzog Oligarchen ihre politische Macht, verweigerte weitere IWF-„Rettungen“ und stellte die staatliche Souveränität Russlands wieder her.

Genau dies machte ihn zum Feind.

Der Ukrainekrieg stellt vor diesem Hintergrund nicht nur einen regional begrenzten Konflikt dar, sondern auch eine nachträgliche Abrechnung.

Sie richtet sich weniger gegen die Ukraine selbst als gegen einen Akteur, der sich der westlich geprägten Nachkriegsordnung widersetzt. Die massive militärische, finanzielle und mediale Mobilisierung kann als Versuch interpretiert werden, das in den 1990er Jahren angestrebte Ergebnis doch noch durchzusetzen – diesmal nicht mit Schocktherapie, sondern durch einen Stellvertreterkrieg.

Putin steht damit symbolisch für etwas, das bestimmten Machteliten als unverzeihlich gilt: den Beweis, dass ein Staat sich aus der Rolle des ökonomischen Vasallen befreien kann. Die Ablehnung ihm gegenüber ist daher weniger moralisch motiviert als strukturell – und gerade deshalb so erbittert.

Angesichts der Zuspitzung des Konflikts ist es unerlässlich, sich mit dem auseinanderzusetzen, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion tatsächlich geschah.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 erklärten Polittheoretiker – und zahlreiche westliche Politiker folgten dem – das „Ende der Geschichte“. Russland, so hieß es, schlage nun endlich den Weg zu Demokratie, Marktwirtschaft und Wohlstand ein. Privatisierung, Liberalisierung und Integration in die westlich geprägte Ordnung galten als alternativlose Heilmittel. Was folgte, war jedoch keine Erfolgsgeschichte der Freiheit, sondern eine der gravierendsten sozialen und wirtschaftlichen Krisen in Friedenszeiten.

Die 1990er Jahre stellten für Russland keinen Aufbruch, sondern einen systemischen Zusammenbruch dar. Millionen Menschen verloren über Nacht ihre Ersparnisse, ihre soziale Absicherung und oftmals auch ihre Zukunftsperspektive. Als einer der wenigen Autoren rekonstruiert der Ökonom Alex Krainer in seinem Buch The Grand Deception jenen Kontext, der in westlichen Darstellungen weitgehend ausgeblendet bleibt. Seine zentrale These lautet: Die Verwüstungen der 1990er Jahre waren nicht bloß Übergangsschmerzen, sondern die absehbare Folge ausländischer Einflussnahme und institutioneller Demontage.

Russland erlebte keinen geordneten Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus, sondern die Zerschlagung gesellschaftlicher Strukturen ohne gleichzeitigen institutionellen Aufbau. Der „Systemwechsel“ wurde nicht als graduelle Transformation, sondern als radikaler Bruch verstanden – bestehende soziale und wirtschaftliche Ordnungen wurden abgeschafft, ohne dass tragfähige Alternativen geschaffen wurden.

Die sogenannten post-sowjetischen Reformen wurden unter dem Schlagwort der „Schocktherapie“ eingeführt: Preise wurden freigegeben, Subventionen gestrichen, Grenzen geöffnet und staatliches Eigentum weitgehend privatisiert – nahezu gleichzeitig. Doch in Ermangelung funktionierender Rechtsstaatlichkeit, marktwirtschaftlicher Institutionen und gesicherter Eigentumstitel führte diese Schockstrategie nicht zu Freiheit, sondern zu Chaos.

Ersparnisse, die über Jahrzehnte hinweg gebildet worden waren, wurden innerhalb weniger Monate entwertet. Löhne und Renten wurden oftmals über Monate hinweg nicht ausgezahlt. Die industrielle Produktion brach um mehr als die Hälfte ein. Mitte der 1990er Jahre waren über 70.000 Betriebe geschlossen, mehr als 74 Millionen Menschen lebten unterhalb der Armutsgrenze, und die durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer sank um beinahe zehn Jahre – vergleichbare Einbrüche kannte man bis dahin nur aus Kriegszeiten.

Was entstand, war keine funktionierende Marktwirtschaft, sondern eine Kleptokratie, ein Raubzug, vom Westen aus geleitet und organisiert. Politische Macht und ökonomische Privilegien verschmolzen zu einem System, in dem nicht unternehmerische Leistung, sondern Nähe zur Macht über Reichtum entschied. Eine kleine Machtelite eignete sich unter dem Banner der Reformen immense Anteile an den Ressourcen Russlands an.

Eine zentrale Rolle im wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands spielten westliche Beratergruppen, insbesondere ein Netzwerk von Ökonomen und Politikstrategen rund um die Harvard University, das eng mit dem US-Finanzministerium, USAID und internationalen Finanzinstitutionen verflochten war. In Russland wurden sie bald als „Harvard Boys“ bekannt.

Offiziell sollten sie Russland beim Aufbau einer Marktwirtschaft unterstützen. In der Praxis jedoch trugen ihre Konzepte maßgeblich dazu bei, dass aus der post-sowjetischen Ökonomie keine funktionierende Marktwirtschaft, sondern eine Plünderungsökonomie entstand.

Das leitende Dogma lautete: erst Liberalisierung, dann Institutionen. Preisfreigabe, Privatisierung, Öffnung der Kapitalmärkte und der Abbau staatlicher Subventionen sollten so schnell und unumkehrbar wie möglich erfolgen. Die Etablierung rechtsstaatlicher Institutionen, Eigentumssicherung und Wettbewerbsschutz galten als nachrangig.

Dies erwies sich als ordnungspolitischer Irrtum: Märkte sind keine Naturereignisse, sondern beruhen auf Regeln, Vertrauen und der Durchsetzung von Rechten. In Russland fehlten diese Voraussetzungen. Die Folge war absehbar: Wer über politische Nähe, Gewaltmittel oder Insiderwissen verfügte, setzte sich durch. Wer lediglich Arbeit und Ersparnisse besaß, verlor alles.

Besonders folgenreich war die sogenannte Gutscheinprivatisierung. Jeder Bürger erhielt einen Voucher, der symbolisch einen Anteil am Staatsvermögen repräsentieren sollte – in der Theorie ein demokratisches Eigentumsmodell. In der Praxis jedoch ein Mechanismus großflächiger Enteignung.

Millionen Russen, infolge von Inflation und ausbleibenden Löhnen verarmt, verkauften ihre Gutscheine für einen Bruchteil des eigentlichen Wertes, häufig zur Deckung ihres Grundbedarfs. Gleichzeitig sammelten gut vernetzte Akteure – die späteren Oligarchen – diese Gutscheine gezielt auf. Ganze Industriezweige wechselten binnen kürzester Zeit den Eigentümer.

Noch drastischer wirkte das sogenannte „Loans-for-Shares“-Programm: Der Staat verpfändete Anteile an strategisch wichtigen Unternehmen gegen kurzfristige Kredite. Als der Staat die Rückzahlung nicht leisten konnte – ein erwartbares Szenario – gingen die Unternehmen zu Spottpreisen an private Banken über, häufig an dieselben Akteure, die den Prozess politisch mitgestaltet hatten.

Ein funktionierender Markt war dies nicht – sondern eine Form legalisierter Enteignung.

Besonders problematisch war, dass führende Vertreter des Harvard-Netzwerks nicht nur beratend tätig waren, sondern persönlich von den Reformprozessen profitierten. Das Harvard Institute for International Development (HIID), finanziert durch USAID, spielte in Moskau eine zentrale Rolle.

In den späten 1990er Jahren wurde bekannt, dass hochrangige Mitarbeiter – darunter Jonathan Hay und Andrei Shleifer – während ihrer Tätigkeit in russische Finanzmärkte investierten. Dies führte zu Ermittlungen und einem Rechtsstreit. Schließlich einigte man sich auf einen Vergleich: Harvard und Shleifer zahlten Millionenstrafen, ohne ein Schuldeingeständnis abzugeben.

Politische Konsequenzen blieben weitgehend aus. In der westlichen Öffentlichkeit wurde der Skandal kaum thematisiert – der Mythos wohlmeinender Reformhilfe blieb erhalten.

Die Geschichte der „Harvard Boys“ bleibt bis heute unbequem, weil sie zeigt, dass westliche Reformpolitik in Russland weniger Freiheit exportierte als Machtinteressen verfolgte. Sie erklärt auch, warum viele Russen westliche Demokratierhetorik nicht als Hilfe, sondern als Täuschung wahrnahmen.

Auch der Internationale Währungsfonds verschärfte die Krise, indem er unter dem Banner fiskalischer Disziplin drastische Austeritätsmaßnahmen durchsetzte – während gleichzeitig massive Kapitalflucht toleriert wurde. Milliardenkredite versickerten in undurchsichtigen Kanälen oder wurden zur Arbitrage genutzt: billig im Ausland geliehen, hochverzinst in russische Staatsanleihen investiert. Die Bevölkerung trug die Kosten. 1998 kam es zum Staatsbankrott – das Vertrauen in Staat, Markt und Demokratie war weitgehend zerstört.

Als das russische Parlament 1993 versuchte, diesen Kurs zu stoppen, reagierte Präsident Jelzin mit Gewalt: Panzer beschossen das Parlamentsgebäude, Hunderte Menschen kamen ums Leben. Es war einer der schwersten Angriffe auf ein demokratisch gewähltes Parlament im Nachkriegseuropa. Dennoch stellte sich der Westen geschlossen hinter Jelzin – Demokratie schien nur solange wünschenswert, wie sie die „richtigen“ Ergebnisse lieferte.

Diese Erfahrungen erklären, weshalb Wladimir Putin nicht trotz, sondern gerade wegen der 1990er Jahre breite Akzeptanz fand. Er wurde als jener Akteur wahrgenommen, der dem Ausverkauf ein Ende setzte.

Als Putin Ende 1999 die Präsidentschaft übernahm, war Russland ein weitgehend dysfunktionaler Staat. Seine ersten Maßnahmen zielten auf die Wiederherstellung grundlegender Ordnung: Rechtsdurchsetzung und staatliche Steuerungsfähigkeit. Unter seiner Führung verbesserten sich zentrale Lebensindikatoren spürbar: Einkommen stiegen, die Armutsquote sank, die Lebenserwartung erhöhte sich, Gewalt und sozialer Zerfall nahmen ab.

Im Westen wurde Putins Politik zunehmend als autoritär klassifiziert. Diese Sichtweise blendet jedoch oft den historischen Kontext aus. Nach einem Jahrzehnt des Zusammenbruchs galt Ordnung für viele Russen nicht als Gegensatz zur Freiheit, sondern als deren Voraussetzung. Die Stabilisierung des Staates wurde als Wiedergewinn nationaler Würde und Souveränität empfunden.

Die Geschichte Russlands seit 1991 ist keine Erfolgsgeschichte des Liberalismus. Sie ist eine Warnung vor Hybris und der Instrumentalisierung demokratischer Prinzipien für geopolitische Ziele. Wer Demokratie nur dann akzeptiert, wenn sie genehme Ergebnisse liefert, delegitimiert sie. Die russischen 1990er Jahre zeigen, wie zerstörerisch solche Widersprüche wirken können.

Wer diese Phase des Zusammenbruchs unter Jelzin und der Neuordnung Russlands unter Putin ignoriert, wird die heutigen geopolitischen Spannungen nicht begreifen. Der Hass auf Putin speist sich auch daraus, dass er ein System beendete, von dem andere profitiert hatten. Wer diesen Kontext ausblendet, riskiert, die Konflikte von morgen mit zu erzeugen.

Was in Russland unter Jelzin nicht dauerhaft durchgesetzt werden konnte – auch aufgrund der politischen Wende unter Putin – versucht man nun mithilfe Selenskyjs in der Ukraine zu realisieren. Auch dort sind erneut externe Akteure aktiv, die darauf abzielen, sich Zugang zu strategischen Ressourcen zu verschaffen. Zur Legitimation dieses Prozesses wird eine Kulisse öffentlicher Fehlinformationen errichtet, die dazu dient, die gesellschaftliche Zustimmung zu sichern. Die dahinterstehenden Interessen nehmen dabei in Kauf, dass der Weltfrieden auf dem Spiel steht – mit potenziell katastrophalen Folgen.

Quellen:

https://www.amazon.com/Russias-Path-Gorbachev-Putin-Demise/dp/0415701465

https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=181348

Grand Deception: The Truth About Bill Browder, the

Hat die ukrainische Krise eine Lösung, und wenn ja, welche könnte es sein? Welcher Vorschlag käme von Mises?


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