16. März 2024 11:00

Ökonomie Ein Nobelpreisträger ändert seine Meinung

Über Freihandel und freie Migration

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)

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Bildquelle: Bengt Nyman / Wikimedia Britisch-US-amerikanischer Ökonom Sir Angus Deaton: Erhielt 2015 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften an der Princeton University

Der schottisch-amerikanische Ökonom Sir Angus Deaton wurde 2015 mit dem Nobel-Gedächtnispreis für Ökonomie ausgezeichnet. Er erhielt diesen prestigeträchtigen Preis für seine Arbeiten zu den Themen Konsum, Armut und Wohlfahrt. Wenn Angus Deaton etwas schreibt, wird es auch gelesen und eifrig kommentiert, insbesondere wenn er die eigene Profession kritisiert und wenn aus seinen Worten eine Kritik des Freihandels und der ungezügelten Marktmacht herauszulesen ist. Ja, Angus Deaton hat „seine Ökonomik“ noch einmal überdacht und ist zu überraschenden Erkenntnissen gelangt. Aus dem einstigen Befürworter des Freihandels ist ein Protektionist geworden. Vor Jahren sprach er sich auch für relativ freie Grenzen im Bereich der Migration aus. Auch das gehört nun der Vergangenheit an.  

In einem Beitrag, der diesen Monat beim Internationalen Währungsfonds erschien, schrieb er: „Ich bin sehr viel skeptischer, was die Vorteile des Freihandels für die amerikanischen Arbeitnehmer angeht, und ich bin sogar skeptisch gegenüber der Behauptung, die ich und andere in der Vergangenheit aufgestellt haben, dass die Globalisierung für den enormen Rückgang der weltweiten Armut in den letzten 30 Jahren verantwortlich war. Ich vertrete auch nicht mehr die Idee, dass der Schaden, den die Globalisierung den arbeitenden Amerikanern zufügt, ein angemessener Preis für die Verringerung der weltweiten Armut ist, weil es den Arbeitnehmern in Amerika so viel besser geht als den Armen in der Welt. Ich glaube, dass die Verringerung der Armut in Indien wenig mit dem Welthandel zu tun hatte und dass die Verringerung der Armut in China mit weniger Schaden für die Arbeitnehmer in den reichen Ländern hätte einhergehen können, wenn die chinesische Politik das Land veranlasst hätte, weniger von seinem Nationaleinkommen zu sparen, sodass ein größerer Teil des Produktionswachstums im Inland hätte absorbiert werden können.“

Und zum brisanten Thema der Migration schreibt er: „Früher war ich der nahezu einhelligen Meinung der Wirtschaftswissenschaftler, dass die Einwanderung in die USA eine gute Sache sei, mit großen Vorteilen für die Einwanderer und geringen oder gar keinen Kosten für die einheimischen gering qualifizierten Arbeitnehmer. Ich glaube das nicht mehr.“ In der historischen Langzeitperspektive stellt er fest, dass die „Ungleichheit hoch war, als Amerika offen war. Sie war viel geringer, als die Grenzen geschlossen wurden, und stieg nach Hart-Celler Gesetz (dem Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1965) wieder an, als der Anteil der im Ausland geborenen Menschen wieder auf das Niveau des Gilded Age [in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Sezessionskrieg] anstieg.“

Es gibt ohne Zweifel viel zu kritisieren an Sir Angus’ Äußerungen. Professor Donald Boudreaux von der George Mason University fragte zum Beispiel mit einigem Recht in einem offenen Brief an Deaton: „Ist Ihnen bewusst, dass die maximal geschätzte Zahl der Arbeitsplätze, die Amerika durch den sogenannten ‚China-Schock‘ verloren hat, nur einen winzigen Bruchteil der Zahl der Arbeitsplätze ausmacht, die in Amerika regelmäßig als Folge unserer dynamischen Marktwirtschaft vernichtet werden? Die überwiegende Mehrheit der Arbeitsplätze, die in rezessionsfreien Zeiten vernichtet werden, geht durch Innovation und veränderten Verbrauchergeschmack verloren.“ Dem kann man nur zustimmen. Freihandel an sich ist im Hinblick auf partiell verlorene Arbeitsplätze keinesfalls schlimmer als technologischer Fortschritt. Und beides hat, wie wir wissen, langfristig positive Wirkungen auf den allgemeinen Lebensstandard aller Bevölkerungsschichten. Will Sir Angus nun, wenn er schon gegen den Freihandel ist, etwa auch den technologischen Fortschritt ganz grundsätzlich verhindern? Vermutlich nicht.

Bei aller berechtigten Kritik einiger liberaler amerikanischer Kollegen geht aber ein Aspekt etwas unter, der mir sehr wichtig erscheint. Angus Deaton hinterfragt keine Idealkonzeption von Freihandel, wie man sie sich theoretisch denken kann. Er kritisiert vielmehr den internationalen Handel, wie er im Globalisierungsprozess der letzten Jahrzehnte tatsächlich stattgefunden hat. Und da muss man nun fragen: War dieser „Freihandel“ wirklich frei? Mitnichten. Wenn Angus Deaton dieses von Staatsinterventionismus durchwucherte Knäuel aus Handelsbeziehungen als „Freihandel“ bezeichnet, sollte man ihn für die Wortwahl kritisieren. Aber dass im Globalisierungsprozess, wie er tatsächlich stattgefunden hat, einiges schiefgelaufen ist, kann man erst einmal nüchtern zur Kenntnis nehmen. Dem kann nämlich fast jeder bedenkenlos zustimmen, unabhängig von der eigenen politischen Ideologie. Insbesondere die großen Ungleichgewichte im amerikanischen Außenhandel wären ohne staatlichen Interventionismus nicht denkbar. 

Was die Migration angeht, so trifft auch hier Angus Deaton einen wunden Punkt einiger Liberaler, die sich ganz vehement für offene Grenzen einsetzen. Aber gerade hier hat Deaton wirklich nichts Neues gesagt und auch nichts grundsätzlich Falsches. Bestimmte Formen der Einwanderung gehen selbstverständlich zulasten der einfachen arbeitenden Bevölkerung. Darauf haben liberale Ökonomen schon seit Langem hingewiesen. Gottfried Haberler etwa, bekannt für seine wichtigen Beiträge zur Außenhandelstheorie, hat genau deshalb für radikalen Freihandel mit eingeschränkter Migrationsfreiheit plädiert. Freie Migration würde nämlich mit zu großen Disruptionen im heimischen Arbeitsmarkt einhergehen. Und sie würde einige Bevölkerungsschichten weit über das ertragbare Maß belasten. Auch Milton Friedman hat darauf hingewiesen, dass offene Grenzen zumindest in Kombination mit einem offenen Sozialstaat problematisch sind.

Angus Deaton glaubt nun aber gerade, dass es in Amerika den Sozialstaat braucht, um die vielen sozialen Probleme zu lösen. Da mag er falschliegen, weil er ignoriert, dass der Sozialstaat selbst oft die Probleme vergrößert. So haben etwa Walter Williams, Thomas Sowell oder auch Charles Murray den Sozialstaat als Treiber des Zerfalls zivilgesellschaftlicher und kultureller Institutionen beschrieben, die traditionell vor einem Abdriften in Armut schützen. Insbesondere sei der Zerfall afroamerikanischer Familien durch den Sozialstaat vorangetrieben worden – noch stärker, als es bei weißen Familien der Fall sei. Dass Angus Deaton, der nun aber den Sozialstaat für nötig hält, auch gleichzeitig für restriktive Einwanderungspolitik plädiert, ist eher ein Zeichen geistiger Gesundheit als ein Grund zur Beunruhigung.        

Angus Deaton (2024): Rethinking my Economics

Don Boudreaux (2024): An Open Letter to Nobel-laureate Economist Angus Deaton


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