07. April 2024 00:00

Zweiter Verfassungszusatz Wer sind „the people“?

Streit um Waffenrecht für „Illegale“

von Thorsten Brückner

von Thorsten Brückner drucken

Artikelbild
Bildquelle: Stephanie Frey / Shutterstock Zweites Amendment für „the people“: Doch wer gehört zum Volk?

Das Zweite Amendment gilt unter bestimmten Umständen auch für Personen, die sich illegal in den Vereinigten Staaten aufhalten, urteilte Bundesrichterin Sharon Johnson Coleman aus Illinois. Und trat damit eine Lawine los. Vor allem unter Konservativen war der Aufschrei groß. Waffenrechtsaktivist John Lott kritisierte das Urteil „einer Obama-Richterin, die in kalkulierter Art und Weise versucht, Probleme für die Interpretation des Zweiten Amendment zu schaffen“. Die konservative Moderatorin Dana Loesch, die sich und ihre Familie sonst gerne auf Fotos bis an die Zähne bewaffnet zeigt, warf Coleman vor, „nichtsahnenden Unterstützern des Zweiten Verfassungszusatzes einen Köder hinzuwerfen, damit sie entweder offene Grenzen verteidigen oder für Waffenkontrolle eintreten“. Und Senator Marco Rubio glaubt, Coleman habe „sowohl die Waffengesetze verhöhnen wollen als auch das Verständnis des Wertes, ein amerikanischer Bürger zu sein“. Ich verstehe, dass viele Libertäre in konservativen US-Amerikanern oft so etwas wie Gleichgesinnte oder zumindest natürliche Verbündete sehen. Doch die Reaktionen auf das Coleman-Urteil machen einmal mehr deutlich, wie selektiv und inkonsequent viele US-Konservative für Freiheit eintreten. 

Dabei ist Colemans Richterspruch im Lichte der Rechtsprechung des für sie zuständigen 7. Bundesberufungsgerichts in Chicago völlig nachvollziehbar und keinesfalls so politisch aufgeladen, wie Konservative es der Welt glauben machen wollen. Denn als einziger der zwölf regionalen Bundesberufungsgerichte kam der in Chicago ansässige 7th Circuit of Appeals bereits vor vielen Jahren zu der Auffassung, dass auch illegale Einwanderer potenziell Teil von „the people“ sein können, denen die Bill of Rights (in der das Wort „Bürger" kein einziges Mal vorkommt) Rechte garantiert. Konkret urteilte das Gericht 2015 im Falle des mexikanischen Staatsbürgers Mariano Meza–Rodriguez, der als Vierjähriger „illegal“ mit seinen Eltern in die USA kam und 2013 unter anderem wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet wurde. 

Die Begründung des Gerichts kann man mit gesundem Menschenverstand bis zu einem bestimmten Punkt nachvollziehen. Die Richter machten unter anderem geltend, dass auch andere der ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung selbstverständlich auch für Nicht-Staatsbürger gelten. Niemand käme etwa auf die Idee, einem illegalen Einwanderer Meinungsfreiheit (1. Amendment) oder das Recht auf einen fairen Prozess abzusprechen (6. Amendment) oder gar zu argumentieren, nur amerikanische Bürger und Green-Card-Besitzer seien vor „grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung“ (8. Amendment) geschützt.

Folgerichtig beriefen sich die Richter auch auf frühere Urteile zum Vierten Verfassungszusatz, bei dem mehr oder weniger juristischer Konsens darüber besteht, dass der Schutz vor ungerechtfertigten Verhaftungen und Durchsuchungen zumindest auf dem Papier auch für viele Nichtstaatsbürger gelten muss, was in der Praxis natürlich ein Witz ist, da das Vierte Amendment (ebenso wie acht der weiteren neun Artikel der Bill of Rights) von der US-Regierung, auch gegenüber den eigenen Bürgern, täglich verletzt wird. Doch um nicht pauschal alle rund elf Millionen illegalen Einwanderer in den USA von einem Tag auf den anderen unter das Zweite Amendment fallen zu lassen, bediente sich das Gericht einer geschickten Interpretation. Nur solche illegalen Einwanderer, die über eine „ausreichende Beziehung“ zu den USA verfügen, seien Teil von „the people“. Zurück geht diese Position auf United States versus Verdugo-Urquidez von 1990. Und hier knüpft das Coleman-Urteil an.  

Denn eine „ausreichende Beziehung“ zu den USA hatte der in diesem Fall Beschuldigte Heriberto Carbajal-Flores zweifellos. Der 34 Jahre alte Schreiner ist mit einer US-Amerikanerin verheiratet und seine Kinder sind US-Staatsbürger. Zudem hatte Carbajal-Flores vor seiner Festnahme wegen des illegalen Besitzes einer Handfeuerwaffe eine weiße Weste. Die Waffe hatte er sich geliehen, um einen kleinen Reifenladen in einem mexikanischen Viertel vor Plünderern zu verteidigen. Amerikanischer geht es eigentlich gar nicht mehr. Sind das nicht genau die Leute, die uns der Zweite-Amendment-Fanklub sonst als Helden präsentiert? Zumindest, wenn sie weiß und angelsächsisch sind. 

Und auch darf man Coleman attestieren, dass sie die Vorgaben des Obersten Gerichtshofs aus Heller versus District of Columbia und NYSRPA versus Bruen ernst genommen hat. Denn in Heller hat die konservative Richtermehrheit 2008 unmissverständlich klargestellt, dass das Recht auf Waffenbesitz nicht nur ein Kollektivrecht (um eine Miliz zu formen), sondern vor allem ein Individualrecht sei. Und in Bruen forderte die Richtermehrheit, dass untere Gerichte bei Waffenrechtsfragen immer Präzedenzfälle aus der Gründerzeit berücksichtigen sollen. Genau das tat Coleman, indem sie auf Waffen tragende britische Loyalisten nach der Staatsgründung verwies. 

Doch für noch wichtiger halte ich in diesem Zusammenhang die Wortmeldung des amerikanischen Verfassungsrechtsexperten Adam Winkler von der University of California. Er merkte gegenüber dem „Economist“ an, dass das Konzept von illegaler Einwanderung zur Zeit der Staatsgründung überhaupt nicht existierte und „the people“ in der Bill of Rights daher alle Menschen umfasse, die sich auf dem Territorium der USA aufhalten. Dies war im Übrigen auch die Position von Supreme-Court-Richter William Brennan in seiner Minderheitenmeinung zu Verdugo-Urquidez. Das passt auch zu den Worten von Thomas Jefferson, der als oberstes Ziel des neu gegründeten Staates ein „rasches Bevölkerungswachstum“ ausgab, „das durch die Einwanderung von so vielen Ausländern wie möglich“ zu erreichen sei. Zudem ist es laut Winkler „klar, dass Einwanderer ohne Papiere ein Recht auf Meinungsfreiheit und freie Religionsausübung haben“, weswegen man „aus Gründen der Konsistenz annehmen könne, dass sie auch die Rechte aus dem Zweiten Verfassungszusatz geltend machen können“. 

Das klingt für mich auch viel logischer, als einer abgehobenen Richterkaste die Deutung darüber zu überlassen, wer im Einzelfall über eine „ausreichende Beziehung“ zum Land verfügt und deswegen weiterhin seine Freiheit genießen darf.  Dass „the people“ in der Praxis noch nie alle Bewohner des Landes gemeint hat, ist zwar richtig, aber sicher kein geeignetes Argument, um 230 Jahre später erneut bestimmte gesellschaftliche Gruppen kollektiv von Rechten auszuschließen.

Richterin Coleman hat dennoch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Denn Illinois ist so ziemlich das Gegenteil eines waffenfreundlichen Staates, in dem die Begründung aus Carbajal-Flores Sinn machen würde. In den meisten Bundesstaaten kann jeder, der über 21 Jahre und ohne Vorstrafen ist, zu Walmart gehen und sich dort eine Waffe kaufen – außer eben als illegaler Einwanderer. In Illinois hingegen darf überhaupt nur legal Waffen besitzen, wer sich von der Regierung zuvor eine Genehmigung abgeholt hat. 

Vielen ist gar nicht bewusst, wie weit die Debatte darüber, wer zu „the people“ gehört, eigentlich zurückgeht, gerade auch aufgehangen am Zweiten Zusatzartikel. Denn für Thomas Jefferson war das „jeder Mann, der fähig ist, Waffen zu tragen“, während der Autor der Bill of Rights, James Madison, darin „Bürger mit Waffen in ihren Händen“ sieht. Ich unterstelle sowohl Jefferson als auch Madison übrigens einen sehr präzisen Umgang mit Sprache, was für mich die synonyme Benutzung für „people“ und „citizens“ ausschließt. Jefferson und Madison gingen jedenfalls exakter mit Sprache um als viele spätere Bundesrichter, darunter selbst Antonin Scalia, der in Heller fast willkürlich mal von „Mitgliedern der politischen Gemeinschaft“, „Amerikanern“, „Bürgern“ und „gesetzestreuen Bürgern“ schrieb, denen die Rechte aus dem Zweiten Amendment zuteilwürden.

Früher oder später, das hat Clarence Thomas bereits angedeutet, werden sich Amerikas Oberste Richter mit der in Heller offen gelassenen Frage nach einem möglichen Recht auf Waffenbesitz für Nicht-Staatsbürger befassen müssen. Der bisher letzte große Supreme-Court-Fall dazu stammt meines Wissens aus dem Jahr 1914. Welche Antwort das Gericht darauf geben wird, ist noch völlig unklar. Und wie immer werden die Amerikaner dann in quasi religiöser Demut dem Urteilsspruch des Gerichts lauschen und Politiker werden betonen, dass, was immer geurteilt wurde, nun „law of the Land“ sei. Eine grundsätzliche Debatte über opferlose Verbrechen wie „illegale Einwanderung“, Drogenbesitz oder auch „illegaler Waffenbesitz“ wird in den USA wohl auch weiterhin nur in politischen Nischen stattfinden. Für mich ist es Ausdruck eines gestörten moralischen Kompasses, Menschen wegen solcher künstlich vom Staat geschaffener Delikte die Freiheit nehmen zu wollen. Es ist ganz sicher nicht libertär. Ganz egal, wie neun Richter in Amerikas Hauptstadt am Ende darüber denken. 

Erfreulich fand ich daher auch das Statement des Vizepräsidenten der Waffenrechtslobbygruppe „Gun Owners of America“, Erich Pratt. Das Urteil löse bei ihm und vielen Unterstützern des Zweiten Verfassungszusatzes „gemischte Gefühle“ aus, so Pratt. Denn obgleich illegale Einwanderer „ganz sicher nicht Teil von ‚the people‘“ seien, habe doch „jeder ein gottgegebenes Recht, sich gegen gewaltsame Übergriffe wie Vergewaltigung oder Mord zu verteidigen“.

Der 15. Dezember ist in den USA übrigens der Bill-of-Rights-Gedenktag. Eingeführt wurde der von Franklin Delano Roosevelt wenige Tage, nachdem man die Japaner 1941 das Feuer eröffnen ließ (und auf den Tag 150 Jahre nach der Ratifizierung der Verfassung durch den Bundesstaat Virginia). Und zwei Monate bevor ebendieser Präsident 100.000 US-Bürgern japanischer Abstammung mit einem Federstrich die Rechte entzog, die ihnen die Bill of Rights garantiert hatte. 


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.