12. April 2024 12:00

Weltliteratur Ideale und ihre materiellen Voraussetzungen

80 Jahre nach „The Road to Serfdom“ (Teil 15)

von Carlos A. Gebauer (Pausiert)

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Bildquelle: Alexey Smyshlyaev / Shutterstock Moderner Mensch: Zunehmend kälter und gleichgültiger

Es reicht nicht für ein gelingendes und gedeihliches Zusammenleben, wenn eine Gesellschaft nur politische Ideale formuliert. Sie muss sich deren Verwirklichung auch rein tatsächlich leisten können. Damit steht aber zentral die Frage im Raum, welche wirtschaftlichen Grundlagen technisch geschaffen – und kulturell erhalten – werden müssen, um die Realisierung der erstrebten politischen Zielvorstellungen zu ermöglichen. Kollidieren die ökonomischen Notwendigkeiten mit den politischen Wünschen, droht eine Abkehr von wirtschaftlicher Vernunft mittelbar zu einem gesellschaftspolitischen Desaster insgesamt zu werden.

Hayek erörtert, wie sich der gesellschaftliche Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine geistige Stimmungslage entwickelt hatte, für deren Bezeichnung er den Namen „Ökonomophobie“ vorschlägt: „Wir haben bereits gesehen, dass die ‚wirtschaftliche Umdeutung‘ vormals rein politischer Ideale – als da wären Freiheit, Gleichheit und Sicherheit – eine der Hauptforderungen von Menschen ist, die zur gleichen Zeit das Ende des wirtschaftlichen Denkens verkünden. Ebenso wenig lässt sich aber bezweifeln, dass Menschen sich heute in ihrem Denken und Handeln mehr als je zuvor von [zweifelhaften] wirtschaftlichen Lehren leiten lassen, nämlich von dem sorgsam genährten Glauben an die Irrationalität unseres Wirtschaftssystems, von falschen Behauptungen über einen ‚möglichen Güterüberfluss‘ oder von Pseudotheorien über die zwangsläufige Entwicklung zum Monopol. Unsere Generation wehrt sich bei alledem dagegen, wirtschaftliche Notwendigkeiten anzuerkennen. ‚Ökonomophobie‘ dürfte eine zutreffende Bezeichnung für diese Haltung sein.“

Auf den modernen Menschen der Industriegesellschaft wirke die Vorstellung ein, er werde von anonymen Kräften gesteuert, die er nicht erkennen und deswegen auch nicht beherrschen könne. Damit werde bei ihm die Sehnsucht erweckt, diese Kräfte unter Kontrolle zu bringen, um dadurch den aus ihnen resultierenden, unangenehm empfundenen Situationen ausweichen zu können. Die kräftezehrende Herausforderung der täglichen Anpassung an solche Wirkungszusammenhänge soll also am besten zum Fortfall gebracht werden. Solche Beseitigungsversuche aber ändern den Kontext der betreffenden Gesellschaft insgesamt grundlegend: „Gerade dadurch, dass die Menschen sich früher den unpersönlichen Kräften des Marktes unterworfen haben, ist die Entwicklung der Kultur möglich gewesen. Wenn wir uns hier unterordnen, tragen wir jeden Tag zur Errichtung eines Bauwerkes bei, das größer ist, als irgendjemand von uns insgesamt erfassen könnte.“ Die Illusion, es lasse sich ein gesamthaft geplanter gesellschaftlicher Bau dann ohne jedwede individuelle Anpassungsnöte gestalten, ist aber trügerisch: „Der Mann, der ängstlich darauf bedacht ist, sich von den Beschränkungen, die er heute empfindet, zu befreien, macht sich nicht klar, dass die neuen Beschränkungen, die an die Stelle der alten dann von dem Staat bewusst auferlegt werden müssen, sogar noch drückender sein werden.“ Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die bewusste Gestaltung einer gesamthaften Gesellschaftsmaschine durch mächtige Sozialingenieure nicht nur fremdbestimmende totalitäre Strukturen schaffe, sondern zwangsläufig auch die gewachsene Kultur der betreffenden Gemeinschaft vernichte und zuletzt sogar allen wirklichen Fortschritten hinderlich im Wege stehe.

Über den entscheidenden Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft insgesamt und den individuellen politischen Selbstverwirklichungspotenzialen aller Bürger formuliert Hayek: „Es steht außer Zweifel, dass das Schicksal unserer Kultur letzten Endes von der Lösung der wirtschaftlichen Probleme abhängt. Und man sollte sich dabei immer vor Augen halten, dass der wesentliche Faktor, der den Aufstieg des Totalitarismus auf dem europäischen Kontinent entscheidend geprägt hat, der Umstand einer plötzlich weithin enteigneten Mittelklasse war.“

Wie schon zuvor in seinen gesellschaftspolitischen Grundlegungen betont Hayek auch hier wieder die Sinnhaftigkeit einer gesellschaftlichen Existenzabsicherung für jeden Einzelnen, die indes nicht zu kontraproduktiven ökonomischen Verkrustungen führen dürfe: „Man sollte gewiss alles tun, um jedem Einzelnen ein einheitliches Existenzminimum zu sichern. Aber gleichzeitig sollten wir offen aussprechen, dass mit der Zusicherung eines solchen äußersten Minimums alle Ansprüche auf eine privilegierte Sicherheit in einer besonderen Klasse fallen müssen. Es darf also keiner Gruppe mehr erlaubt sein, im Interesse der Aufrechterhaltung ihres spezifischen Lebensstandards den Zuzug [anderer] in ihren Beruf zu verhindern.“ Eine moderne Demokratie könne es absehbar nicht überleben, wenn der allgemeine Lebensstandard spürbar gesenkt oder der wirtschaftliche Fortschritt längerfristig angehalten werde.

In welchem Ausmaß auch die kulturellen Standards in einer Gesellschaft (die sich aus der lange geübten Bewältigung von Unsicherheiten in der Gemeinschaft ergeben hatten) Grundlage rechtlicher und technischer Kooperation sind, werde deutlich, wenn diese Gewohnheiten plötzlich unbedeutsam werden: „Wir halten uns zwar in der Regel viel auf unser empfindlicher gewordenes soziales Gewissen zugute, aber es fragt sich, ob dies durch unser individuelles Verhalten im täglichen Leben gerechtfertigt ist. Auf der negativen Seite stellt unsere Generation mit ihrer Entrüstung über Ungerechtigkeiten in der bestehenden Gesellschaftsordnung wohl alle vorhergehenden Generationen in den Schatten. Aber wenn wir fragen, wie sich das auf unseren Standard für das Verhalten von Mensch zu Mensch ausgewirkt hat, muss die Antwort wohl anders lauten. Denn nur dann, wenn wir für unsere eigenen Interessen selber die Verantwortung übernehmen und zugleich die Freiheit haben, diese Interessen zu opfern [oder es nicht zu tun], hat unsere Entscheidung für einen bestimmten Verzicht einen sittlichen Wert. Wir haben demgegenüber kein Recht, auf Kosten anderer großzügig zu sein. Und selbst im Altruismus liegt keinerlei Verdienst, wenn er erzwungen wird.“

Die moralischen Auswirkungen einer – wie wir heute sagen würden: sozialstaatlichen – Gesellschaftsorganisation auf die moralische Befindlichkeit einer Gemeinschaft sind erheblich: „Es sind zwei grundverschiedene Dinge, ob man fordert, dass die Regierung wünschenswerte Zustände herstellt, oder ob man selbst willens ist, das zu tun, was man für richtig hält, auch wenn es unter Aufopferung der eigenen Wünsche oder sogar gegen eine feindselige öffentliche Meinung geschieht. Aus vielen Anzeichen gewinnt man den Eindruck, dass wir schlicht duldsamer gegen besondere Missstände geworden sind und sehr viel gleichgültiger gegen Ungerechtigkeiten im Einzelfall, seit wir unseren Blick auf ein ganz anderes System gerichtet haben, in dem ein Staat überall nach dem Rechten sieht. Die nur regelmäßige Abgeordnetenwahl, auf die das sittliche Entscheiden des Individuums immer mehr beschränkt wird, gibt keine Gelegenheit, seine eigenen Moralanschauungen auf die Probe zu stellen.“

Der Wandel im sittlichen Verhalten aller Individuen wirkt sich folgerichtig auch auf die moralischen Topoi aus, die im politischen Alltagsdialog angesprochen werden: „Gibt es [heute noch] einen populären Schriftsteller oder Redner, der es wagen würde, den Massen zu sagen, dass sie um eines ideellen Zieles willen nötigenfalls materielle Opfer bringen müssten? Ungerechtigkeiten gegen Einzelpersonen, die von der Regierung im Interesse einer Gruppe begangen werden, begegnen [heute] einer Gleichgültigkeit, die sich von Gefühllosigkeit kaum noch unterscheidet. Und die krassesten Verstöße gegen die elementarsten Menschenrechte wie die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungen finden immer häufiger Unterstützung sogar von angeblichen Liberalen. All dies zeigt, dass unser sittliches Empfinden sich eher abgestumpft als geschärft hat.“

Dass jeder Versuch, diese Entgleisungen und Verwerfungen auf sittlichem Gebiet mit allen ihren schädlichen Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik wieder einzuhegen, große Anstrengungen erfordert, sah Hayek mit großer Klarheit: „Wenn uns in dem ideologischen Krieg Erfolg beschieden sein soll und wir die anständig gesinnten Elemente in feindlichen Ländern für uns gewinnen wollen, müssen wir uns zuvorderst den Glauben an die traditionellen Werte, für die unser eigenes Land in der Vergangenheit einstand, wieder zu eigen machen. Und wir müssen den moralischen Mut haben, die Ideale, die unsere Feinde angreifen, mit aller Kraft zu verteidigen. Es kommt nicht auf die neuesten Verbesserungen unserer sozialen Einrichtungen an, sondern auf unseren unerschütterlichen Glauben an jene Traditionen, die England zu einem Land freier und aufrechter, duldsamer und unabhängiger Menschen gemacht haben.“

(wird fortgesetzt)


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