06. Juni 2024 06:00

EU-Superstaat „Europa-Feinde“ versus „Europa-Freunde“

Dezentralisierung als eigentlicher Schlüssel zur westlichen Entwicklung

von Olivier Kessler

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Bildquelle: nito / Shutterstock Brexit: Wurde nicht zur vielbeschworenen „Katastrophe“

Als die Briten am 23. Juni 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union votierten, war dies für die politischen Eliten und politischen Berichterstatter in den Medien ein Schock. Für sie war die „ever closer union“, also die immer weitergehende Umwandlung des europäischen Staatenbundes in einen europäischen Bundesstaat und die Vereinheitlichung der Regeln über die Länder hinweg, eine Art Naturgesetz. Was als wirtschaftliche Union begonnen hatte, in der die Bewegungsfreiheit von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital ermöglicht werden sollte, wurde im Laufe der Zeit immer deutlicher zu einer politischen Union, in der die wichtigen Entscheidungen zunehmend von einem EU-Superstaat, von den Vereinigten Staaten von Europa, getroffen werden.

Die politischen Eliten reagierten gereizt auf den Entscheid der Briten: Dieser sei „uneuropäisch“ und die Brexit-Befürworter seien „Europa-Feinde“. Diese Bezeichnung wurde verwendet, obwohl prominente Brexiteers betonten, dass sie weiterhin daran interessiert seien, mit der EU friedlich koexistieren und Handel betreiben zu wollen. Diverse EU-Vertreter warfen Großbritannien Rosinenpickerei vor. Es gehe nicht an, dass ein Land Zugang zum europäischen Markt habe, ohne entsprechende Verpflichtungen einzugehen.

Man wollte die Briten also für ihr politisches Unabhängigkeitsbestreben bestrafen und an ihnen ein Exempel statuieren, um aufzuzeigen, was anderen Ländern droht, wenn diese es ebenfalls wagten, dem EU-Superstaat den Rücken zu kehren. Philipp Bagus und Andreas Marquart kommentierten diese beleidigte Reaktion der EU wie folgt: „Die Situation ähnelt dem eines Geschwisterpaares, bei dem sich die Schwester entschließt, aus dem Hause ihres Bruders auszuziehen, weil dieser ihr immer neue und erdrückende Vorschriften auferlegt. Die Schwester möchte aber den Kontakt zu ihm und zu den anderen Familienmitgliedern aufrechterhalten. Sie möchte sich genauso innig mit ihm und ihren Nichten und Neffen austauschen wie zuvor. Ihr gefallen nur die bürokratischen Vorschriften nicht. Der erzürnte Bruder giftet zurück, das sei Rosinenpickerei. Wenn sie den Kontakt zu ihren Nichten und Neffen aufrechterhalten wolle, dann müsse sie sich schon reglementieren lassen und ihm einen Geldbetrag entrichten. Er verbietet seinen Kindern, mit ihrer Tante zu reden. Dass dieses infantile Verhalten zum Nachteil aller ist, liegt auf der Hand. Genauso schädigen Strafzölle und andere Barrieren für britische Waren die europäischen Konsumenten.“

Auch wenn der Brexit und andere EU-Austrittsbestrebungen gern als „uneuropäisch“ gebrandmarkt werden, ist diese Bezeichnung historisch schlicht und einfach falsch. Denn das, was Europa als Kontinent ausmachte und ihn für seine bessere Entwicklung verantwortlich zeichnete, war der verhältnismäßig bessere Schutz der individuellen Freiheit. Nirgendwo auf der Welt wurden Eigentumsrechte so gut geschützt wie hier. Dies war vor allem auf die politische Fragmentierung Europas zurückzuführen, wie auch der Soziologe Erich Weede festhielt: „Im Gegensatz vor allem zur chinesischen Geschichte gibt es in Europa seit Jahrhunderten ein System voneinander unabhängiger, gegeneinander zum Krieg fähiger und miteinander rivalisierender Fürstentümer, Königreiche oder Staaten. Die politische Zersplitterung Europas ist entscheidend für den relativ freiheitlichen Charakter Europas und dessen Aufstieg verantwortlich, während sich das politisch geeinte China langsamer entwickelte, obwohl es im Mittelalter noch wirtschaftlich und technologisch höher als Europa entwickelt war.“

Europa hat seinen Erfolg nicht einheitlichen Regeln und einer einheitlichen Regulierung zu verdanken, sondern gerade der Tatsache, dass die Macht nicht nur zwischen den Kleinstaaten, sondern auch zwischen politischen und religiösen Autoritäten zersplittert war. Zu diesem Schluss kam auch der Historiker Ralph Raico (1936–2016) in seinem Aufsatz „Das Europäische Wunder“: „Auch wenn geographische Faktoren eine Rolle spielten und obwohl Europa sich als eine einheitliche Zivilisation – die des römischen Christentums – konstituierte, stellt seine radikale Dezentralisierung den Schlüssel zur westlichen Entwicklung dar. Ganz im Gegenteil zu anderen Kulturen – insbesondere China, Indien und der islamischen Welt – war Europa ein System von geteilten und deswegen konkurrierenden Mächten und Rechtssystemen.“

Großreiche – wie sie zum Beispiel in Asien entstanden und noch bestehen – haben das Problem, dass politische Fehlentscheide getroffen werden können, ohne dass sie zunächst bemerkt werden, weil es keine Vergleichsinstanzen gibt, die es besser machen und damit als Vorbild fungieren könnten. In Großreichen gibt es folglich weniger Lernprozesse.

Auch ist in Großreichen die Abstimmung mit den Füßen stark erschwert, die den politischen Machthabern Beine machen würde. Weil das so ist, erlassen Politiker leichtsinnige hinderliche Regulierungen und greifen tiefer in die Portemonnaies der Steuerzahler, worunter die individuelle und unternehmerische Freiheit leiden und wodurch auch die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung und Innovation unterdrückt werden. Kurzum: Ohne politische Dezentralität würde Europa nicht da stehen, wo es heute steht.

Nichtsdestotrotz impliziert der Vorwurf an die Dezentralisten, sie seien „Europa-Skeptiker“ oder sogar „Europa-Feinde“, dass das Erfolgsrezept Europas gerade in einer starken Einheit liege – und dass Europa noch erfolgreicher werden könnte, wenn es sich zu einem politischen Superstaat weiterentwickeln würde. So heißt es immer wieder, die EU müsse noch mehr Kompetenzen an sich reißen, weil nur eine starke EU der übermächtigen Konkurrenz aus den USA und China Paroli bieten könne. Doch mit diesen Behauptungen verkennen die Zentralisten wesentliche historische Tatsachen.

Die EU in ihrer heutigen, immer zentralistischeren Form hat mit der Geschichte und dem Geist Europas so gut wie nichts mehr zu tun. Ein „Europa-Feind“ ist also nicht jener, der sich für politische Vielfalt auf dem Kontinent und ein Selbstbestimmungsrecht für die kleineren Einheiten ausspricht – ganz im Gegenteil! „Europa-Feinde“ sind die majestätisch entlöhnten EU-Funktionäre sowie jene politischen Kräfte, welche die Verschiebung von Kompetenzen und Macht nach Brüssel vorantreiben.

Der Brexit war aus liberaler Sicht insofern ein Hoffnungsschimmer. Es hat sich gezeigt, dass die Entwicklung hin zu einem immer mächtigeren EU-Bundesstaat nicht unaufhaltsam ist, auch wenn dies die politischen Eliten gerne so hätten. Zentralisierung ist folglich keine Einbahnstraße, selbst wenn das EU-Regelwerk ursprünglich ironischerweise keine Austrittsformalitäten festgelegt hatte und man völlig selbstverständlich davon ausging: „Einmal in der EU, immer in der EU!“ Doch dem ist glücklicherweise nicht so.

Wenn Ihnen also als Liberaler und überzeugtem Verfechter der Dezentralität wieder einmal das unschöne Etikett des „Europa-Feindes“ angeheftet wird, nur weil Sie die gefährliche Zentralisierungseuphorie nicht teilen, so geben Sie das Etikett gerne wieder unverändert an den Absender zurück. Sie haben alles Recht dazu.


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