Medien: Der Gell-Mann-Amnesie-Effekt
Schauen Sie über den Tellerrand!
von Sascha Koll
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Vielleicht haben Sie Folgendes schon einmal erlebt: Sie lesen einen Beitrag in der Zeitung oder im Netz, schauen eine Dokumentation oder einen Fernsehbeitrag, der Ihrem Fach- oder Interessenbereich entspringt, und Sie wundern sich über einfache fachliche Fehler bis hin zu hanebüchenem Unsinn, der Ihnen dort erzählt wird. Sie sind damit nicht allein. Bei mir sind es die Berichterstattung und die Pläne zur Energiewende, die mich als gelernter Elektroniker mit Erfahrung im Netzbetrieb regelmäßig die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lassen. Sowohl die „Experten“ als auch ihre Hofberichterstatter haben entweder überhaupt keine Ahnung, wie „der Strom in die Steckdose kommt“, oder sie lügen dreist, um politische Ziele zu erreichen. Anders lässt sich der publizierte Schwachsinn nicht erklären.
Ich möchte hier und heute aber nicht die Energiewende „zerstören“, sondern auf ein Phänomen aufmerksam machen. Denn häufig fallen einem zwar Fehler aus dem eigenen Fachbereich in der Berichterstattung auf, doch scheinen viele Menschen eine Art Schranke im Kopf zu haben, sobald es um fachfremde Themen geht. Einerseits ist es angebracht, die Klappe zu halten, wenn man keine Ahnung hat, andererseits verleitet es auch dazu, andere publizierte Meinungen nicht zu hinterfragen und damit nicht zu erkennen, dass auch diese stellenweise grob falsch sind. Doch was Sie in Ihrem Fachbereich feststellen, findet in praktisch jedem Bereich statt, der auch nur im Entferntesten mit der Politik verbandelt ist – und ich sage Ihnen: „Das Private ist politisch“ und damit „Alles ist politisch“ ist nicht nur eine linksradikale Phrase, sondern gelebte Praxis. Um mir zu widersprechen, bedarf es nur eines Beispiels, das nicht durch Politik oder durch die Politik gemachte Gesetze beeinflusst wird.
Mein Thema, zu dem ich sagen kann, dass hauptsächlich Nonsens erzählt wird, ist die Energiewende. Das Thema des von mir bereits in meiner Kolumne behandelten Youtube-Kanals „Geschichtsfenster“ ist das Mittelalter. Er zerreißt regelmäßig öffentlich-rechtliche Publikationen in der Luft und belegt seine Aussagen mit historischen Quellen. In „meiner“ Filterblase zerlegen Ökonomen und Praxeologen regelmäßig Beiträge über Wirtschaft in ihre Einzelteile. Dating-Coaches decken die Lügen des Feminismus auf und müssen Männern erklären, dass Frauen nicht auf weinerliche Waschlappen stehen, die ihren seelischen Ballast bei der Frau abladen, weil die Medien den „Fels in der Brandung“ für überholt halten. Biologen werden höchstwahrscheinlich über 69 Geschlechter lachen und Bitcoiner loben jeden einzelnen Beitrag, der nicht grob falsch ist, weil das eben eine Seltenheit darstellt.
Ich stelle häufig fest, dass Personen, die sich in einem Fachbereich besonders gut auskennen und Fehler in der Berichterstattung sehen und aufzeigen, nicht in der Lage sind, ihre eigene Erfahrung auf andere Fachbereiche zu übertragen. Sie scheinen zu glauben, dass ihr Fach eine besondere Ausnahme sei und Berichte aus anderen Fächern schon halbwegs korrekt sein würden. Sie schauen nicht über den Tellerrand hinaus und bemerken nicht, dass 90 Prozent politische Propaganda und der Rest schierer Unsinn sind.
Für dieses Phänomen gibt es einen Namen: „Gell-Mann-Amnesie-Effekt“. Der Autor und Filmemacher Michael Crichton, der unter anderem auch „Jurassic Park“ geschrieben hat, prägte diesen Begriff im Jahr 2002, nachdem er dieses Phänomen mit dem Physiker Murray Gell-Mann besprochen hatte. Crichton beschreibt den Effekt so: „Kurz gesagt, der Gell-Mann-Amnesie-Effekt verläuft wie folgt: Du öffnest die Zeitung und liest einen Artikel über ein Thema, das du gut kennst. In Murrays Fall ist es Physik, in meinem das Showbusiness. Du liest den Artikel und stellst fest, dass der Journalist absolut keine Ahnung von den Fakten oder den Zusammenhängen hat. Oft ist der Artikel so falsch, dass er die Geschichte tatsächlich umkehrt – Ursache und Wirkung vertauscht. Ich nenne diese Geschichten ‚Nasse Straßen verursachen Regen‘. Die Zeitung ist voll davon.
In jedem Fall liest du mit Verärgerung oder Belustigung die vielen Fehler in einer Geschichte und blätterst dann zur nationalen oder internationalen Politik, um so zu lesen, als ob der Rest der Zeitung irgendwie genauer über Palästina berichten würde als der Unsinn, den du gerade gelesen hast. Du blätterst um und vergisst, was du weißt.
Das ist der Gell-Mann-Amnesie-Effekt. Ich möchte darauf hinweisen, dass dieser Effekt in anderen Lebensbereichen nicht auftritt. Im normalen Leben, wenn jemand ständig übertreibt oder lügt, zweifelst du bald alles an, was er sagt. Vor Gericht gibt es die rechtliche Doktrin ‚falsus in uno, falsus in omnibus‘, was bedeutet, dass jemand, der in einem Teil unaufrichtig ist, in allen Teilen unaufrichtig ist. Aber wenn es um die Medien geht, glauben wir entgegen allen Beweisen, dass es wahrscheinlich wert ist, andere Teile der Zeitung zu lesen. Tatsächlich ist es das fast sicher nicht. Die einzige mögliche Erklärung für unser Verhalten ist Amnesie.“
Der Gell-Mann-Amnesie-Effekt ist ähnlich dem Erwin-Knoll-Gesetz der Medienzuverlässigkeit, das besagt: „Alles, was Sie in den Zeitungen lesen, ist absolut wahr, außer bei der seltenen Geschichte, von der Sie zufällig aus erster Hand Kenntnis haben.“ Knoll war US-Journalist und ist 1994 im Alter von 63 Jahren verstorben.
Ich denke nicht, dass Sie sich als Leser meiner Kolumne ertappt fühlen, dem Gell-Mann-Amnesie-Effekt aufgesessen zu sein, da Sie sich offenkundig auch abseits des medialen Hauptstroms informieren und sich eigene Gedanken machen, die Schlüssigkeit von Aussagen hinterfragen und Ihr Bestes geben, sich eine fundierte Meinung zu bilden, aber vielleicht kennen Sie jemanden, dem Sie diesen Beitrag einmal weiterleiten möchten, der verbissen davon ausgeht, dass alles, was in der Zeitung steht, toprecherchiert und nichts als die Wahrheit sei.
Der Gell-Mann-Amnesie-Effekt lässt sich übrigens auch bei Nutzern von KI-Chat-Bots wie ChatGPT feststellen. Dort löst nicht das Umblättern der Seite oder der Klick auf einen weiterführenden Link die Amnesie aus, sondern die Eingabe des nächsten Prompts.
Bitcoiner, die ohnehin fachübergreifend forschen und in jedes „Rabbit Hole“ hinabsteigen, das sich Ihnen offenbart, verwenden einen passenden Spruch: „Don’t trust, verify!“ Dieser gilt nicht bloß für die Transaktionen im Bitcoin-Netzwerk, sondern auch für jede Art von Information, die einem sonst zugetragen wird, denn die Wahrheit wird einem selten auf dem Silbertablett serviert.
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