29. Juni 2024 22:00

„Roadkill“ Von der Straße auf den Grill

Den Staat kann man nicht bestehlen

von Thorsten Brückner

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Bildquelle: KS-Medien / Shutterstock Wildunfälle sind häufig: In Deutschland gibt es eine Meldepflicht

Am 4. Juli ist in den USA Nationalfeiertag. Dazu gehört für viele amerikanische Familien auch untrennbar ein „4th of July“-Barbecue. Vorausgesetzt natürlich, sie können es sich leisten. Die Teuerung ist in den USA nämlich noch um einiges extremer als hier. Auch deswegen, aber mitunter auch einfach aus Ignoranz greifen viele Amerikaner oft zu Billigfleisch, das anders als in Europa in viel stärkerem Ausmaß genetisch modifiziert und mit Hormonen sowie Antibiotika belastet ist. Die Fleischqualität ist in Amerika überwiegend deutlich schlechter als in Europa. Und für gutes Fleisch vom Weiderind (was insgesamt nur vier Prozent der US-Fleischproduktion ausmacht) muss man mittlerweile tief in die Tasche greifen.

Doch in diesem Jahr hat ein Familienvater, der am 3. Juli von seiner Arbeitsstelle in Washington, D. C. ohne gesunde Proteinquelle für den Feiertag nach Hause fahren muss, mit ein wenig Glück vielleicht doch eine Chance auf ein opulentes Unabhängigkeits-Grillen. Zumindest, sobald er den Potomac in südwestliche Richtung überquert hat.

Denn am 1. Juli tritt in Virginia ein neues Gesetz in Kraft, wonach jeder, der ein verendetes Wildtier am Straßenrand findet, dieses behalten darf. Damit liberalisierte das Parlament in Richmond ein ohnehin schon im Vergleich etwa zu Deutschland ziemlich liberales Gesetz noch weiter. Denn schon bisher durfte ein Autofahrer, der in Virginia ein Wildtier selbst angefahren hat, dieses auch mitnehmen und verspeisen, allerdings nur während der Jagdsaison. 

Seit einigen Jahren explodiert die Zahl der Staaten regelrecht, die einen ähnlichen Weg wie Virginia gehen. In über 30 ist es ohne größere Einschränkungen legal, sogenanntes Roadkill in den Kofferraum zu packen und daheim auf den Grill zu werfen oder im Ofen zu braten. Nur in einem Bundesstaat – Texas – ist es explizit und ausnahmslos verboten. Zum Vergleich: 2016 erlaubten dies erst 17 Staaten. In Oregon votierte das Repräsentantenhaus sogar einstimmig dafür. Und selbst Tierschutzorganisationen heben den Daumen. „Wenn Menschen unbedingt glauben, Tiere essen zu müssen, dann ist Roadkill die überlegene Option“, schreibt Peta auf ihrer Seite. Anders als Supermarktfleisch sei Wild vom Straßenrand nicht mit Antibiotika oder Wachstumshormonen belastet. Außerdem sei es wesentlich humaner, da diese Tiere nicht kastriert oder enthornt würden und bis zuletzt ohne den Stress industrieller Tierhaltung in Freiheit lebten. 

Wer in Deutschland Wild anfährt und dann zum Verzehr nach Hause mitnimmt, steht dagegen mit einem Bein im Gefängnis. Bis zu drei Jahre, in schweren Fällen sogar fünf drohen wegen Wilderei. Begründet wird das dann immer wieder mit Eigentumsrechten. Das verstehe ich nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn ich auf einer privaten Straße ein Tier totfahre, gehört das dem Eigentümer. Das kann ich nachvollziehen. Aber mit welcher Begründung soll ein staatlich lizenzierter und beauftragter Jäger ein Tier, das auf einer öffentlichen Straße totgefahren wurde, mit nach Hause nehmen dürfen und nicht derjenige, der durch den Aufprall des Tieres immerhin auch den Schaden an seinem Fahrzeug hat? Auf deutschen Straßen sterben jedes Jahr über 200.000 Wildtiere. Kein Jäger kann so viel Fleisch selber essen und verkaufen darf er es nicht. Wie viel davon wird wohl einfach weggeworfen? Komisch, dass das hier niemanden zu stören scheint. Sind die Deutschen sonst nicht immer gegen Lebensmittelverschwendung? In Alaska wird angefahrenes Wild sogar an Obdachloseneinrichtungen und andere Bedürftige gespendet. Aber klar, wer im Überfluss und mit vollem Gefrierschrank lebt, der wird möglicherweise eine andere Risikobewertung vor dem Verzehr von Roadkill vornehmen als jemand, der seit Wochen kein Fleisch zwischen die Zähne bekommen hat. Der überparteiliche Konsens in Amerika zeigt auch, dass es hier nicht um links oder rechts geht. Vielmehr markiert der Umgang mit Unfallwild einen Mentalitätsunterschied zwischen Deutschland und der angelsächsischen Welt (und nicht nur den USA).

In den USA dominierten in der Vergangenheit vor allem zwei Argumente gegen die Freigabe. In Wyoming stemmte sich eine Regierungsbehörde jahrelang gegen die Liberalisierung mit der Begründung, Fleisch von verendeten Wildtieren sei nicht für den Verzehr geeignet und für den Menschen gefährlich. Am Ende setzten sich aber zum Glück diejenigen durch, die auf Eigenverantwortung setzen. Denn wer den Verzehr von Unfallwild aus Gründen des Gesundheitsschutzes pauschal verbieten will, müsste mit derselben Begründung eigentlich erst recht jede McDonald’s-Filiale schließen.

Und gerade in eher ländlichen Bundesstaaten wie Wyoming haben eben auch viele Menschen sehr viel Erfahrung mit Wild, sodass sie relativ gut einschätzen können, ob das Fleisch für den Verzehr geeignet ist. Oder zumindest kennen sie jemanden, der sich damit auskennt. Zudem gibt es im Internet auch Tausende Ratgeber dazu, auf was man alles achten muss: etwa kein Fleisch zu essen, nachdem die Totenstarre eingetreten ist, oder Tipps, wie man den Kadaver auf Parasiten überprüft und am Geruch erkennt, ob es sich um essbares Fleisch handelt. Ich habe manchmal auch das Gefühl, dass viele deutsche Jäger die Gefahr des Verzehrs von Unfallwild bewusst übertreiben, um ihre privilegierte Position zu rechtfertigen. Wenn man sieht, was Jäger im Gegensatz selbst zu Sportschützen alles legal an Waffen besitzen dürfen, auch solche, die sie nie zur Jagdausübung brauchen, dann weiß man, dass da eine starke, mit der Politik gut vernetzte Lobby im Hintergrund wirkt. Und wenn ich dann von Jägern in dem Zusammenhang höre, wie essenziell doch die Lebendschau des Tieres für den späteren Verzehr sei, kann ich nur schmunzeln. Also die Jäger, die ich so kenne, haben genug damit zu tun, überhaupt mal was zu treffen. Ich denke, dass man hier doch von einem sehr idealisierten Jägerbild ausgeht. 

Tatsächlich hört man aber in den USA immer wieder auch die Befürchtung, Autofahrer könnten absichtlich auf ein Tier draufhalten, in dem Wissen, damit nun legal ihren Gefrierschrank auffüllen zu können. Ich halte das für die Gedanken durchgeknallter Großstädter, die in ihren Carsharing-E-Autos durch die City fahren und keinen Bezug zu ihrem Fahrzeug haben. Wer, außer vielleicht ein paar besoffenen Redneck-Chaoten in Pick-up-Trucks würde denn für ein Stück Fleisch einen solchen Schaden an seinem Auto in Kauf nehmen? Von der Gefahr für Leib und Leben ganz zu schweigen. 

Ich selbst würde mir kein Tier, das ich zuvor angefahren habe, ins Auto laden. Und erst recht keines, das ich beim Vorbeifahren am Straßenrand entdecke. Weder verfüge ich über die nötigen Kenntnisse, was ich damit anfangen soll, noch wäre es mir den Aufwand wert. Allerdings bin ich auch in der privilegierten Position, dass ich mir daheim aus dem Gefrierschrank jedes Stück Fleisch nehmen kann, was mein Herz gerade begehrt. Dass es gesetzlich verboten ist, würde mich hingegen überhaupt nicht abschrecken. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass ein per definitionem herrenloses Wildtier, das ich auf einer öffentlichen Straße anfahre, mir gehört. Dem Staat gehört keine Straße, dem Staat gehört überhaupt nichts und deswegen kann man auch vom Staat nicht stehlen. Genau wie ich übrigens auch das Jagen zur Nahrungsbeschaffung für das natürliche Recht eines jeden Menschen halte, ganz egal, wie die Gesetzeslage gerade ist. Das ist in Deutschland ohne Jagdschein samt staatlicher Ausbildung, blütenweißem Führungszeugnis und ausreichender Grundstücksgrüße (75 Hektar!) noch nicht mal auf dem eigenen Grundstück möglich. In den USA ist es in vielen Bundesstaaten dagegen sogar selbstverständlich, dass man zum Jagen auf dem eigenen Grund und Boden keine Erlaubnis braucht.


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