12. Juli 2024 18:00

Konfliktherd in Europa Frieden für die Ukraine?

Viktor Orbáns Vermittlungsversuch

von Thomas Jahn

von Thomas Jahn drucken

Artikelbild
Bildquelle: paparazzza / Shutterstock Orbán Anfang Juli zu Besuch in Kiew: Anschließend traf er Putin

Seit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Ungarn hat Ministerpräsident Viktor Orbán mit seinen überraschenden Besuchen in Kiew, Moskau und Peking nicht nur diplomatisches Geschick bewiesen, sondern auch wieder Bewegung in die festgefahrenen Fronten des Ukraine-Kriegs gebracht. Binnen weniger Tage traf er den Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj, Wladimir Putin und danach den chinesischen Präsidenten Xi Jinping.

Orbáns Coup erklärt auch, warum ihn das linke Establishment seit Jahren verachtet und ihn und seine Regierung mit einer ganzen Reihe von Verleumdungen, Fake News und Negativ-Framing überzogen hat. Orbán ist einer der wenigen Realpolitiker mit hohem Intellekt und instinktsicherem Geschichtsbewusstsein. Deswegen überragt er die politischen Pygmäen, die die EU und ihre Mitgliedstaaten seit Jahren anführen, turmhoch. Der jahrelange Kampf gegen Orbán, der auch seit Jahren mit seinen Warnungen vor einer unkontrollierten Massenmigration richtiglag, ist auch mit der ideologiegeladenen westlichen Politik gegen die Wirklichkeit zu erklären, die die Autosuggestion, den zivilreligiösen rot-grünen Eifer und das zwanghafte Zeichensetzen zu einer infantilen politischen Kunstform erhoben hat. Inzwischen macht sich der Rest der Welt über den Zirkus lustig, den die EU-Politiker seit rund 30 Jahren aufführen und der leider auch eine der Ursachen des aktuellen Krieges in der Ukraine ist.

1991 gab das komplexe, aber eigentlich funktionierende Konzert der europäischen Mächte seine Abschiedsvorstellung, als das frisch vereinigte Deutschland, unterstützt durch Österreich, den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien durch eine schnelle diplomatische Anerkennung zur Unabhängigkeit verhalf. Die darauf reflexhaft folgenden antideutschen und antiösterreichischen Reaktionen Frankreichs, Italiens und Großbritanniens erinnerten damals nicht nur an die Frontstellungen des Ersten Weltkriegs, sondern lähmten die Handlungsfähigkeit der einzig infrage kommenden regionalen Ordnungsmächte, allen voran Deutschlands, und ermunterten die serbischen Aggressoren, den bis dahin blutigsten Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs vom Zaun zu brechen. Der Jugoslawienkonflikt eskalierte und konnte endgültig erst 1999 durch das Eingreifen der USA beendet werden. EU-Europa war damals wie heute unfähig, Sicherheit, Konfliktprävention und Konfliktlösung in seinem eigenen Hinterhof zu gewährleisten. Orbán weiß daher, dass auch der Ukraine-Krieg eine Folge des geopolitischen Missmanagements in Europa ist, das durch die Fehlkonstruktionen innerhalb der EU begünstigt wurde. In seinem Interview, das er dem Chefredakteur der „Weltwoche“, Roger Köppel, bei seinem Rückflug von Moskau gab, kritisierte er die Kleinmütigkeit und Inkompetenz der EU-Bürokraten und plädierte stattdessen für eine Rückkehr zur klassischen Außen- und Sicherheitspolitik: „Frieden kann nicht von Bürokraten bewerkstelligt werden.“

Die ehrliche Antwort auf die Frage, warum es 1993 zum Abschluss des Vertrages von Maastricht, zur anschließenden Einführung des Euros und zur Etablierung einer zentralistisch-bürokratistischen Umverteilungs- und Schuldenunion unter der Führung der romanischen Staaten kam, ist die jahrhundertelange Zwangsneurose, jede Art von Hegemonie und jeden Aufstieg eines erfolgreichen Neulings unter den europäischen Mächten mit allen Mitteln zu verhindern. Die heutige EU ist primär die Antwort auf eine Wiedergeburt eines großen deutschen Nationalstaats, der vor allem die zweimaligen Weltkriegsgewinner Frankreich und Großbritannien in den Schatten gestellt hätte. Resultat dieser „unnatürlichen Einhegung“ Deutschlands ist die Entstehung eines geopolitischen Vakuums in einer mittel- und osteuropäischen Zone, die zwar dem sowjetischen Joch entkommen war, seitdem aber ohne klare Sicherheitsperspektiven zurückblieb, was vor allem für jene Staaten gilt, die sich wie die Ukraine keinem neuen Bündnis anschließen konnten oder wollten. Auch für die politischen Eliten Deutschlands war eine aktive geopolitische Rolle als neue Regionalmacht in Mittel- und Osteuropa allein aus Gründen der deutschen Staatsdoktrin des „Nie wieder“ undenkbar.

Russland wiederum war mindestens 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wirtschaftlich und militärisch zu schwach, um über ehemalige Teilrepubliken wie die Ukraine eine Hegemonie ausüben zu können. Interessant ist, dass Russland ähnliche Phantomschmerzen zu plagen scheinen wie die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien. Allen drei Mächten ist gemein, dass sie sich im Abstieg befinden, Russland seit 1991 und die ehemalige „Entente“ spätestens seit ihrer Niederlage bei Dünkirchen 1940 und der Selbsttäuschung, den Zweiten Weltkrieg aus eigener Kraft gewonnen zu haben. Alle drei genannten Staaten betrauern insgeheim immer noch den Verlust ihres Kolonialreichs und damit ihrer Weltgeltung. Mächte, deren Zeit abgelaufen ist, neigen zu irrationalen Aktionen. Auch Russland hat seine Kräfte überschätzt. Der Blitzkriegsplan scheiterte und mündete in einem endlos scheinenden schrecklichen Stellungskrieg mit inzwischen Hunderttausenden Toten. Damit scheiterte auch der Plan der beiden eng verbundenen Alliierten, Peking und Moskau, dem westlichen Block als Gegengewicht einen neuen östlichen Block entgegenzusetzen und damit auch für aufstrebende Mächte wie Indien und Brasilien oder Länder in Nahost attraktiv zu wirken.

Gescheitert ist auch der Plan der einstigen Weltkriegsgewinner Frankreich, Großbritannien und den USA, ohne die Gleichberechtigung Deutschlands oder deren natürliche Partnerstaaten wie Österreich und Ungarn zu akzeptieren, über Institutionen wie die EU und die US-dominierte Nato eine Ordnungsrolle in einer Region auszuüben, für die sich eine übergroße Mehrheit der Wähler in den genannten Ländern in keinster Weise interessiert. Donald Trump befeuert den aktuellen Wahlkampf um die US-Präsidentschaft deswegen auch erneut mit der Parole „America first“, weil er weiß, dass der Großteil der amerikanischen Wähler meint, die Europäer sollten ihre Probleme 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs endlich selbst lösen.

Orbán hat erkannt, dass sich beide Seiten verkalkuliert haben. Peking muss mäßigend auf Moskau einwirken und Putin klarmachen, dass er als beste Option nur eine Gesichtswahrung und die Sicherung des Status quo von 2014 erreichen kann. Die EU muss ihre Pläne aufgeben, die Ukraine aufzunehmen und die Integration des ohnehin schon höchst dysfunktionalen EU-Gebildes auch noch zu vertiefen. Eine neue Sicherheitszone in Mittel- und Osteuropa ist möglich, wenn das Kapitel des Zweiten Weltkriegs endlich abgeschlossen und die Resultate dieses Krieges, der eigentlich nur zwei Gegner kannte, akzeptiert werden würden. Der alleinige Sieger war Washington, von dessen militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung nicht nur Großbritannien und das damals nicht existente, da besetzte Frankreich abhingen, sondern auch die Sowjetunion, die ohne die immensen Lieferungen an Waffen und Material mit ihrer Armee niemals bis nach Berlin gekommen wäre. Der alleinige Verlierer war Deutschland, der allerdings anders als geplant weder wirtschaftlich noch geopolitisch ausgelöscht werden konnte und daher als Sicherheitsfaktor zwischen Rhein und Don theoretisch zur Verfügung stünde. Theoretisch wohlgemerkt, denn weder inner- noch außerhalb der Bundesrepublik besteht die Bereitschaft, die nach 1945 und nach 1990 gemachen Fehler einzugestehen. Vielleicht kann die von Viktor Orbán ausgelöste diplomatische Offerte Anstoß sein für eine umfassende Lösung des europäischen Konfliktherds und für eine Rückkehr zur außenpolitischen Vernunft.  


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.