19. Juli 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 7 Das Prinzip der Leidensverhütung

Der Buddhismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: godongphoto / Shutterstock Siddharta Gautama: Erlebte unter einer Pappelfeige sitzend das „Erwachen“ und wurde damit zum Buddha

Buddha: sechstes, fünftes, viertes Jahrhundert vor Christus? Ist das wichtig? Wem es wichtig ist, der soll sich darum kümmern. Als die Frau des indischen Prinzen Siddhartha Gautama fühlte, dass ihr Mann aufbrechen wollte, richtete sie ihm seine Kleidung, worauf er mit 29 Jahren loszog. Das Verlassen der Familie ist ein gängiges Bild der Religionsgründer. Doch beim Buddha wird es auch problematisiert. Denn als ein Mann zu ihm kam, der seine Familie, sein Dorf, seine Heimat und die Götter seiner Ahnen verlassen hatte, um bei ihm Erleuchtung zu finden, sagte er zu ihm: Kehre zu deiner Familie, zu deinem Dorf, zu deiner Heimat und zu den Göttern deiner Ahnen zurück und du wirst Erleuchtung finden.

Zunächst schloss sich Siddhartha Asketen an, lernte bei ihnen die Meditation, doch mit 35 Jahren „erwachte“ er und wurde zum Buddha. Seine Lehre haben Anhänger rund fünfhundert Jahre rein mündlich tradiert, bevor sie aufgeschrieben wurde. Wenn man die Zeitspanne zwischen der Lehre Jesu und dessen schriftlicher Fixierung von einigen Jahrzehnten „lang“ findet, was soll dann zu derjenigen im Fall Buddhas gesagt werden?

Wie die chinesische Philosophie mit Laotse (Teil 2 der Serie) und die abendländische Philosophie mit Sokrates (Teil 1 der Serie) beginnt die indische Philosophie mit einer Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse. Buddha verweigerte sich der Teilhabe an der Herrschaft, indem er seine vorgezeichnete Karriere ablegte; zugleich verweigerte er sich der asketischen Subkultur, die er der Heuchelei zieh. In seinen Predigten wandte er sich an alle Gesellschaftsschichten und negierte damit das Kastensystem, ja, er lud Frauen ein, sich ihm anzuschließen, und gründete sogar einen Frauenorden.

Die Lehre des Buddhas kreist um die Frage der Verminderung von Leiden. Alles Dasein ist der ständigen Veränderung unterworfen, und diese Veränderung wird als Leiden erlebt. Die naheliegende Schlussfolgerung lautet, dass das Nichtsein vom Leiden erlöse. Das Nichtsein muss das Ziel des Daseins sein, wenn wir es unter dem Gesichtspunkt der Leidensverminderung betrachten. Die abendländische Philosophie hatte immer und lange Zeit umgekehrt auf ein wesentliches, unveränderliches Dasein geschlossen, das der Vergänglichkeit entgegengesetzt wurde. Ob das ein wesentlich anderer Gesichtspunkt ist, bleibt zu überlegen. Das Prinzip der Leidensverminderung verbot dem Buddha auch den Weg sowohl der Askese als auch den noch radikaleren Weg des Suizids: Dies sind Wege der Intensivierung des Leids. Auf der anderen Seite führen solche Bedürfnisse, Begierden und Leidenschaften zu Leiden, die sich entweder auf das Unerreichbare richten oder einen Kreislauf des Immer-mehr-Wollens in Gang setzen. Das hat seine Entsprechung ebenso in der abendländischen antiken Philosophie: die Diskussion über den Umgang mit den Bedürfnissen und die aristotelische Antwort des mittleren Wegs (Aristoteles wird in Teil 8 dieser Serie besprochen werden).

Die Lehre von der Verminderung des Leids (und des letztlichen Ziels, das Nichtsein ohne Leid zu erreichen) richtet sich zunächst an das Individuum. Sie fordert das Individuum auf, weder sich selber noch irgendwelchen anderen Lebewesen Leid zuzufügen, sondern vielmehr so viel Leid wie möglich abzuwenden. Die Leidverminderung als Prinzip ist nicht auf den Menschen begrenzt, sondern erstreckt sich auf alle Lebewesen. Doch lässt sich sofort erkennen, dass eine notwendige Konsequenz dieses Prinzips ist, keine Ämter auszuüben, in denen man anderen Menschen (oder sonstigen Lebewesen) Leid zufügt. Wie kann man als Buddhist Soldat sein? Wie kann man als Buddhist ein politisches Amt ausüben, in dem man Menschen Dinge wegnimmt, ihnen Vorschriften macht oder sie für Fehlverhalten einsperrt oder gar tötet? Auf ganz anderem Hintergrund als Laotse war eine politische Zurückhaltung auch im Buddhismus bereits im Anfang eingeschrieben. Und es ist nur zu gut verständlich, dass der Buddhismus, als er erst im dritten Jahrhundert nach Christus, also rund siebenhundert Jahre nach seiner Entstehung, in China Eingang fand, von den dortigen Übersetzern als eine merkwürdige Abart des Daoismus angesehen wurde. Durch diese Vermischung entstand der Zen-Buddhismus (das Zen ist aus der lautlichen Verballhornung des Wortes Dao entstanden).

Während der Daoismus in Europa frühestens in der Aufklärung rezipiert worden sein kann, ist das beim Buddhismus anders. Alexander der Große geriet bei seinem Asienfeldzug in direkte Berührung mit buddhistischen Gebieten. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Jesus Christus einem wie auch immer indirekten Einfluss des Buddhismus ausgesetzt gewesen war. Und ebenso gibt es Hinweise, dass der persische Philosoph Avicenna (Teil 12 der Serie) einen buddhistischen Vater hatte.

Anders als der Daoismus ist der Buddhismus trotz allem nicht gänzlich von Abstinenz der Teilnahme an der politischen Herrschaft gekennzeichnet. Der erste Herrscher, der sich zum Buddhismus bekannte, war Ashoka (gestorben 232 vor Christus). Nachdem er ein Riesenreich mit unvorstellbarer Brutalität erobert hatte (das nach seinem Tod schnell zerfiel), bekehrte er sich auf dem Feld seiner letzten Schlacht zum Buddhismus und verkündete von nun an Frieden mit aller Welt. Allerdings hat er den eroberten Völkern nicht die Freiheit zurückgegeben. Zwar duldete er die hinduistische Mehrheitsreligion (was sollte er auch anderes tun?), aber religiöse Minderheiten wurden verfolgt. Er veranstaltete Konzilien, um eine einheitliche buddhistische Lehre zu konstituieren, so wie das im Christentum dann einige Jahrhunderte später, wenn auch vergebens, ebenfalls versucht wurde. Die Menschen lassen sich nicht auf ein Fingerschnippen von Herrschern oder Konzilien hin vereinheitlichen. Die buddhistische Geschichtsschreibung verklärt Ashoka zu einem Heiligen. Und die Transformation eines zu jeder Bluttat bereiten Herrschers in einen friedliebenden Fürsten ist vielleicht tatsächlich ein bemerkenswerter Vorgang. Doch so ganz überzeugend ist die Erfolgsgeschichte nicht.

In Tibet hat sich der Buddhismus mit einem feudalistischen System verbunden, das nicht weltbewegenden Unrechtstaten beschuldigt werden kann, aber alles andere als menschenfreundlich war. Nur die Okkupation durch Maos revolutionäre Volksrepublik China vernebelt eine adäquate Aufarbeitung dieser Geschichte. Weit unangenehmer für den Buddhismus ist die Tatsache, dass japanische Kamikaze-Flieger vor ihrem Selbstmordeinsatz in buddhistischen Klöstern auf ihn vorbereitet wurden. Ein buddhistischer Mönch kann sich sicherlich auf das Prinzip der Leidensverminderung berufen, wenn er einem todgeweihten Piloten in seinen letzten Stunden zur Seite steht. Aber was ist mit den Menschen, die dieser Pilot mit in den Tod zieht, mit den Angehörigen dieser Toten?

Zu Recht kann man, wie Richard Dawkins es tut, der Religion ganz allgemein vorwerfen, sich jedweden Herrschaftsformationen angedient zu haben. Freilich sieht die Bilanz des Atheismus (zu dem Dawkins sich bekennt) nicht besser aus. Auch die Philosophen, die sich doch etwas darauf zugutehalten, dass sie rational und nüchtern nach den Gründen und Bedingungen fragen, dass sie jede Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt untersuchen und dass sie keinen vorschnellen Entscheidungen zustimmen, haben oft der Verführungskraft der Herrschaft bemerkenswert wenig Widerstand entgegengesetzt.

Die Verführungskraft der Herrschaft lautet an jeden, der eine Meinung hat: Hier, nimm mich in die Hand, und du kannst durchsetzen, was du für richtig und wahr hältst, ohne den mühsamen Umweg gehen zu müssen, deine Mitmenschen von deiner Meinung zu überzeugen. Die Philosophen sollten vor dieser Verführung gefeit sein, weil es ihnen um die Argumente zu gehen hat, die überzeugen. Doch zu oft genügte es ihnen, dass sie sich selber überzeugt hatten und dann sauer auf all diejenigen waren (sind), die ihnen nicht sofort zustimm(t)en. Kann das etwas anderes sein als Verstocktheit? An dieser Stelle werden Philosophen zu Religiösen. Sie müssen wieder zu Philosophen werden, genau wie die Religiösen begreifen müssen, dass sie mit Gewalt den Glauben zerstören – denn eine Zustimmung aufgrund von Gewalteinwirkung ist keine.


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