26. Juli 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 8 Aristoteles: Bodenständige Philosophie

Konservative Logik

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Picryl „Die Schule von Athen“: Fresko von Raffael, angefertigt von 1510 bis 1511

Anfang des 16. Jahrhunderts malte der italienische Renaissance-Maler Raffael „Die Schule von Athen“. Im Zentrum stehen Platon (Teil 3 dieser Serie) und Aristoteles (384–322 vor Christus). Mit ihren Gesten vermochte es der Meister, beider Philosophie in ihrer Gegensätzlichkeit einzufangen: Platon zeigt mit dem Finger gen Himmel. Er konstruierte die Wirklichkeit als Abklatsch der von oben herabkommenden reinen Ideen. Dagegen weist Aristoteles mit der flachen Hand gen Boden. Er bedeutet seinem Lehrer damit, er solle auf dem Boden bleiben, auf dem Boden der Tatsachen, auf dem Boden des Seins.

Allerdings brauchte es fast anderthalbtausend Jahre, bis die Genialität des Aristoteles und seine Ebenbürtigkeit mit Platon Anerkennung erhielten. Anders als die Schüler Platons, bemühten sich diejenigen von Aristoteles kaum um eine systematische Erhaltung, Aufarbeitung und Weiterführung seiner Werke und veranstalteten auch keinen Kult um ihn wie Platons Schüler. Obwohl es Aristoteles wichtig war, einen klaren Gegensatz zu Platon, seinem Lehrer, aufzuzeigen, waren es vielfach Platoniker, die sich um das aristotelische Werk verdient machten, weil sie die Logik des Aristoteles in den Platonismus integrierten. Die Überlieferung der Werke ist zum Teil bruchstückhaft. Sie geht auf eine Edition zweihundert Jahre nach dem Tod des Aristoteles zurück, wobei der Editor vermutlich eigenmächtige Zusammenstellungen vornahm. Diese Edition berücksichtigte nur die „esoterischen“ (für den schulinternen Unterricht bestimmte), nicht die „exoterischen“ (für die Öffentlichkeit bestimmte) Werke. Die exoterischen Werke waren in der klassischen römischen Zeit noch bekannt, sind aber inzwischen vermutlich für immer verloren.

Den beiden bis zu seiner Zeit die Philosophie bezeichnenden Themen Logik (Was ist Wahrheit?) und Ethik (Was ist richtig?) fügte Aristoteles noch ein drittes Thema hinzu: Naturwissenschaft. Damit war er freilich seiner Zeit um Längen voraus und die Menschheit brauchte viele Hundert Jahre, bis sie diesen Strang des Aristotelismus weiterführen wollte. Welches Thema auch immer Aristoteles anpackte, er folgte einer genialen Methode: Zuerst kommt die Beobachtung, dann die Sammlung des Beobachteten und schließlich die systematische Auswertung der Beobachtungen. Der Philosoph macht die Wirklichkeit nicht, er setzt keine Ideen, sondern er schaut sich um, befragt die Wirklichkeit und die Menschen, die die Wirklichkeit zwar nicht in ihrer Gesamtheit richtig erfassen, aber doch Bruchstücke davon in Händen halten. Damit knüpfte er auf eine systematische Weise enger an das Vorgehen von Sokrates an, als es Platon mit seiner Ideenlehre getan hatte.

Bei seinen naturwissenschaftlichen Forschungen sind Aristoteles einige Fehler unterlaufen, die zum Teil bis heute Anlass zum Spott zu geben scheinen, so etwa seine vierbeinige Eintagsfliege oder die Behauptung, Frauen hätten weniger Zähne als Männer. Der Spott ist unangebracht. Hier war einer, der zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte nicht nur das systematische Beobachten, sondern sogar Experimente wie das Sezieren einsetzte, um Erkenntnisse zu gewinnen. Viel interessanter als die Irrtümer ist etwa, dass man aufgrund seiner Beschreibungen Tierarten exakt identifizieren kann – so präzise sind sie. An einem Beispiel will ich die naturwissenschaftliche Genialität des Aristoteles aufzeigen. Bei der Analyse der Sinnesorgane stieß er darauf, dass jede Wahrnehmung ein Kontaktprozess ist, in der Grundform das Tasten und das Schmecken. Wie ist das bei den übrigen Sinneswahrnehmungen, Riechen, Hören und vor allem Sehen? Irgendetwas müsse, so folgerte Aristoteles, von dem wahrgenommenen Objekt ausgehen und auf das Wahrnehmungsorgan treffen, nicht direkt wie beim Tasten und Schmecken, sondern indirekt über ein Dazwischen (in der lateinischen Übersetzung wurde daraus das „Medium“). Beim Riechen und beim Hören kann man dies noch sinnlich wahrnehmen. Die Schallwellen, die vom tonerzeugenden Objekt ausgehen, sind körperlich fühlbar. Beim Sehen ist das nicht der Fall. Ohne die Wellentheorie des Lichts kennen, geschweige denn beweisen zu können, hat Aristoteles sie postuliert: Etwas geht von dem gesehenen Objekt aus und trifft via das Medium auf das Auge. Nur so ist Sehen möglich, nur so ist es erklärbar.

Und nun ein Beispiel der aristotelischen Methode in der Sozialphilosophie. Bei der Ethik geht es (in der Tradition des Sokrates) um das Gute im Leben und das Richtige im Tun. Zunächst sammelte Aristoteles das, was „die Menschen“ (naja, also seine griechischen Mitmenschen) unter einem guten Leben verstehen, er sammelte ihre unterschiedlichen, verschiedenen und auch gegensätzlichen Ansichten über das gute Leben. Danach fragte er nach einem möglichen gemeinsamen Nenner unter diesen Ansichten, um das herauszuarbeiten, was die Frage nach dem Guten und Richtigen beantwortet. Zwar ging es Aristoteles hierbei nicht um ein relativistisches Nebeneinander- oder gar Gleichstellen aller Meinungen, dennoch zeigt sich an dieser Stelle auch ein Schwachpunkt der aristotelischen Methode: Sie verfügt über wenig Widerstandskraft gegenüber politischen Gegebenheiten. Radikale utopische Konstruktionen wie Platons Staat als Tugendtyrannei der Philosophenherrscher liegen ihr fern, und das ist ihr als großer Pluspunkt anzurechnen, aber dem, was zurzeit die herrschenden Umstände sind, hat sie nur wenig entgegenzusetzen.

Das lässt sich gut daran ablesen, wie Aristoteles die Behandlung der Sklavenfrage angegangen ist. Als Einstieg definiert er wertfrei (und überzeitlich richtig) den Sklaven als jemanden, der sich nicht selber gehöre. Dann fragt er danach, ob es von Geburt an zur Sklaverei bestimmte Menschen gibt – nicht als rechtspositivistische Frage, ob es faktisch so sei, sondern als Frage, ob es denn recht sei. Dies lässt immerhin eine Infragestellung des Status quo als Denkmöglichkeit zu, und das ist besser als nichts. Doch schließlich beugt er sich dem Zeitgeist, bejaht seine Frage und meint, es gebe von Geburt an ihrer Natur nach (nicht nur ihrer Rechtsposition nach) zur Sklaverei bestimmte Menschen.

Von praktischer Politik hat Aristoteles sich ferngehalten, obwohl er ein eifriger Sammler verschiedenster Verfassungen war und die vielleicht beste Übersicht über sie hatte, die aus der Antike überliefert ist. Allerdings war seine Stellung als Nicht-Athener (sein Geburtsort ist Stageira) in Athen durchaus heikel. Seine Familie unterhielt enge Verbindungen zum mazedonischen Hof, und als der Vater von Alexander dem Großen mit den Eroberungen griechischer Städte begann, kam es zu einer antimazedonischen Stimmung. Aristoteles verließ Athen; allerdings nicht nur aus diesem Grund. Nach Platons Tod übernahm jemand anderes als Aristoteles die Leitung der Schule, was ebenfalls ein Grund für seine Entscheidung gewesen sein könnte. Nachdem sich die Wogen in Athen geglättet hatten, kehrte Aristoteles nach Athen zurück. Kurz vor seinem Tod musste er die Stadt aber wiederum verlassen, da er diesmal unmittelbar bedroht war. Er ging, der Legende nach, damit die Athener sich nicht erneut an einem Philosophen vergriffen – das Schicksal von Sokrates hatte sich als Trauma tief in das Gedächtnis der Philosophenzunft eingeschrieben.

Im ersten Exil wurde Aristoteles für einige Jahre der Lehrer des halbwüchsigen Alexanders. Dessen Ansichten waren vermutlich schon stark ausgeprägt, und es ist kein direkter Einfluss seines Lehrers auf ihn zu erkennen. Eine verlässliche Überlieferung, wie Aristoteles zu Alexander als mazedonischem Herrscher und Eroberer stand, gibt es nicht. Hat er sich für die aktuellen politisch-militärischen Ereignisse nicht interessiert? Hat er sie nicht beurteilt? Hat er Alexander bewundert oder kritisiert? Die Nachwelt konnte sich kaum vorstellen, dass Alexanders Agieren auf die Zustimmung seines Lehrers gestoßen sei; so wenig, dass sogar die Legende entstand, Aristoteles habe ein Gift gemischt, um Alexander zu töten. Eine andere Legende erzählt, dass ein von Alexander gefangener und zur Rede gestellter Seeräuber ihm geantwortet habe, er tue das gleiche wie der Potentat, nur in kleinerem Maßstab. Eine Logik, die einem Seeräuber vielleicht weniger zuzutrauen ist als Aristoteles.

Bereits in der Antike gab es eine Hochachtung vor der Logik des Aristoteles. Er entwickelte die Logik aufgrund der gleichen Methode wie seine übrigen philosophischen Werke, indem er genau beobachtete, wie das logische Schlussfolgern vor sich geht, und es systematisierte. Seitdem ist es die unhintergehbare Grundlage jedes ernsthaften Denkens. Es mögen hier und da kleinere Korrekturen notwendig sein, spätere Philosophen haben zum Teil bedeutende Ergänzungen beigesteuert, aber niemand kommt ohne die Regeln des logischen Denkens aus, die Aristoteles ersann. Selbst bei seinen schärfsten Kritikern wird sich immer zeigen lassen, dass sie in Wirklichkeit auf die Grundstruktur der aristotelischen Logik zurückgreifen.

Die aristotelische Logik ist keineswegs unpolitisch. Ihre Botschaft ist, einen bodenständigen, gleichsam konservativen Blick auf die Wirklichkeit der Wirklichkeit zu werfen – die Geste, mit der ihn Raffael charakterisierte. Das macht ihn zum Feindbild der Weltverbesserer. Aber niemand kommt ohne die aristotelische Logik aus, so sehr sie auch gegen sie wüten.


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