02. August 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 9 Stoizismus: Römische (Un-) Tugend

Seneca und Mark Aurel

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: ded pixto / Shutterstock Lucius Annaeus Seneca: „Unrecht wird gegen Gute nur von Schlechten gerichtet: Die Guten untereinander haben Frieden“

Nach dem Tod des Aristoteles entstand in Athen die Schule der Stoa (Stoa für die Säulenhalle, in denen die ersten Stoiker lehrten). Kennzeichnend für sie war einerseits eine Mischung aus mythologischer Anschauung und strenger Logik, die von einer absoluten Determination des Weltganzen durch Kausalität ausging, andererseits eine Ablehnung davon, sich von Gefühlen leiten zu lassen – dieser zweite Aspekt führte später zu dem Adjektiv „stoisch“ als Synonym für ein gelassenes Hinnehmen aller Schicksalsschläge. Wie unter der Voraussetzung einer absoluten Determination überhaupt eine Entscheidung getroffen werden kann, sei es die zu einem gefühlvollen oder die zu einem gefühllosen Leben, ist ein logischer Widerspruch, den der Stoizismus nie aufgeklärt hat. Geschichtsmächtig ist der Stoizismus mit jenem zweiten Aspekt geworden, der Ablehnung von Gefühlen.

Wie in Indien der Buddhismus fragten die Stoiker danach, auf welche Weise Leiden zu verhüten sei, und sie antworteten darauf genau wie der Buddhismus, dass Leiden nur verhütet werden könne, wenn man sich jeder Gefühlsregung bezüglich der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit der Weltläufe enthalte. Die griechische Phase des Stoizismus ging als „ältere Stoa“ in die Geschichte ein.

Aber die Griechen waren für den Stoizismus wenig empfänglich. Eine überragende Bedeutung erhielt der Stoizismus erst in der römischen Antike, zunächst in der Zeit der Republik. Stoizismus wurde zur Staatsreligion, indem er dazu aufforderte, ohne jedes Zögern seine Pflicht zu tun, und dazu gehörte, das eigene Leben oder das seiner Angehörigen der Staatsraison unterzuordnen. Man musste bereit sein, für das Gemeinwohl zu sterben, ja die eigenen Angehörigen zum Tode zu verurteilen. Und natürlich voll der Heiterkeit in den Tod zu gehen oder ihn selber herbeizuführen, wenn es das Gemeinwohl verlangt. Der römische Stoizismus ist in dieser Phase der sogenannten „mittleren Stoa“ nichts als eine Tugendlehre, die der griechischen Philosophie kaum etwas hinzutat, vielmehr ihr den Begründungszusammenhang nahm und sie auf eine Handvoll unbegründeter Regeln reduzierte.

Die „jüngere Stoa“ der frühen römischen Kaiserzeit ist ein spezielles Lehrstück, was das Verhältnis von Philosophie und Macht angeht. Als Erstes ist Seneca (1–65 nach Christus) zu nennen, der Erzieher des Kaisers Nero (37–68 nach Christus).

Wie alle Stoiker betonte Seneca, dass der weise Mensch sich jeder Gefühlsregung enthält, um keinen Kummer aufkommen zu lassen. Es ist hier übrigens tatsächlich richtig, vom „weisen Menschen“ und nicht vom „weisen Mann“ zu sprechen, denn von Seneca sind Trostschriften an Frauen überliefert, so an eine Frau namens Marcia, die um ihren verstorbenen Sohn trauerte. Zu trauern sei nicht weise, meinte Seneca zu ihrem „Trost“.

Als Nero 54 nach Christus im Alter von 17 Jahren Kaiser wurde, begann seine Regierungszeit positiv, soweit man überhaupt von einer positiven Regierung sprechen kann. Neben seiner Mutter war Seneca Neros wichtigster Berater und Vertrauter. Nero war milde gestimmt, beging nur wenige Verbrechen auf dem Weg zur Herrschaft (das tat seine Mutter für ihn), lieh dem Senat sein Ohr und führte kaum Kriege. 56 nach Christus schrieb Seneca für den immer noch jugendlichen Kaiser ein Traktat, in dem er zwar weiterhin jedes Gefühl verdammte, aber für Milde plädierte – Milde sei kein Gefühl, sondern die stoische Haltung des Mächtigen allen widrigen Umständen gegenüber, so auch den Feinden. Aber schon 59 nach Christus wurde die Lehre Senecas auf eine harte Probe gestellt. Nero sah sich von seiner Mutter verraten, schmiedete ein Mordkomplott, das zunächst scheiterte und erst im zweiten Schritt erfolgreich endete. Seneca soll den Mord gutgeheißen haben. Zunehmend zeigte sich, dass Nero impulsiv regierte. Er verwickelte sich in familiäre Zwistigkeiten und Abartigkeiten, die bei den Senatoren, dem Volk von Rom und den Soldaten, der eigentlichen Stütze des Kaiserreichs, nicht gut ankamen. Nero begann, das Land auszuplündern.

64 nach Christus brannte Rom. Schnell verbreitete sich das Gerücht, dass der Kaiser selbst den Befehl zum Brand gegeben habe (die historische Forschung hält dies heute für wenig wahrscheinlich). Zur Ablenkung ließ Nero Mitglieder der Sekte der Christen als Brandstifter hinrichten. Obwohl die Christen sich keiner besonderen Beliebtheit unter den Römern erfreuten, stieß die Brutalität der Verfolgung auf Ablehnung. Um den Wiederaufbau Roms zu finanzieren, intensivierte Nero die Plünderungen im Umland. Die Stimmung kippte und es gab Widerstand und Verschwörungen. Obwohl Seneca vermutlich an keiner beteiligt war, ließ Nero ihm 65 nach Christus die Aufforderung zukommen, Suizid zu begehen. Seneca schrieb noch ein Traktat über den Suizid als würdigen Abschluss des Lebens und schritt zur Tat. Das war natürlich rechtschaffen stoisch. Noch drei Jahre hielt Nero durch, bis er vom Senat aufgefordert wurde, seinerseits Suizid zu begehen. Da seine Lage aussichtslos war, kam er der Aufforderung nach.

Man kann nicht sagen, dass Seneca oder seine Lehre bei der Erziehung von Nero versagt hätten. Kein Erzieher kann einen Erfolg garantieren: Es kommt immer darauf an, was der Zögling aus dem macht, was der Erzieher ihm nahezubringen versucht. Vielmehr ist die Naivität zu kritisieren, dass es möglich sei, mithilfe einer philosophischen – oder später: einer religiösen – Lehre einen Machthaber auf das Gute zu verpflichten, oder im Falle von Seneca: auf die Milde zu eichen. Bis hin zu Thomas von Aquin (Teil 14 dieser Serie) wird genau diese Problematik die politische Philosophie beschäftigen: Auf der einen Seite gibt es keine wirkliche Kritik an der Herrschaft, die man für notwendig oder wenigstens unabwendbar erklärt, auf der anderen Seite weiß man sehr genau, dass es kein Mittel gibt, die Herrschaft zu mäßigen – weder Verfassungen und Institutionen noch die Läuterung der Herrschenden durch Philosophie oder Religion vermögen dies.

Mit Mark Aurel (121–180) schließt die Stoa im klassischen Sinne rund hundert Jahre später ab. Aurel war nicht nur Stoiker, sondern wurde ab 161 selber zum Kaiser. Seine Sentenzen zählen zur Weltliteratur und werden noch heute gern als Weisheiten zitiert, gelegentlich sogar, ohne zu erwähnen, dass er Kaiser war, oder es wird erwähnt, ohne weiter darauf einzugehen. Und in der Tat verlief seine Herrschaft ohne weltbewegende Ereignisse. Ähnlich wie Neros Anfangszeit war er ein Kaiser, der eher Milde als Brutalität walten ließ und sich sogar, was Kriege betrifft, Mäßigung auferlegte. Die Christenverfolgung stoppte er keineswegs, aber er sorgte dafür, dass auch sie abgemildert wurde. Er ließ sich, anders als Nero, nicht in den Cäsarenwahn der Macht treiben.

Ist das ein Erfolg seiner stoischen Haltung? Vielleicht. Doch vergisst man nur zu leicht, dass ein milder und gütiger römischer Kaiser eben doch ein Kaiser war. Sklaverei, Gladiatorenkämpfe, steuerliche Ausplünderung, Kriege, Verfolgung von Andersgläubigen, all das fand auch weiterhin statt. Was fehlte, sind die Exzesse, die viele andere Kaiser auszeichneten. Aber es handelte sich keineswegs um eine heile Welt. Not, Elend und Leiden waren an der Tagesordnung; nach zweitausend Jahren sind die Namen verblasst, scheinen nicht mehr wichtig zu sein. Doch gemessen an dem stoischen Programm ist die Bilanz zu ziehen, dass die Idee der Leidensverminderung nicht einmal ansatzweise umgesetzt wurde. Wenn es einem Herrscher bereits zur Ehre angerechnet wird, dass er keinen Blödsinn und keinen Irrsinn beging, na, dann braucht es keine Philosophie und vor allem keine, die behauptet, Leiden begrenzen zu wollen.

Noch in anderer Hinsicht markiert Mark Aurel einen Tiefpunkt der Philosophie: Seine Sentenzen bilden eine Abfolge völlig unbegründeter Aussagen. Man mag sie mögen oder nicht. Man mag sie in der eigenen Erfahrung bestätigt sehen oder nicht. Aber es ist unmöglich, mit Mark Aurel in einen Diskurs zu treten wie mit Sokrates, Platon oder Aristoteles. Im Stoizismus zeigt die Philosophie sich von ihrer schlechtesten Seite: als Ideologie der Herrschaft. Doch schon bald sollten mit dem Christentum und dem Islam diese Funktion die dafür weit besser geeigneten Religionen übernehmen.


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