02. August 2024 18:00

Urteil zur Wahlrechtsreform Der Marsch in den Parteienstaat

Wettbewerb und Auswahl bleiben auf der Strecke

von Thomas Jahn

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Bildquelle: Juergen Nowak / Shutterstock Wahlrechtsreform der Ampelkoalition: Wer profitiert?

Das komplizierte System zur Wahl der Abgeordneten für den Deutschen Bundestag hat bei der letzten Wahl zu einer enormen Aufblähung des Bundestags geführt. Mit aktuell 735 Abgeordneten ist der Bundestag damit das größte Parlament der Welt, nur übertroffen vom chinesischen Volkskongress mit fast 3.000 Mitgliedern. Ohne alle Details und Hintergründe erläutern zu können, muss fairerweise der letzte gescheiterte Reformversuch aus dem Jahre 2012 erwähnt werden, den das Bundesverfassungsgericht ebenfalls gestoppt hat. Seitdem können die Wähler dafür sorgen, dass der Bundestag immer größer wird. Wie ist das möglich?

Die Antwort findet sich in der komplizierten Verbindung zwischen Persönlichkeits- und Verhältniswahl. Die Persönlichkeitswahl kann mit der Erststimme ausgeübt werden, um einen Bewerber im örtlichen Wahlkreis direkt in den Bundestag zu wählen. Damit werden in den derzeit 299 Wahlkreisen entsprechend viele Bewerber direkt bestimmt. Mit der Zweitstimme wird die jeweilige Partei nach dem Verhältnisprinzip gewählt. Die Zweitstimme ist allerdings ausschlaggebend für die letztgültige Sitzverteilung. Bis 2012 konnten Parteien sogenannte Überhangmandate erringen, wenn die Anzahl der direkt gewählten Abgeordneten über dem Prozentanteil lag, der einer Partei mit der Zweitstimme zugewiesen wurde. Solche Überhangmandate lagen bis zur Wahl im Jahre 2002 im niedrigen einstelligen Bereich, denn die Erst- und Zweitstimmenergebnisse von SPD und Union lagen meist nur unbedeutend auseinander. Die kleinen Parteien, also vor allem FDP und Grüne, konnten keine Direktmandate erringen. Mit dem Absturz der Union unter Angela Merkel auf rund 35 Prozent im Jahre 2005 und vier Jahre später auf etwa 33 Prozent taten sich nun plötzlich gewaltige Lücken zwischen dem jeweiligen Erst- und Zweitstimmenergebnis auf. Diesem Umstand wurde mit sogenannten Ausgleichsmandaten Rechnung getragen, die nun den übrigen Parteien zugewiesen werden, um der Zweitstimme zur entscheidenden Geltung zu verhelfen und die Überhangmandate der Union „auszugleichen“. Die Faustformel lautet seither: Je schwächer das Zweitstimmenergebnis der stärksten Parteien und je größer die Unterschiede zwischen Erst- und Zweitstimme sind, desto größer wird der Bundestag. Das Wahlergebnis von 2021 ist der entsprechende Beweis.

Die nun durch das Bundesverfassungsgericht nur teilweise gekippte Wahlrechtsreform stärkt das Prinzip der Verhältniswahl. Nur die Abschaffung der sogenannten „Grundmandate-Klausel“ wurde gestoppt. SPD, Grüne und FDP hatten im Alleingang ein auf ihre Parteien zugeschnittenes Wahlrecht beschlossen, das die Fünf-Prozent-Klausel ausweitete und die Regelung abschaffte, dass eine Partei, die mindestens drei Direktmandate erringt, die Fünf-Prozent-Hürde überspringen und in der Folge nicht nur mit drei Abgeordneten, sondern mit ihrem mit der Zweitstimme errungenen Prozentanteil in den Bundestag einziehen kann. Die weitaus wichtigere Neuregelung blieb aber unangetastet: Die prozentuale Höhe des Zweitstimmenergebnisses begrenzt künftig die Zahl der Direktmandate, womit die Position der in den Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten erheblich geschwächt wird. Letztlich entscheidet nur noch die Zweitstimme über das Gesamtergebnis. Dadurch ist die Union der Hauptverlierer der Reform, vor allem die CSU, weil sie seit Jahren fast alle bayerischen Wahlkreise direkt gewonnen hat, während ihr Zweitstimmenergebnis immer schlechter wurde. 2021 konnte die CSU mit Ausnahme des Wahlkreises München-Süd, der an die Grünen ging, alle 46 bayerischen Wahlkreise direkt gewinnen, während sie mit dem Zweitstimmenergebnis nur 31,7 Prozent erreichte. Hätte das neue Wahlrecht schon 2021 gegolten, hätte die CSU etwa 25 Prozent der Sitze verloren, während alle übrigen Parteien nur zwischen 15 (Grüne, FDP) bis 16 Prozent (SPD) verloren hätten. Union und AfD hätten bei einem Minus von etwa 17 Prozent gelegen.

Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird aber auch das verfassungsrechtlich verankerte Demokratieprinzip ad absurdum geführt, denn ein direkt im jeweiligen Wahlkreis gewählter Abgeordneter kann sich künftig nicht mehr auf seinen demokratischen Wahlerfolg verlassen, sondern fliegt aus dem Bundestag, wenn das Zweitstimmenergebnis seiner Partei die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten insgesamt unterschreitet. Nach dem Motto „die Letzten beißen die Hunde“ würden im Falle der CSU neun Mandatare mit den im Verhältnis zu den anderen direkt gewählten CSU-Abgeordneten schlechtesten Direktwahlergebnissen den Einzug in den Bundestag verpassen. Betroffen sind dabei vor allem alle großstädtischen Wahlkreise in München, Nürnberg und Augsburg. Damit wird auch erkennbar, dass die „Ampel“-Koalition die Wahlrechtsreform natürlich zielgenau zum Nachteil derjenigen Parteien eingesetzt hat, die anders als SPD, Grüne und FDP von direkt gewählten Abgeordneten profitieren. Dies sind vor allem die CSU in Bayern und – unter Berücksichtigung aktueller Umfragen – die AfD in Thüringen und Sachsen.

Es wäre übrigens ein Leichtes gewesen, den Bundestag unter fairen Bedingungen zu verkleinern. Dazu hätten die linken „Ampel“-Koalitionäre nur das Wahlrecht für den Landtag von Baden-Württemberg oder das bayerische Wahlsystem übernehmen müssen. Beide Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass nicht nur eine Stimme, wie eben die Zweitstimme auf Bundesebene, entscheidend ist, sondern die Gesamtstimmen, die eine Partei über Erst- und Zweitstimme erhält. In Bayern können zusätzlich auf der Liste mit der Zweitstimme einzelne Bewerber priorisiert, also nach vorne gewählt werden. Noch einfacher ist es in Baden-Württemberg, wo jeder Wähler nur eine Stimme für den jeweiligen Wahlkreisbewerber abgeben kann. Landeslisten wie bei der Bundestagswahl gibt es nicht. Jeder im Wahlkreis mit relativer Mehrheit gewählte Bewerber zieht natürlich in den Landtag ein. Zudem gibt es nur Wahlkreisbewerber. Alle Landtagskandidaten müssen sich also in einem der 70 Wahlkreise des Landes zur Wahl stellen. Andererseits werden sämtliche Wählerstimmen landesweit hochgerechnet und so die prozentualen Gesamtstimmenanteile aller Parteien bestimmt. Daraus wird dann die grundsätzliche Sitzverteilung im Landtag ermittelt. Stimmen für Wahlkreisbewerber, die ihren Wahlkreis nicht gewinnen können, sind deshalb nicht automatisch verloren, sondern zählen in jedem Fall für die Partei der jeweiligen Bewerber. Sie bestimmen die Zahl der Sitze, die dieser Partei im neuen Landtag zustehen. Deshalb fallen auch Stimmen für kleine Parteien ins Gewicht. 70 Parlamentssitze gehen an die Gewinner der Direktmandate. 50 weitere Sitze sind sogenannte Zweitmandate. Sie gehen an die Kandidaten, die zwar ihren Wahlkreis nicht gewonnen haben, aber im Vergleich zu anderen Bewerbern ihrer Partei innerhalb ihres Regierungsbezirks prozentual die meisten Stimmen erreicht haben. Auch in diesem System kann sich der Landtag durch Überhang- und Ausgleichsmandate vergrößern, allerdings nicht signifikant wie auf Bundesebene, da nur eine Stimme abgegeben wird, sodass eine Splittung zwischen Erst- und Zweitstimme, mit den damit einhergehenden Stimmenunterschieden, unmöglich ist.

Ein System, das wie in Bayern oder Baden-Württemberg auf die Persönlichkeitswahl setzt, ist vor allem Parteien wie SPD und Grünen ein Dorn im Auge. Ihnen geht es darum, Wahllisten nach egalitaristischen Prinzipien und auf Basis ethnischer Besonderheiten aufzustellen. Der Schwarmintelligenz der Wähler, die eher auf Kompetenz, Erfahrung und Sympathie setzen könnte, wird dabei grundsätzlich misstraut. Das neue Wahlrecht setzt daher leider den Marsch in einen von Berufspolitikern geprägten Parteienstaat fort, der den Wettbewerb und die Auswahlmöglichkeiten der Bürger weiter einschränkt.        

INSA-Wahlkreiskarte (Vergleich altes und neues Wahlrecht)


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