10. August 2024 22:00

Meinungsfreiheit Vom Jordan bis zum Mittelmeer

Der Staat unterstellt die Motivation

von Thorsten Brückner

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Bildquelle: jasmiennn / Shutterstock Fällt in Deutschland unter verbotene Meinung: „From the river to the sea, Palestine will be free“

Die Schlinge um die freie Rede zieht sich in Deutschland seit Jahren zu. Zum Anlass, die Meinungsfreiheit immer weiter einzuschränken, nimmt die Politik dabei auch gerne Konflikte, die mit Deutschland zunächst einmal überhaupt nichts zu tun haben. Im Oktober 2022 etwa verschärfte der Bundestag mit Blick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine den Paragraphen 130 Strafgesetzbuch. Seitdem können auch das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen von Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen als Volksverhetzung gewertet und mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden. 

Was dabei zur Kategorie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt, entscheidet natürlich der Staat, der im Zweifel auch die jeweilige Motivation unterstellt. Denn es sind wie immer nur ganz bestimmte gröbliche Verharmlosungen ganz bestimmter Gruppen und Personen, die damit geahndet werden. Ein wenig wie mit dem Satz „Alles für Deutschland“. Das darf man ungestraft sagen, solange man nicht Björn Höcke heißt und einer rechten Gesinnung unverdächtig ist. Unvorstellbar etwa, dass die Polizei bei einer proisraelischen Demonstration einschreitet, weil dort Verbrechen der israelischen Armee verharmlost werden oder gefordert wird, Israel müsse das gesamte Territorium vom Mittelmeer bis zum Jordan kontrollieren und die Palästinenser am besten nach Jordanien schicken, wo es ja bereits einen mehrheitlich palästinensischen Staat gebe. 

So was fällt in Deutschland weder unter Volksverhetzung noch unter „Billigung von Straftaten“. Für Letzteres wurde vergangene Woche hingegen eine 22 Jahre alte Frau vom Amtsgericht Tiergarten verurteilt, weil sie sich bei einer Demonstration am 11. Oktober 2023 der verbotenen Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ bediente. Die Interpretation der Richterin: „Es sollte das Massaker gebilligt werden.“ In diesem Kontext sei die Parole ein „Aufstacheln“ gewesen, mit der sie das Existenzrecht Israels geleugnet habe. 600 Euro kostet Ava M. das Verbrechen, ihren Mund aufgemacht und ihre politische Meinung kundgetan zu haben.

Wenn beide Konfliktparteien und ihre Fans in Europa und den USA von „Freiheit“ sprechen, gilt es das kritisch einzuordnen. Denn natürlich wäre ein Palästina von Mittelmeer bis zum Jordan, egal, ob unter Kontrolle der Hamas, der Fatah oder einer anderen palästinensischen Organisation, nicht frei. Vermutlich noch nicht einmal freier als momentan unter israelischer Besatzung, die ihre ganz eigenen Freiheiten (neben vielen Unfreiheiten) für das Individuum mit sich bringt. 

Umgekehrt kann ich nur lachen, wenn Israel als das freieste Land im Nahen Osten bezeichnet wird. Die einzige Demokratie im Nahen Osten, ja. Aber spätestens seit Covid, als Aleksandr Lukaschenkos Weißrussland plötzlich über Nacht zu einem der freiesten Länder Europas avancierte, wissen wir, dass es zwischen Demokratie und Freiheit nur – wenn überhaupt – eine sehr schwache Korrelation gibt. Israel tritt die Freiheit seiner Bürger jedenfalls täglich mit Füßen und das nicht erst seit 2020.

Ist ja bloß eine Geldstrafe, werden manche nun einwenden. Doch das ist gleich doppelt falsch. 600 Euro können einer 22-Jährigen richtig wehtun, auch wenn ich im konkreten Fall meine Zweifel habe, dass die junge Frau sie aus eigener Tasche bezahlen muss. Und was, wenn jemand nicht zahlen kann oder will? Dann wartet das Gefängnis auf einen. Und was passiert, wenn sich dann jemand einer solchen „Ersatzfreiheitsstrafe“ widersetzt oder zu entziehen versucht, wenn die Polizisten vor der Tür stehen (was das gute Recht eines jeden Menschen wäre, denn niemand muss sich bereitwillig einsperren und der Freiheit berauben lassen)? Dann greifen der Staat und seine Schergen in Blau zu dem, was sie am besten können: Gewalt! Nur weil jemand den Mund aufgemacht und öffentlich eine Meinung geäußert hat, die dem Staat nicht passt. Man sollte die Dinge immer zu Ende denken!

Interessant finde ich auch, dass in Deutschland das Bundesinnenministerium einfach so nicht nur Publikationen verbieten kann, sondern sogar politische Slogans, die noch nicht einmal einen Bezug zur deutschen Geschichte haben. Allerdings nicht, ohne sogar noch vorzugeben, wie die Losung zu interpretieren sei. Diese sei direkt mit der Terrororganisation Hamas in Verbindung zu bringen, heißt es aus dem Hause Faeser, wo offensichtlich keinerlei Schamgefühle in Bezug auf historische Fake News existieren. Bereits in den späten 1960ern benutzten Fatah und die sozialistische PFLP diese Parole. Sie hat sicher keine islamistischen Wurzeln. Ich persönlich habe sie öfter aus dem Mund sozialistischer „Palästina-Freunde“ gehört als von Islamisten. 

Doch noch bemerkenswerter finde ich, dass die zionistische Version davon nicht strafbar ist. Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu etwa sagte vor einiger Zeit: „Zwischen dem Meer und dem Jordan wird es nur israelische Souveränität geben.“ Dazu passt: Auf zahlreichen offiziellen Landkarten in Israel existieren die palästinensischen Gebiete gar nicht. Da reicht Israel tatsächlich vom Mittelmeer bis zum Jordan. Dies sagt freilich genauso wenig über Gewaltbereitschaft und mögliche Vertreibungspläne aus wie das palästinensische Äquivalent. Solches hineininterpretieren, kann man in beide Versionen, auch in die israelische. Schließlich entstammt Netanyahus Likud der revisionistischen Richtung des Zionismus, die maßgeblich von Eretz-Israel-Radikalinskis wie Ze’ev Jabotinsky geprägt wurden, den Netanyahu verehrt. Apropos Eretz Israel. Das ist heute oft eine Chiffre für jüdische Gebietsansprüche auf die Westbank und ganz Jerusalem (allerdings streng genommen nicht Gaza), die genau dasselbe aussagt wie das Netanyahu-Zitat. Historisch reicht Eretz Israel sogar bis ins heutige Jordanien, das Jabotinsky ebenfalls für einen jüdischen Staat beanspruchen wollte. Nach der Staatsgründung fand sich allerdings auch die Herut-Partei, die Vorläuferin des Likud, damit ab, dass die „East Bank“ arabisch bleiben würde. Seitdem hat die Idee unter rechten Israelis und zahlreichen Israel-Fans in Europa an Popularität gewonnen, Palästinenser einfach auf die andere Seite des Jordans zu transferieren (Transferideologie), wo bereits zwei Drittel der Einwohner Palästinenser leben. Dass das allerdings das Ziel der israelischen Regierung sein soll, halte ich angesichts der politischen Realitäten für abenteuerlich, obgleich selbst bereits Mitglieder von Netanyahus Partei gefordert hatten, den Palästinensern eine zweite „Nakba“ zu bereiten, was ganz klar als Aufruf zu Vertreibungen gewertet werden muss. Auch haben Minister der Regierung immer wieder offen Vertreibungen ins Spiel gebracht, um damit bei ihrer rechten Anhängerschaft zu punkten. Dazu kommt, dass Israel eben bereits einmal für Massenvertreibungen von Arabern verantwortlich war, während die Hamas bisher nur aus einer Position der Schwäche heraus über Deportationen nach dem Tag X fantasiert hat.

Bei der (noch nicht rechtskräftig) verurteilten Frau handelt es sich laut der „Jungen Welt“ um eine iranischstämmige Kommunistin, die nach eigener Aussage für ein Ende des Krieges, der Besatzung und der Gewalt sowie einen säkularen Staat im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina demonstriert hat. Für die rechtliche Bewertung ist mir ihre Motivation egal. Selbst wenn sie den Hamas-Angriff verteidigt hätte, hätte sie dafür keine Strafe verdient. Mit welcher Begründung? Weil sie eine abseitige und geschmacklose Meinung vertritt, die der BRD-Staatsräson widerspricht? Nur diejenigen, die Gewalt ausüben, sind dafür verantwortlich. Zu welchen Aktionen Zuhörer der Satz „From the river to the sea“ möglicherweise anstachelt, kann die junge Frau nicht beeinflussen und somit kann sie auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Murray Rothbard sagte dazu: „Wenn der Wille frei ist, dann wird kein Mensch von einem anderen bestimmt. Nur weil jemand ‚Burn, Baby, burn‘ ruft, ist niemand, der diesen Ratschlag hört, dadurch gezwungen oder vorbestimmt, diese Empfehlung umzusetzen. Jeder, der den Rat befolgt, ist für sein eigenes Handeln verantwortlich, und zwar allein. Daher kann der ‚Anstifter‘ in keiner Weise verantwortlich gemacht werden.“

Für mich hat kein Staat auf der Welt ein Existenzrecht, und das schließt selbstverständlich auch Israel oder einen zukünftigen palästinensischen Staat mit ein. Menschen haben ein Existenzrecht, keine Staaten. Und spätestens wenn das Existenzrecht von Staaten mehr zählt als das von Menschen, wäre es an der Zeit, über Alternativen nachzudenken. Nach über 100 Jahren Leid, das staatliche oder quasi-staatliche Akteure in der Region zu verantworten haben, kann ich nur mit dem Kopf schütteln, wenn Menschen nach wie vor ihre Hoffnung auf Frieden und Wohlstand im Nahen Osten auf Staaten, entweder bereits existierende oder neu zu schaffende, setzen. 


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