16. August 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 11 Xi Kang: Der chinesische Sokrates

Daoismus versus Konfuzianismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Yu Ninjie / Wikimedia Lebte in der Zeit der Drei Reiche: Xi Kang – einer der „Sieben Weisen vom Bambushain“

Im Angesicht seiner bevorstehenden Hinrichtung bittet Xi Kang um eine Qin, ein Saiteninstrument, das einer Zither ähnelt. Er komponiert ein Lied und geht gefasst in den Tod, er bedauert bloß, dass das Lied nun gleich ihm in Zukunft ungehört bleibe. Xi Kang, ein Stoiker (siehe Teil 9 der Serie)? Wie die römischen Stoiker sieht Xi Kang in der Leidenschaft den Schlüssel für die Probleme der Menschen. Aber Xi Kang und seine sechs Freunde, die die legendären „Sieben Weisen vom Bambushain“ bilden, sind keine Asketen. Sie musizieren, sie trinken, sie haben Sex, sie führen offene Diskussionen, ohne sich auf die Wiederholung hergebrachter Weisheiten zu beschränken; in jeder Hinsicht verstoßen sie gegen die Normen des herrschenden Konfuzianismus (siehe Teil 5 der Serie). Die „Leidenschaft“, der Xi Kang sich entgegenstellt, sind nicht die täglichen und durch die Natur begrenzten Bedürfnisse, sondern es ist die unbegrenzte Gier nach Macht und gesellschaftlichem Ansehen. Seine eigene Leidenschaft, das Streben nach Unsterblichkeit oder zumindest einem jahrhundertelangen Leben, das er durch das Befolgen der daoistischen Alchemie und Ernährungslehre zu erfüllen trachtet, verführt ihn nicht, vor der Macht einzuknicken. Lieber geht er in den Tod, denn Ehrlichkeit gilt ihm als höchster Wert. Dreitausend jugendliche Anhänger sollen für ihn um Gnade gebeten, jeder Einzelne angeboten haben, anstelle von Xi Kang den Tod zu erleiden. Es half nichts, der Herrscher blieb bei seinem Urteil. Der Überlieferung nach hat er es später bereut.

Warum musste der antike Hippie Xi Kang (223–262) sterben? Seine Heimat war eins von den „Drei Reichen“, in die China nach dem Ende der Han-Dynastie zerbrach: die Wei-Dynastie. Der amtierende Kaiser der Dynastie schwächelte bereits, der mächtige General Sima Zhao übte faktisch die Macht aus und begründete dann 265 die Jin-Dynastie. Sima wollte von dem Ansehen der „Sieben Weisen“ profitieren, ein Ansehen, das sie jenseits von starrer „Bildung“, von Unterwerfung unter die konfuzianischen Rituale und von der Ausübung hoher Ämter erworben hatten. Xi bot er einen Posten in der öffentlichen Verwaltung an, den jener jedoch ablehnte. Mit ätzender Ironie stellte Xi sich als „faul“ und „verwahrlost“ dar, ungeeignet für politische Ämter. Mit der Tochter von Ruan Ji (210–263), einem anderen der „Sieben Weisen“, wollte Sima seinen Sohn verheiraten. Ruan war vorsichtiger als Xi und wies den Regenten nicht unmittelbar ab. Stattdessen betrank er sich die ganzen 60 Tage, für die Sima angereist war, um die Formalitäten der Hochzeit zu klären, sodass der Regent schließlich entnervt aufgab und abreiste, weil der Vater nicht geschäftsfähig sei. Man kann sich vorstellen, wie gedemütigt sich General Sima fühlte. Da bot sich ein Familiendrama bei einem Freund von Xi an, um sich zu rächen. Xis Freund Lü An hatte Streit mit seinem Bruder Xun, der mit Ans Frau Ehebruch begangen hatte. Xi überzeugte An, nicht gerichtlich gegen Xun vorzugehen; dies bereits stellte eine Verletzung der geltenden Normen dar. Anstatt dankbar für die Schonung zu sein, beschuldigte Xun nun seinerseits An, die Mutter geschlagen zu haben. Daraufhin wird An verhaftet. Xi eilt dem Freund zur Hilfe und wird ebenfalls unter Anklage gestellt. Sie lautet nun auf Hochverrat. Diese Geschichte wird meist stark gekürzt wiedergegeben, doch erst ihre genauere Betrachtung zeigt, was Xi und sein Kreis am Konfuzianismus ablehnen, nämlich dass es diesem weder um Recht noch um Wahrheit gehe, sondern ausschließlich um die Einhaltung der althergebrachten Rituale.

Ruan Ji war zwar vorsichtiger als Xi und entging einer Anklage, starb aber ein Jahr später – aus Gram, wie ich mir vorstelle. In einem Gedicht fragte er sarkastisch:

„Echt ätzendes Gefühl im Bauch
das Gift des Hasses ausgebreitet
Freund Lü haben sie kassiert
langsam wird’s eng im Knast
für Menschen, die Menschlichkeit suchen
nun, warum soll man klagen?“

Murray Rothbard nennt Laotse (Teil 2 der Serie) einen der ersten „libertären Philosophen“. Zum Zeitpunkt des Todes von Xi Kang lag die Abfassung des Laotse zugeschriebenen Werkes „Daodejing“ (Tao Te King), dem Ausgangspunkt für den Daoismus, rund 700 Jahre zurück. Das zentrale Credo im „Daodejing“ ist „Wu Wei“, das Nichttun: Trotz Nichttuns bleibe nichts ungetan, während das forcierte Tun stets misslinge. Dieses Credo wird auch und gerade für die Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik vertreten; der Historiker Christian Gerlach weist nach, dass die europäische physiokratische Lehre des „Laisser-faire“ unmittelbar auf die Beeinflussung durch das chinesische „Wu Wei“ zurückzuführen sei. Aus dem „Wu Wei“ folgerten die Daoisten eine politische und militärische Enthaltsamkeit, in ihrer Radikalität vergleichbar mit der eines Jesus von Nazareth. Während die antipolitische Haltung von Jesus geschichtlich neutralisiert wurde, indem der römische Kaiser Konstantin der Große (270–337) ihn in einen römischen Kriegsgott umwandelte, wurde aus Xi Kang kein Jesus, kein Märtyrer, kein Religionsstifter. Die chinesische Tradition bewahrt sein Andenken als eine Art Gegengewicht zur Übermacht des Konfuzianismus. Was die „Sieben Weisen vom Bambushain“ gegen den Konfuzianismus einwandten, verdichtete Ruan Ji in folgende Spottverse:

„Die Konfuzis sind bekannt dafür
nie erschlafft ihr erigierter Wille
kennen keine Verstöße gegen Sitten
erlauben keine Brüche von Gesetzen
bei Durst essen sie Wasser
bei Hunger trinken sie Suppe
kommen Zeiten sie hart an
schlottern ihnen die fadenscheinigen Klamotten
Sandalen singen Lieder des Südens
vages Zeug verspritzen sie landesweit
die Manöver der Lehre bewahrend
lassen sie sich durch nichts beirren
für Feuereifer gepriesen und erniedrigt
weisen Familienvätern entfahren lange Seufzer.“
(Weise Familienväter: die Zeichen für Laotse)

Die politische Entwicklung Chinas bleibt, zum Nachteil der Bevölkerung dem Konfuzianismus verhaftet. Wen in der von Mao Zedong angeordneten „Großen proletarischen Kulturrevolution“ zwischen 1966 und 1976  – um einen sehr großen zeitlichen Sprung zu wagen – die Elterngeneration verhöhnt und verfolgt wurde, stand dies zwar dem Ahnenkult des Konfuzianismus entgegen; die Pedanterie, mit der die Einhaltung der angeblich revolutionären Rituale und die wortgetreue Rezitation der Worte des Großen Vorsitzenden eingefordert wurde, sowie die Härte, mit der auch kleinste Abweichungen von der Konformität mit dem Tod bestraft wurden, liegen dagegen genau auf der Linie des Konfuzianismus. Dass sich gleichwohl auch etwas vom daoistischen „Wu Wei“ als fernöstliche Version des kapitalistischen „Laisser-faire“ erhalten hat, zeigt sich in der Gewandtheit, mit der die Chinesen seit der Liberalisierung den wirtschaftlichen Aufschwung meistern. Das haben sie auch ihrer daoistischen Tradition zu verdanken, für die Xi Kang und sein ungerechter Tod stehen.


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