23. August 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 12 Avicenna: Die Aufklärung beginnt

Die Wiederentdeckung des Aristoteles

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: aipsidtr / Shutterstock Ibn Sina oder Avicenna: Legendärer Arzt und Philosoph aus Persien

Hatte die Philosophie des Aristoteles (siehe Teil 8 dieser Serie) mehr als tausend Jahre ein Dasein als Mauerblümchen gefristet, trat sie nun mit einem Paukenschlag über Arabien kommend in die Geschichte ein: Es begann die Aufklärung in dem Sinne, dass nach den Jahrhunderten einer mehr oder weniger unhinterfragten Herrschergewalt wieder deren Rechtmäßigkeit auf den Prüfstand gestellt wurde. Zudem emanzipierte sich die Wissenschaft von der Fixierung auf Autoritäten. Der Rückgriff auf Aristoteles ist dabei nicht zufällig: Gegenüber einer Vorherrschaft einer aus Gott abgeleiteten Legitimität und Welterkenntnis kam nun erstmals die empirische Methode, die Aristoteles vorweggenommen hatte, zu Ehren.

Wesentlicher Kopf der ersten Aufklärung war Ibn Sina, lateinisiert Avicenna (980–1037), der bis ins 15. Jahrhundert hinein als größter Arzt aller Zeiten im Morgen- und im Abendland gefeiert wurde. Ibn Sina war ein Aristoteliker und er prägte die Scholastik. Sein Vater war nach einer Hypothese, die mir sowohl einleuchtet als auch sehr gut gefällt, Buddhist. Ibn Sina eckte politisch oft an und führte ein Leben als von Hof zu Hof Getriebener, der immer auf der Suche nach einem Herrscher war, bei dem er für eine Weile Schutz fand. Diese unbequemen Lebensumstände hatten zur Folge, dass er bei der Abfassung seiner Schriften oft keinen Zugriff auf die Bücher hatte, die er kommentierte, auslegte und zitierte. Anders als spätere Scholastiker ergab sich hieraus ein Stil von großer Freiheit, der eher modernen Essays als der bekannten und bisweilen ermüdenden scholastischen Buchstabenfuchserei entspricht.

Das Problem, auf das Ibn Sina als Aristoteliker und gläubiger Muslim stieß, sollte für die gesamte Scholastik prägend sein, nämlich das Problem des Verhältnisses zwischen Glauben und Vernunft. Natürlich konnte Aristoteles die der Erfahrung unzugänglichen Glaubenswahrheiten nicht kennen. Aber wie verhielt es sich mit den Aussagen des Aristoteles über die der Erfahrung und der natürlichen Logik zugängliche Sachverhalte? Konnten sie vom Glauben her widerlegt werden? Wieder und wieder zeigte sich, dass Aristoteles recht hatte. Nun musste die Frage umgekehrt lauten: Inwiefern ist es möglich, die Glaubenswahrheiten im Bereich der natürlichen Vernunft so zu verstehen, dass sich kein Widerspruch zwischen Glauben und Vernunft ergab? Denn es wäre eine geradezu blasphemische Annahme, Gott habe den Menschen mit einer Vernunft ausgestattet, die ihn zu falschen Ergebnissen führe. Man müsste die Vernunft als vom Teufel stammend ansehen (und damit, wie es die Manichäer taten, Gottes Allmacht infrage stellen; das aber würde bedeuten, den Monotheismus aufzugeben). Die Vernunft mag defizitär und nicht in der Lage sein, die ganze Wahrheit zu erfassen, aber sie kann nicht als prinzipiell falsch angesehen werden, ohne Gott selber zu beleidigen. Doch selbst wenn Aristoteles in dem einen oder anderen Punkt zu korrigieren war, musste das Instrument zur Korrektur die natürliche Vernunft sein; eine bloße Gegenüberstellung zur Glaubenswahrheit war nicht überzeugend. Auf diese Weise geriet die Philosophie gegenüber der Theologie unter der Hand zur Leitwissenschaft.

Die konservativen Glaubensvertreter schäumten vor Wut. Man warf Ibn Sina vor, direkt und ohne die Vermittlung des Propheten zu Gott zu sprechen. Niemand aber zweifelte daran, dass Ibn Sina einen direkten Draht nach oben hatte. Nicht ohne Grund führt eine Linie von ihm auch zum mystischen Sufismus.

Von Ibn Sina gibt es eine Autobiographie, aufgezeichnet in der Ich-Form von seinem treuesten Schüler und durch diesen für die letzten Lebensjahre Ibn Sinas in der dritten Person ergänzt. Doch diese Autobiographie wirft einige Fragen auf, denn an entscheidenden Wendepunkten des Lebens von Ibn Sina wird sie bemerkenswert lakonisch. Die Auflösung dieser Probleme bereitet auch darum Schwierigkeiten, weil die Quellenlage dürftig ist. Viele „Zeugnisse“ zu Ibn Sinas Leben und den politischen Gegebenheiten stammen aus späteren Zeiten.

Ibn Sinas Geburts- und Heimatstadt ist Buchara (heue Buxoro, Usbekistan). Sein Vater hatte eine nicht genauer bezeichnete Stellung am Hof der persischen Dynastie der Samaniden. Er wuchs inmitten von Gelehrsamkeit und mit einem ungeheuren Hunger nach Wissen auf. Mag auch das Pensum der Bücher, die er gelesen habe, in seiner Autobiographie übertrieben sein, so steht fest, dass er sich mit noch nicht einmal zwanzig Jahren einen solchen Ruf als Arzt erworben hatte, dass ihm der Herrscher in einer schweren gesundheitlichen Krise seine Behandlung anvertraute. Der Beruf des Arztes ist es auch, der seinen Ruf über Jahrhunderte hinweg begründen wird. Als Arzt verdient er sich die meiste Zeit des Lebens den Unterhalt, und seine ärztliche Kunst rettet ihm in manchen Gefahren den Kopf, wenn er mit seiner Freigeisterei Verfolgung provoziert, aber im entscheidenden Augenblick den Herrscher heilt. Dennoch ist nicht die Medizin, sondern die Philosophie seine Hauptleidenschaft, genauer gesagt diejenige des Aristoteles, und sie bringt ihn in immer neue Schwierigkeiten.

Mehrfach teilt Ibn Sina in seiner Autobiographie dem Leser kurz mit: „Da forderte mich die Not auf, fortzuziehen.“ Genauere Gründe werden nicht genannt. Das erste Mal fordert die Not Ibn Sina als jungen Erwachsenen auf, fortzugehen, kurz nach dem Tod des Vaters und dem Antritt von dessen Nachfolge im Dienst am Hof. Turkische Karachaniden-Herrscher hatten Buchara übernommen. Während der darauffolgenden Jahre der Flucht scheint Ibn Sina sich der Sache des letzten Samaniden-Prinzen verschrieben zu haben, die letztlich scheitert. Darauf später noch einzugehen, erschien Ibn Sina offenkundig nicht opportun.

Doch der Grund für Ibn Sinas Nebelkerzen in seiner Autobiographie könnte weit tiefer liegen, wie Günter Lüling (1928–2014) in einer umstrittenen Rekonstruktion von „Avicennas buddhistischer Herkunft“ darstellt. Was überhaupt heißt „Ibn Sina“? „Ibn“ steht im Arabischen für „Sohn“ (da die Muttersprache von Ibn Sina Persisch war, müsste er, nebenbei bemerkt, „Pur Sina“ heißen), „Sohn des Sina“. Nun hieß Ibn Sinas Vater nicht „Sina“, und überhaupt ist „Sina“ weder ein persischer noch ein arabischer Name. Dagegen bedeutet „Sina“ etwas in der zoroastrischen Tradition, die in der Gegend in vorislamischer Zeit lebendig war, nämlich „Gelehrter“. Die Islamisierung Bucharas lag noch nicht lange zurück, und die Samaniden scheinen religiöse Toleranz praktiziert zu haben. Ebenso begegnet einem das Wort „Sina“ im Buddhismus Zentralasiens. Aufgrund der Etymologie und weiterer Indizien übersetzt Lüling den Namen „Ibn Sina“ als „Sohn des Buddhalehrers“.

In seiner Autobiographie bezeichnet Ibn Sina seinen Vater nebst seinem Bruder als Anhänger der Ismailiten (eine Abspaltung von den Schiiten), gibt sich selber aber als „nicht überzeugt“ aus. Warum hat Ibn Sina seinen Vater ohne ersichtliche Not einer heterodoxen islamischen Lehre zugeordnet, die ihn selber auch später noch als sein Sohn in Teufels Küche bringen konnte? Möglicherweise hat er damit einerseits deutlich gemacht, warum seine Familie durch die Machtergreifung der Karachaniden bedroht war, andererseits aber vertuscht, dass sein Vater nicht einmal dem islamischen Glauben anhing.

Ob nun eine solche direkte Verbindung von Ibn Sina zu vorislamischen Traditionen bestand oder nicht, fest steht, dass das Buchara der Jugend Ibn Sinas jedenfalls von einer größeren geistig-religiösen Offenheit geprägt war, als es die spätere Dogmatisierung des Islam zulassen und wahrhaben wollte. Ibn Sina ist nicht nur nicht vom Ismailismus überzeugt, sondern wahrt überhaupt Distanz zu allen Richtungen innerhalb des Islams. Seine Philosophie ist nahezu überkonfessionell, weshalb sie eben ohne Schwierigkeiten von jüdischen und christlichen Philosophen wie Abaelard (siehe Teil 13 dieser Serie) und Maimonides (1135–1204) rezipiert und in ihre eigenen Lehren integriert werden konnte. Auch Thomas von Aquin (siehe Teil 14 dieser Serie) fand am Gottesbegriff von Avicenna nichts auszusetzen. In seinem „Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen“ lässt Abaelard einen Muslim als Philosophen auftreten, der eine von jeder schriftgestützten Offenbarung unabhängige Erkundung der Wahrheit durch die Vernunft vertritt. Für diese Haltung und ihre Zuordnung zum Islam kommt vor allem Ibn Sina als Vorbild infrage.

Die Provokation, die Ibn Sina für den Islam (wie Abaelard für das Christentum) darstellte, zeigt sich in der Anekdote, die verschiedenen Sufi-Meistern zwischen dem zwölften und 15. Jahrhundert in den Mund gelegt wird, der Prophet Mohammed habe sich in deren Traum über Ibn Sina beklagt, also Jahrhunderte nach der Lebenszeit von Ibn Sina: „Er tritt zu Gott ohne meine Vermittlung in Verbindung.“ Dass Ibn Sina eine direkte Beziehung zu Gott unterhielt, konnte auch der rechtgläubigste Muslim nicht bestreiten. An Referenzen zu Avicenna fehlt es auch in der heutigen arabischen Welt nicht. Ruhollah Chomeini forderte Michail Gorbatschow in einem Brief dazu auf, das Studium arabischer Autoren in den russischen Bildungseinrichtungen zu fördern, und zählte unter anderen Avicenna auf, etwas, das ihm von radikaleren Islamisten umgehend zum Vorwurf gemacht wurde. Er bewahrte auch das von Schah Pahlavi 1952 in Hamadan erbaute Avicenna-Mausoleum vor der Zerstörung durch revolutionäre Eiferer. Dennoch steht die (scheinbare) Verehrung, die Ibn Sinas Name heute auslöst, im umgekehrten Verhältnis zum Studium und zur Rezeption seiner Werke, die weiterhin nahezu unzugänglich sind.

Ibn Sina steht somit für beides, für die Offenheit eines von religiösen Zwängen befreiten kosmopolitischen und aufklärerischen Denkens sowie für dessen Gefährdung und Unterdrückung durch die realpolitischen Machtverhältnisse. Gestern wie heute.


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