28. August 2024 06:00

Freiheitskampf Der Traum von der freien Republik

Wie Michael Gaismair vor 500 Jahren die Revolution plante

von Oliver Gorus

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Bildquelle: Jochen Netzker / Shutterstock Südtiroler Wipptal: Heimat von Michael Gaismair

Wenn Sie heute über die Brennerautobahn nach Südtirol das Wipptal hinunterfahren, kommen Sie als Erstes an eine weitläufige Talkreuzung. Nach Süden führt das Wipptal weiter Richtung Brixen, von Westen mündet das Ridnauntal hinein, von Osten das Pfitschertal. Inmitten dieses breiten Talkessels sehen Sie schon von weit oben die Gemeinde Sterzing. Der letzte Berg rechts der Eisack, bevor sie nach Sterzing hinunterfahren, ist der Rosskopf, an seinen runden Hängen liegen die Höfe von Tschöfs. Hier wurde vor 534 Jahren, kurz bevor Kolumbus Amerika entdeckte, der Michael Gaismair geboren.

Sein Vater besaß einige der rund 70 Silberminen der Gegend und war über den Bergbau reich geworden. Das ermöglichte es Michael, in Sterzing auf die Lateinschule zu gehen und danach an der bischöflichen Schule von Brixen zu studieren, wo der berühmte Nikolaus von Kues an der Mosel eine Generation zuvor gelehrt hatte. Mit großer Wahrscheinlichkeit beschäftigte sich Michael dort mit der Idee des Nikolaus von der Konkordanz, also der Eintracht. Nikolaus hatte nach einem Weg gesucht, wie verschiedene Gruppen und Individuen trotz unterschiedlichster Weltsichten einträchtig und friedlich zusammenwirken könnten. Mit anderen Worten: Er entwickelte eine pluralistische Gesellschaftstheorie. Sogar eine aus heutiger Sicht höchst moderne und interessante Gesellschaftstheorie.

Die Eintracht des Cusanus

Einer der Grundgedanken war, dass Gesetze stets der ausdrücklichen Zustimmung der von ihnen Betroffenen bedürfen. Das ist nichts anderes als ein Gesellschaftsvertrag, und zwar einer, in den man nicht einfach so hineingeboren wird, sondern den man außerdem auch noch unterschreibt. Freiwillig.

Außerdem mussten sich seiner Ansicht nach nicht nur die „Niederen“, sondern auch die „Obrigkeit” an ebendiese Gesetze halten. Das ist der Kerngedanke des Rechtsstaats und des freiheitlichen wie christlichen Grundsatzes, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind.

Er trat für eine Wahlmonarchie ein; hier liegen die Grundzüge des demokratischen Prinzips. Und er wollte eine jährlich zusammentretende Ständeversammlung, um Meinungsunterschiede der verschiedenen Bevölkerungsgruppen verbal auszutragen und so die Konkordanz herzustellen. Das ist natürlich die Idee des Parlaments.

Insbesondere hegte Nikolaus, der selbst aus einer bürgerlichen Familie stammte, ein großes Misstrauen gegenüber dem Adel, dessen latente Willkür und dessen Sucht nach Privilegien er sehr kritisch sah, weil sie seiner Vorstellung vom gerechten Staat zuwiderliefen. Nikolaus würde heute mit großer Wahrscheinlichkeit kein gutes Haar an den Berufspolitikern lassen, die auf Kosten der Steuerzahler leben, deren Geld willkürlich umverteilen und sich der juristischen Verantwortung für ihre Taten und Unterlassungen durch Privilegien entziehen.

Natürlich war Nikolaus ein Kind seiner Zeit und lehrte auch die Unfehlbarkeit der römisch-katholischen Kirche und des Papstes, aber dennoch waren einige seiner Gedanken für damalige Verhältnisse revolutionär und seiner Zeit weit voraus.

Michaels Aufstieg

All dies muss den jungen Michael Gaismair fasziniert haben. Gleichzeitig sah er durch das Gewerbe seines Vaters das Elend der rund 1.000 schwer schuftenden Bergbauern in den Silberminen von Sterzing. Als junger Mann verfasste er darum mit elf weiteren jungen Männern eine Beschwerde an den Kaiser, in der er eine Verbesserung der Verhältnisse im Bergbau forderte: Schon mit Anfang Zwanzig muckte er auf!

Als Nächstes arbeitete er sich als Schreiber, also als Verwaltungsangestellter nach oben und erhielt dadurch nach und nach Einblick in privilegierte fürstliche Lebensweisen. Auf der Burg Prösels bei Bozen arbeitete er mit Ende zwanzig für den Tiroler Landeshauptmann Leonhard von Völs, der auch Gerichtsvorsitzender war und seine adeligen Vorrechte knallhart zu seinem persönlichen Vorteil einsetzte.

In den etwa sechs Jahren bei Leonhard bekam Michael intensive Einblicke in die realen Verhältnisse von Recht und Politik. Er sah den Staat des späten Mittelalters unmittelbar am Werk. Seine nächste Station war der Posten des Sekretärs bei Fürstbischof Sebastian Sprenz in Brixen. Hier, beim Klerus, war alles noch mal eine Stufe krasser: die Verschwendung, die Völlerei, die Maßlosigkeit des bischöflichen Lebens und die Unterdrückung der Untertanen und die gnadenlose Anwendung von Folter als Verhörmethode des Gerichts.

Und dann brach in Süddeutschland im Hegau unweit des Bodensees der Bauernkrieg aus, entfachte Süddeutschland und fegte über das Wipptal nach Südtirol hinunter.

Der Ausbruch des Bauernaufstands in Südtirol

Im Jahr 1524, vor etwa 500 Jahren, hatte Bischof Sprenz der Fischerfamilie Päßler aus dem Antholzertal willkürlich das Fischereirecht und damit die Existenzgrundlage entzogen, um dieses Recht einer anderen Familie seiner Gunst zu übertragen. Dagegen hatte die Päßlers protestiert, was dazu führte, dass Sprenz den Familienvater foltern ließ, wogegen sein Sohn Peter revoltierte. Sprenz ließ Peter gefangen nehmen und kerkerte ihn in Brixen ein. Ein Jahr später, im Mai 1525, sollte Peter Päßler hingerichtet werden. Michael Gaismair war dabei.

Aber die Hinrichtung wurde nicht durchgeführt, denn plötzlich war der Richtplatz überflutet von bewaffneten Bauern. Sie nahmen den gefesselten Peter mit und befreiten ihn aus seinen Ketten. Den Bischof Sprenz jagten sie davon, sodass er auf seine Burg in Bruneck fliehen musste, wo er wenig später krank wurde und verstarb.

Die Bauern erbeuteten eine Schatztruhe, deren Inhalt sie zur Finanzierung von Waffenkäufen und zur Bezahlung von Söldnern einsetzen. Sie wählten sofort nach der Eroberung des Brixener Stifts den Schreiber Michael Gaismair zu ihrem Anführer. Und dieser hatte nur wenige Tage später nach der Plünderung des Klosters Neustift bei Brixen eine ausgearbeitete Rede parat, in der er in 30 Artikeln eine ausgetüftelte Liste von Forderungen und Beschwerden des Volkes gegenüber der Obrigkeit aus Klerus und Adel vortrug.

Der Gedanke liegt nahe, dass Gaismair bereits einige Zeit zuvor zu den Bauern übergelaufen war und bei der Befreiung von Peter Päßler als Agent der Bauern mitgeholfen hatte, weil er die Willkür und die Herrschsucht des ersten und zweiten Stands nicht länger ertragen hatte.

Politiker tun, was Politiker tun

Die langjährige Vorbereitung seiner gesellschaftstheoretischen Ideen zeigte sich auch darin, dass er im Sommer die Einberufung des Tiroler Landtags in Innsbruck erzwang und dort konsistent Forderungen der Bauern gegenüber dem Regenten Erzherzog Ferdinand I. vortrug. Unter anderem wollte er die Gleichheit vor dem Gesetz – das war der revolutionäre christliche Gedanke, den schon Nikolaus von Kues gehabt hatte, mit dem die fürstlichen Privilegien abgeschafft werden sollten.

Außerdem forderte er die Wahl der Richter durch das Volk, um der fürstlichen und bischöflichen Willkür ein Ende zu bereiten. Wenn man bedenkt, dass auch heute noch in der Bundesrepublik Deutschland in einer gruseligen Kontinuität die Richter nicht vom Volk, sondern von den Parteifürsten ernannt werden, wird klar, wie eisenhart sich die Machthaber seit Hunderten von Jahren weigern, die staatliche Monopolisierung des Rechts aufzugeben und in die Hände derer zu legen, die davon betroffen sind: der Bürger, die nichts als Gerechtigkeit wünschen.

Gaismair forderte außerdem die Abschaffung der weltlichen Macht der Kirche, deren Grausamkeit er selbst miterlebt hatte. Pfarrer sollten durch das Volk gewählt werden und Abgaben an die Kirche nur noch für soziale Zwecke, nicht aber zur Bereicherung der Kirchenfürsten geleistet werden.

Aber wie auch in Süddeutschland: Die Fürsten gaben ihre Macht nicht einfach her. Der Herrscher Ferdinand I. kam Michael zum Schein ein wenig entgegen, damit er erst mal Ruhe gab, lockte ihn dann aber in einen Hinterhalt und ließ ihn verhaften, nahm seine Zusagen zurück und hetzte seine Soldaten auf die Bauern.

Gaismair aber konnte aus dem Innsbrucker Gefängnis fliehen, hastete zu seiner Familie nach Sterzing und dann weiter in die Schweiz. Dort traf er den Reformator Ulrich Zwingli. Dessen reformatorischen Gedanken und die Erfahrungen mit dem fiesen Ferdinand machten aus dem Reformer Gaismair den radikalen Revolutionär Gaismair.

Eine frühe Verfassung

Er engagierte sich militärisch und gesellschaftstheoretisch. Zum einen versuchte er einen Feldzug zu organisieren, für den sich die Städte Zürich, Straßburg, Konstanz und Lindau mit den Allgäuern verbünden sollten, um nach Tirol zu stürmen und dort die Republik auszurufen. Zum anderen entwarf er zur Vorbereitung der Revolution die Tiroler Landesordnung. Und das war nichts anderes als ein freiheitlicher Verfassungsentwurf. Vor 500 Jahren!

Dieser Entwurf ging weit über die berühmten Zwölf Memminger Artikel der aufständischen Bauern Süddeutschlands hinaus. In seiner Tiroler Landesordnung jagte er den ersten und zweiten Stand vom Hof, weil Adel und Klerus im Widerspruch zu Gottes Wort stünden. Die Leibeigenschaft sollte gänzlich abgeschafft werden. Die Pfarrer sollten von der Gemeinde gewählt werden, im Gottesdienst die Landessprache verwendet werden, Klöster sollten in soziale Einrichtungen wie Altenheime und Krankenhäuser umgewidmet werden. Auch die Richter sollten vom Volk gewählt werden, und die Regionen sollten sich selbst verwalten: Damit wollte er statt eines Zentralstaats ein dezentrales, subsidiäres republikanisches Verwaltungssystem errichten – auch das höchst modern.

Er erdachte ein Sozialwesen, ein Bildungswesen, innerhalb der Republik sollten alle Zölle entfallen, um freien Handel zu ermöglichen. Gleichzeitig enthielt sein Gesellschaftsentwurf aber auch sozialistisch anmutende Elemente, wie etwa die Vergesellschaftung von Bodenschätzen oder Handelsunternehmen, die Einführung von Gewinnobergrenzen und ein Grundeinkommen für jeden Arbeitenden, also quasi ein Mindestlohn.

Erfolg hatte Michael Gaismair allerdings nicht. Sein Feldzug scheiterte und die Fürsten trachteten nach seinem Leben. Nach mehreren Attentatsversuchen, die an seiner starken privaten Leibwache scheiterten, wurde er schließlich im Alter von 42 Jahren auf den Stufen vor seinem Anwesen in Padua mit je einem Messerstich für jedes seiner Lebensjahre von gedungenen Mördern erstochen.

Es ist verblüffend, wie weit der Südtiroler Michael Gaismair vor 500 Jahren seiner Zeit voraus war. Er hatte es doch tatsächlich gewagt, einige der theoretischen Ideen des Genies Nikolaus von Kues zur Anwendung in der Praxis herunterzubrechen und den mutigen Versuch zu wagen, diese Ideen in Tirol zu realisieren.

Oder anders gesagt: Es ist beschämend, dass wir heute mit der Befreiung des Individuums von Herrschaft auch nicht viel weiter sind als er damals. Wenn er wüsste, dass wir uns auch heute noch Gesetzen unterordnen müssen, denen wir nie zugestimmt haben, dass wir uns auch heute noch einer Klasse von privilegierten Fürsten beugen müssen, nämlich dem neofeudalen Parteiadel, dass wir auch heute noch unsere Richter nicht selbst wählen können, sondern diese von den Parteifürsten vorgesetzt bekommen und dass wir heute sogar mehr als die Hälfte unseres Einkommens einem Staat abgeben müssen, der nie in der Geschichte der Menschheit jemals fetter war – er wäre sicherlich bitter enttäuscht.


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