06. September 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 14 Thomas von Aquin: Die Summe des Denkens

Die Politik des Unpolitischen

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Picryl Italienischer Dominikaner Thomas: „Die Philosophie ist die Dienerin der Theologie“

Die herrliche kaiserlose Zeit, Interregnum. Die Zentralmacht liegt am Boden, Wirtschaft und Wissenschaft brummen. Freie Städte schießen aus dem Boden. Den Hippies der Bettelorden gelingt es, dass die Amtskirche sie, statt sie zu verfolgen, duldet, wenn auch zähneknirschend. Der Kult um Maria, die Mutter Gottes, zieht weite Kreise. Die Gotik im Kirchenbau verbindet irdische Pracht mit höchster Spiritualität. Die bodenständische Philosophie des Aristoteles (Teil 8 der Serie) erobert die Universitäten im Sturm, die zunächst unter den Fittichen der Dominikaner (damals Predigerorden genannt) entstanden, bevor sie sich emanzipieren konnten. Und ein Philosoph, der der alles zusammenführte und über allen thronte: Thomas von Aquin (1225–1274).

Auf der einen Seite stand die amtskirchliche Orthodoxie, die den ganzen Spuk am liebsten verboten hätte und die darauf beharrte, dass allein das Konsultieren der Heiligen Schrift auf alle Fragen Antworten hätte; allenfalls sollte es erlaubt sein, Augustinus (Teil 10 der Serie) zu Rate zu ziehen. Vor allem aber galt ihr die wortgetreue Befolgung päpstlicher Weisungen als das Zentrum des Glaubens. Thomas wusste, dass man damit nicht weiterkommen würde. Da Abaelard (Teil 13 der Serie) der Ketzerei verdächtig war, vermied Thomas zwar sorgfältig jede direkte Bezugnahme, aber zweifellos kannte er seine Schriften und hatte seine Lektion gelernt: Die Aussagen der Heiligen Schrift und der Kirchenväter sind, jedenfalls oberflächlich gelesen, in sich so widersprüchlich, dass man ohne Interpretation nicht auskommt. Und dann tauchten immer mehr und immer neue Fragen und Herausforderungen auf. Wie war ihnen ohne eigenes Denken zu begegnen?

Auf der anderen Seite standen die Revolutionäre des Aristotelismus. Ihnen schien es so, dass die Vernunft des weltlichen Denkens zu anderen Schlüssen komme als die überlieferten Wahrheiten des Glaubens. Es musste demnach zwei getrennte Wahrheiten geben: die Wahrheit der Philosophie und die offenbarte Wahrheit. Dass sie die offenbarte Wahrheit überhaupt noch Wahrheit nannte, war reine Formsache. Mit ihr lohne sich gar keine ernsthafte Auseinandersetzung, einzig die auf dem Wege der Vernunft erlangte Wahrheit war es wert, sich mit ihr zu beschäftigen.

Aus der Lehre des Abaelard hatte sich die scholastische Methode entwickelt. Sie bestand darin, dass die Studenten dem Magister oder die Magister sich untereinander Fragen stellten. Die Frage hatte eine kühne und herausfordernde Hypothese zu sein, die dem bisher für wahr Gehaltenen widersprach, und zwar mit guten Gründen. Der Ausgangshypothese wurde die meist im Einklang mit der Tradition stehende Gegenthese beigestellt. Der Magister hatte nun zu antworten: Was war richtig? Was entsprach der Vernunft? Als geschickt galten die Antworten, die Ausgangshypothese und Gegenthese zu einer Synthese verbanden. Thomas von Aquin wurde zum Star dieser scholastischen Methode. Niemand verstand sich so gut auf Synthesen wie er.

Zwei einander widersprechende Wahrheiten könne es nicht geben, sagte Thomas. Wenn die Vernunft zu Ergebnissen gelangen würde, die dem Glauben widersprechen, dann hätte Gott uns belogen: Er hätte uns entweder mit einer Vernunft ausgestattet, die zu falschen Ergebnissen gelangt, oder er würde uns auffordern, etwas zu glauben, was falsch ist. Beides kann ein Gläubiger aber von Gott nicht denken. Wenn es uns so scheint, als ergebe sich ein Widerspruch zwischen Vernunft und Glauben, dann müssen wir einerseits den Weg der Vernunft überprüfen, ob uns ein Fehler unterlaufen ist, andererseits den Glauben dahingehend auslegen, dass er mit der Vernunft in Einklang kommt. Das aber entspricht genau dem Programm, das Abaelard rund hundert Jahre vorher entwickelt hatte. An der formalen Struktur der „disputatio“ ist bemerkenswert, dass sie bis heute unübertroffen ist in ihrer Offenheit, sich allen Fragen und möglichen Standpunkten zu stellen, und in ihrer Verpflichtung, den Andersdenkenden ernst zu nehmen und korrekt wiederzugeben.

Aus den Überlegungen des Thomas von Aquin ergab sich ein knallhartes Kriterium für Glaubenswahrheiten: Sie dürfen unter keinen Umständen der Vernunft widersprechen. Es kann nicht sein, dass Gott uns etwas zu glauben aufgibt, das in Widerspruch zu der Vernunft steht, die wir von ihm haben. Freilich können sie über die Vernunft hinausgehen, und das tun sie überall dort, wo sie den Bereich der menschlichen Erfahrung verlassen. Denn die Vernunft kann nur in diesem Bereich Aussagen machen. Das knüpfte an Aristoteles an (und verneinte die Philosophie Platons, an die Augustinus anknüpfte) und nimmt Kant (Teil 22 der Serie) vorweg.

Die Folgen dieses Kriteriums gehen weit über die Theologie hinaus: Glaubenswahrheiten können unter keinen Umständen für Nichtgläubige verbindlich sein. Da sie auf Offenbarung basieren und die Offenbarung eine Gnadengabe Gottes ist, stellt die Verbindlichmachung von Glaubenswahrheiten bei Nichtgläubigen sogar ein Ungehorsam gegen Gott dar. Denn wenn Gott sich jemandem nicht offenbart hat, dann ist das sein Wille, und es widerspricht seinem Willen, den Ungläubigen zum Glauben zwingen zu wollen – was natürlich sowieso nicht möglich ist, da unter Zwang kein Glauben erfolgen kann. Und hier wird es heikel für den Gesetzgeber, sei er christlich oder gehöre er sonst einem Glauben an: Gesetze, die auf einem Glauben beruhen, sind nur für die Gläubigen verbindlich, für niemanden sonst. Oder andersherum ausgedrückt: Verbindlich sind nur aus der Vernunft gefolgerte Gesetze. Sogenannte positive Gesetze gelten nicht über den Kreis derer hinaus, die ihnen zustimmen.

Obwohl Thomas sich nur ganz am Rande zu politischen Fragen oder zur Sozialstruktur einer Gesellschaft geäußert hat, ist seine Philosophie eminent politisch und hat in der Weise auch gewirkt: Er gibt dem Widerstand der Unpolitischen gegen das Politische eine Sprache. Seine Botschaft an die Machthaber der Welt lautet unmissverständlich: Bleibt uns vom Leib und lasst uns in Ruhe!

Eine kleine Schrift über „die Herrschaft der Fürsten“ (um 1271) blieb Fragment. In einer bemerkenswerten Passage dieser Schrift droht er den Fürsten, die Verbrechen begehen, darunter vornehmlich das Ausplündern der Bevölkerung und die Hinrichtung von Unschuldigen, nicht nur die schrecklisten Höllenqualen an, sondern auch die Beseitigung durch Attentate. Diese Passage wurde historisch wirksam in der Lehre vom gerechtfertigten Tyrannenmord. Um es so weit nicht kommen zu lassen, rät er „dem Volk“, sich bei der „Wahl des Königs“ vorzusehen; wie das möglich sein soll und welche institutionellen Voraussetzungen gegeben sein müssen, erklärt er nicht, besonders da er mit Hinweis auf Aristoteles die Demokratie für eine ungeeignete politische Organisationsform hält. Es findet sich also einiges Unausgegorenes in dieser Schrift. Am meisten begeistert mich Thomas’ Bemerkung an einer anderen Stelle, Fürsten, in deren Herrschaftsbereich Verbrechen wie Straßenräuberei zu beklagen seien, seien dazu verpflichtet, die Steuern zurückzuzahlen, weil sie ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung nicht eingehalten haben.

Die atheistische liberale Philosophin Ayn Rand (1905–1982) galt bekanntlich eine herrlich vereinfachte Philosophiegeschichte: Aristoteles – Thomas von Aquin – Ayn Rand. Insbesondere hob sie den Gegensatz zu Augustinus hervor. Das ist freilich eine augenzwinkernde Interpretation, denn niemals hätte Thomas sich anheischig gemacht, auch nur ein Wort der Kritik am Kirchenvater Augustinus zu äußern. Die Auseinandersetzung verlief sehr indirekt, aber im Rückblick tritt die Abgrenzung doch sehr deutlich zutage. Die unheilvolle Verquickung von frühchristlicher mit platonischer Leibverachtung steht im Gegensatz zum aristotelischen Hedonismus: Wenn Aristoteles die Mäßigung propagierte, so stand das Interesse am Wohlergehen im Fokus, denn Unmäßigkeit schadet dem Leib. Es ging Aristoteles gerade nicht um Askese oder Selbstkasteiung, um Ablehnung des Fleisches, im Gegenteil. Auch hier fiel es Thomas nicht schwer, Aristoteles mit dem Glauben in Übereinstimmung zu bringen: Denn immerhin haben wir den Leib von Gott. Ihn zu vernachlässigen oder seine Bedürfnisse abzuweisen, bedeutet mithin, ein Geschenk Gottes gering zu schätzen.

Thomas hatte auch nichts übrig für die Entgegensetzung von Vernunft und Leib, wie sie sich auch im Evangelium findet: Der Geist ist willig, der Leib ist schwach (Markus 14,37-38). Das mag vorkommen, ist aber nicht die anthropologische oder existenzielle Verfasstheit des Menschen. Wenn Gott uns nicht belügt und wenn sowohl Geist (Vernunft) und Leib seine Geschenke sind, so können sie nicht in einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit miteinander stehen, sondern nur aus äußerlichen Gründen bisweilen aus dem Gleichgewicht kommen.

Ein Bravourstück an dialektischer Auslegungskunst zeigt Thomas bei der Behandlung von dem berühmten Paulus-Wort, demzufolge die gläubigen Christen dazu verpflichtet seien, jeglicher Obrigkeit zu gehorchen (Römer 13, 1 bis 3) und sei sie noch so schlecht, weil diese Obrigkeit von Gott sei; wer nicht gehorche, habe die Strafen zu tragen. Thomas bestätigt nun, dass auch die schlechte Obrigkeit von Gott sei, wie alles, was geschehe, was aber nicht heiße, dass Gott mit der schlechten Obrigkeit einverstanden sei. Und sicherlich wisse jeder, dass die schlechte Obrigkeit die Ungehorsamen zu strafen pflege, nichts anderes habe der Apostel gemeint. Niemand müsse der schlechten Obrigkeit folgen, es sei denn aus Angst vor der ungerechten Strafe.

Die Abstinenz an politischen Fragen im Werk von Thomas interpretiere ich als einen Ausdruck davon, dass es sich beim Interregnum um eine in nur geringem Maß politisierte Zeit gehandelt hat. Nicht obwohl, sondern gerade weil es eine Zeit schwacher Zentralgewalt war, blühten Kultur, Handel, Städte, Gilden, die Hanse, erste Universitäten.

Die Frage lautet, warum der Weg der Dezentralisation dann doch verlassen wurde und Europa zur zentralstaatlichen Verfasstheit zurückkehrte. Die lokalen Fürsten waren vielfach keine Menschenfreunde und die Bevölkerung hatte unter ihnen zu leiden. Die Städte wünschten sich, „reichsfrei“ zu werden, keinem Fürsten, sondern dem Kaiser oder König allein unterstellt zu sein, der weit entfernten Zentralmacht, deren Infrastruktur so wenig entwickelt war, dass viel Freiraum blieb – zumindest mehr als unter der Knute des Fürsten vor Ort. Die Kirche, das Gegengewicht zur weltlichen Macht, war zumindest idealtypisch (wenn auch noch nicht in der Realität) zentralistisch ausgerichtet. Wer unter den Abgaben an die Kirche litt oder sich aufgrund der Verfolgung der Ketzer seiner religiösen Freiheit beraubt sah, wünschte sich eine angemessene Entsprechung an einem weltlichen Gegengewicht. Es gab also von der damaligen Perspektive aus gesehen gute Gründe, die kaiserlose Zeit tatsächlich als schrecklich anzusehen und eine neue Zentralgewalt herbeizusehen; eine Zentralgewalt, von der allerdings herbeigesehnt wurde, dass sie eben keine Gewalt ausübe wie die lokalen Fürsten oder die internationale Kirche.

Die Wiederverstaatlichung wurde von einem Detail begleitet, das aktueller nicht sein könnte. In die Zeit des letzten Quartals des 13. Jahrhunderts fallen die ersten weltlichen Bestrafungen von Homosexualität. Die Kirche hatte Homosexualität zwar immer moralisch abgelehnt, jedoch nicht als durch die weltliche Macht zu bestrafen angesehen. Der Schweregrad lag deutlich unter etwa als echte Verbrechen bezeichnete Delikten wie Wilderei. Noch Thomas ordnet alle sexuellen Verstöße als minder wichtig ein, weil sie „nicht gegen Gott“ gerichtet seien.

Aktuell an diesem Detail in der Wiederverstaatlichung ist, dass etwa die Gewalttätigkeit, die den zur Allmacht strebenden Islamismus kennzeichnet, sich eben auch in der brutalen Verfolgung von Homosexuellen Ausdruck verschafft. Der Regulierungswahn der Europäischen Union ist zwar vordergründig nicht so unmittelbar brutal wie der Islamismus, aber auch er zeichnet sich durch vielfältige Eingriffe in das Privatleben aus, sei es das Rauchen, sei es das Staubsaugen. Eine etablierte Zentralgewalt wie die EU kommt mit weniger unmittelbarer Brutalität aus, weil sie über ganz andere Mittel verfügt, um sich durchzusetzen. Dennoch steht auch hier hinter jedem Verbot die Drohung, bei Weigerung oder Widerstand Waffengewalt einzusetzen. Doch die verängstigte Bevölkerung testet die Gewaltbereitschaft ihrer als allmächtig angesehenen Regierung nicht mehr.

Die beiden Lehren aus der Geschichte lauten in meinen Augen: Zum Ersten muss klar sein, dass es verhängnisvoll ist, sich an die Zentralgewalt zu wenden und sie zu stärken, wenn man einem lokalen Unrecht gegenübersteht. Dies geschieht gegenwärtig besonders bezogen auf die Bedrohung durch Migration und durch islamistischen Terror. Wer hier den Staat als Retter anruft, wird nicht von den Übeln befreit, sondern seiner Freiheit beraubt. Zum Zweiten muss klar sein, dass Dezentralisation nicht um den Preis der Errichtung lokaler Tyranneien erkauft werden darf. Denn dann besteht die natürliche Reaktion der geschundenen Bevölkerung darin, sich einen zentralen starken Staat zu wünschen.


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