Libertäre Philosophie – Teil 15: Meister Eckhart: Ich widerrufe (nicht)
Liebende Vereinigung mit Jesus
von Stefan Blankertz
1314 wird der Dominikanerorden wegen seiner Verbindung mit der Frauenmystik und mit den Beginen scharf attackiert. Die Beginen sind dezentral organisierte Laienvereinigungen, die ohne Gelübde zusammenleben. Oft sind es Witwen, aber auch jüngere Frauen, die aus einer unglücklichen Ehe fliehen oder einer Verheiratung entgehen wollen. Sie können den Konvent jederzeit verlassen, wenn sie einen guten Lebenspartner finden (ich sage Lebenspartner, denn nur wenn es um Vererbung von Titeln geht, wird geheiratet). Zum Ärger der Weltgeistlichen stiften die Beginen die Gläubigen an, bei den Bettelorden, also den Dominikanern oder Franziskanern, anstatt bei den Weltgeistlichen zu beichten (eine wichtige Einnahmequelle der Weltgeistlichen). Zudem erdreisten sie sich, theologische Fragen zu erörtern. Um eine Vorstellung des Ausmaßes der Beginenbewegung zu geben, hier eine Zahl: In Köln stellen sie knapp zehn Prozent der Stadtbevölkerung.
Der kirchenpolitische Organisator Eckhart von Hochheim (um 1260 bis 1327) erhält in diesem Zusammenhang einen Sonderauftrag. Ihm wird die Betreuung der süddeutschen Frauenklöster mit Amtssitz in Straßburg übertragen. Zu dieser Zeit zählen zur Ordensprovinz Teutonia ungefähr 65 Frauenklöster, und allein Straßburg beherbergt rund 85 Gemeinschaften von Beginen. Meister Eckhart hat insbesondere die Aufgabe, die von der Kirche als gefährlich betrachtete „liebende Vereinigung mit dem Herrn Jesus“ in geregelte Wege zu lenken, während er auf der anderen Seite ständig im Verdacht steht, sich zu weit an das Gedankengut anzunähern, das er unter Kontrolle halten soll.
Die extreme sinnliche Ausschweifung auch und gerade in der Askese, das Schwelgen in einer erotischen Gotteserfahrung, wie sie die Beginen pflegen, sind uns nach Aufklärung und Säkularisation fremd geworden. Die Beginenmystik, die über drei Jahrhunderte in vielen Teilen Europas verbreitet ist, setzt eine ältere Tradition fort. Aber dadurch, dass sie von Frauen getragen wird, die die Vereinigung mit Jesus Christus, ihrem „Bräutigam“ und „Gemahl“, in viel anschaulichere, ja drastischere Bilder kleiden können, bekommt sie einen neuen, fast verstörenden Akzent. Gleichwohl handelt es sich um Lebensentwürfe, die auch in der Gegenwart denen wertvolle Anregungen zu geben vermögen, die nach einem Sinn in all dem Leiden der Welt suchen, vor allem da die technische Entwicklung keineswegs diese Leiden vermindert, sondern teils sogar noch vermehrt hat.
Ein Beispiel für die Frauenmystik und die durch sie zelebrierte, uns heute abhandengekommene „Schönheit des Leidens“ sei genannt. Es geht um Frau M.s Sterben, geschildert von der heiligen Gertrud der Großen (1256–1303): „Während der Priester die Augen der Kranken salbte, sah Gertrud im Gebet den liebreichsten Herrn all seine göttliche Liebe, von der jemals sein honigfließendes Herz bewegt worden ist, mit einem Strahl göttlichen Glanzes auf sie hinkehren und ihr damit das Verdienst seiner allerheiligsten Blicke schenken. Da nun sah Gertrud, die eine innige Liebe zur Kranken hatte, deren Seele in Gestalt eines überaus anmutigen Mägdleins vor dem Herrn stehen und jeden Atemzug durch die allerheiligste Seitenwunde in sein honigströmendes Herz aushauchen.“
In dem zitierten Text, der nur einen Ausschnitt aus einer langen Sterbeszene darstellt, ist die Schönheit in die Alltagsrealität eingebunden. Es geht um Leiden, Schmerzen und Sterben. Nicht nur Frau M. leidet, auch die sie umgebenden Schwestern trauern, sie versuchen das Unvermeidliche, das Sterben ihrer geliebten Schwester, durch Arznei aufzuhalten. Selbst der Erlöser leidet, er offenbart sich mit seinen Wunden. Dass es sich um eine alte, sich in unerträglichen Schmerzen windende Frau handelt, hindert die Autorin nicht, sie als „überaus anmutiges Mädchen“ zu beschreiben, das von ihrem ebenfalls an seinen tödlichen Verletzungen leidenden Geliebten einen heißen erotischen Kuss empfängt, „süßer denn Honigbecher“. Was für eine heilende Welt!
Gegenüber der Beginenmystik betreibt Meister Eckhart eine rationalistische Abschwächung. Ein Beispiel ist die extreme Askese (neben Hunger- wurde bisweilen sogar Durstaskese eingesetzt), mit der Gottes Gnade gleichsam „verdient“ werden soll. Meister Eckhart lehnt dies ab, weil es sich dabei um den Versuch handeln würde, Gottes Gnade zu erzwingen. Andererseits bemerkt er, dass, wenn Gott nicht tue, was man wolle, es einem lediglich an Demut gebreche. Demut erzwingt demzufolge Gottes Gnade. Der Unterschied liegt nicht im Konzept, sondern in den Mitteln der Umsetzung.
Der starke Einfluss der Beginenmystik auf Meister Eckhart ist biographisch zwar gut belegt, wird aber in der Rezeption der Lehre von Meister Eckhart meist nur am Rande erwähnt. Dabei sind die Parallelen zwischen Beginenmystik und der mystischen Lehre Meister Eckharts an vielen Stellen offensichtlich. Die Abschwächung von Meister Eckhart besteht hauptsächlich darin, dass er die reale, körperlich sich manifestierende Liebesvereinigung mit dem „himmlischen Bräutigam“ zu einer rein platonischen Angelegenheit umdeutet. Damit vermindert er zwar den Skandal der geistlichen Erotik, den die Beginenmystik in der Amtskirche ausgelöst hat, versucht aber zugleich, viel von deren Sinngehalt zu bewahren.
Ursprünglich ist Meister Eckhart gar kein Mystiker, wie sein Lebensweg ebenso wie seine Schriften bis 1313 zeigen. Er sieht sich in der Nachfolge von Thomas von Aquin (Teil 14 dieser Serie) als vernunftorientierter Scholastiker. Erst nachdem er mit der Seelsorge der Straßburger Beginen beauftragt wird, wendet er sich mystischen Erfahrungen zu.
Nach heftigen kirchenoffiziellen Angriffen gegen Meister Eckhart wird er um das Jahr 1323 vom Ordensgeneral nach Köln geschickt, wahrscheinlich um das Studium dort neu zu ordnen. Er nimmt den theologischen Lehrstuhl wahr, den vor ihm Albertus Magnus innegehabt hatte. Neben seiner Lehre entfaltet er eine rege Predigttätigkeit. 1325 ernennt der Papst zwei „Visitatoren“ (Spitzel) für das Kölner Kloster der Dominikaner, weil hier angeblich „Unfriede und Missgunst, Nichtbeachtung der Ordensregeln und Willkür der Oberen gegen sittenstrenge Untergebene“ herrschen. Zu ungefähr der gleichen Zeit lässt Erzbischof Heinrich II. von Virneburg viele „Brüder und Schwestern vom Freien Geiste“ verurteilen, verbrennen oder im Rhein ertränken. Die Brüder und Schwestern sind eine sogenannte „schwärmerische“ Bewegung, deren zentraler Glaubenssatz darin besteht, dass ein Christ, gleich, was er auch tue, nicht sündigen könne. Obwohl Meister Eckhart nicht zu dieser Bewegung gezählt werden kann, muss er an diesem grausamen Vorgehen erkennen, dass er den Vorwurf wegen Ketzerei nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Und tatsächlich wird gegen ihn ein Verfahren vor der Inquisition eröffnet. Derweil predigt Meister Eckhart weiter. Es finden sich in seinen Predigttexten aus dieser Zeit eigenartigerweise keine offensichtlichen Bezugnahmen auf das Verfahren, dessen Rechtmäßigkeit er allerdings in einer Verteidigungsschrift bestreitet.
Nach weiteren Verhandlungen, in denen neue Listen mit angeblichen „Ketzereien“ Meister Eckharts aufgeführt werden, legt er am 24. Januar 1327 den Untersuchungsrichtern ein Schriftstück vor, worin er eine Entscheidung des Papstes fordert. Kurze Zeit später wendet er sich nun direkt an die Öffentlichkeit und lässt am 13. Februar 1327 im Anschluss an eine Predigt in der Dominikanerkirche von einem Mitbruder einen Widerspruch auf Latein verlesen, den er anschließend ins Deutsche übersetzt: „Ich, Meister Eckhart, Doktor der heiligen Theologie, erkläre, Gott zum Zeugen anrufend, vor allen, dass ich jeglichen Irrtum im Glauben und jede Abirrung im Lebenswandel immer, so viel es mir möglich war, verabscheut habe. Aus diesem Grunde widerrufe ich, sofern sich in dieser Hinsicht etwas Irrtümliches finden sollte, was ich geschrieben, gesprochen oder gepredigt hätte, privat oder öffentlich, wo und wann auch immer, unmittelbar oder mittelbar, sei es aus schlechter Einsicht oder verkehrten Sinnes: Dieses widerrufe ich hier öffentlich und vor Euch allen und jeglichen, die gegenwärtig hier versammelt sind, weil ich dieses von nun an als nicht gesagt oder geschrieben betrachtet haben will.“
Die Bewertung dieser Aussage ist umstritten. Zum einen ist Meister Eckhart dieser Widerruf als Feigheit ausgelegt worden. Zum anderen ist er ein juristisch geschickter Schachzug: Weil er vorsorglich „widerruft“, ohne einen konkreten Satz zu nennen, den er widerruft, macht er es unmöglich, dass er als Person verurteilt (und hingerichtet) werden kann, denn das können ausschließlich „verstockte“ Ketzer. Die Inquisition kann bloß noch die „ketzerischen“ Sätze benennen, die dann automatisch als widerrufen gelten. Allerdings ist dies eine gänzlich andere Haltung als die aus einem früheren Schriftstück, in dem Meister Eckhart ausdrücklich betont, er werde nichts widerrufen und brauche das auch nicht, weil er keine ketzerischen Gedanken geäußert habe.
Zwar wird Meister Eckharts Einspruch gegen die Anklage abgelehnt, es steht ihm jedoch frei, diesen negativen Bescheid vor dem Papst in Avignon anzufechten. So begibt er sich im Alter von um die 67 Jahren auf diese Reise nach Avignon, wo die Päpste zwischen 1309 und 1376 residieren. Aufgrund des unermesslichen Luxus, dem die Avignoner Päpste frönen, und der ungezügelten Korruption, die dort herrscht, wird diese Zeit später die „Babylonische Gefangenschaft der Kirche“ genannt werden. Was dann geschieht, liegt wiederum im Dunkeln. Die Bulle des Papstes, in der etliche Sätze von Meister Eckhart als ketzerisch verurteilt werden, trifft in Köln am 27. März 1329 ein. In dem Schreiben wird ganz nebenbei erwähnt, dass der Autor der verurteilten Sätze „verstorben“ sei. Wann das genau geschah, ist ebenso unbekannt wie der Ort der Beerdigung des Meisters.
In Dunkel hüllt sich seine Herkunft und in Dunkel hüllt sich sein Heimgang. Dazwischen wirkt er. Die Zeitgenossen sehen ihn als kirchenpolitischen Organisator – die Nachwelt als Urheber tiefster mystischer Weisheit.
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