06. Oktober 2024 06:00

Eine positive Vision Ablösung der Parteienherrschaft durch Einführung eines Zufallswahlsystems

Der Vorschlag eines Losverfahrens

von Antony P. Mueller

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Bildquelle: Bianca Grueneberg / Shutterstock Auslosen der Volksvertreter: Eine mögliche Alternative zu politischen Parteien?

In seinem Werk „Die Verfassung der Freiheit“ von 1960 hat Friedrich von Hayek angemahnt, dass die Liberalen eine positive Vision dessen brauchen, was sie anstreben, und nicht nur darüber diskutieren sollen, was sie ablehnen.

Eine solche positive Vision ist der Vorschlag, die Auswahl der Volksvertreter durch ein Losverfahren zu bestimmen. Dazu gibt es verschiedene Varianten. Man könnte zum einen das Zufallswahlsystem direkt einführen, wenn im Parlament die entsprechende Mehrheit zustande käme. Man könnte aber auch als Übergang die Auswahl der Volksvertreter durch ein Losverfahren auf eine Art „zweite Kammer“ mit Vetofunktion beschränken. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, das Zufallsverfahren auf die Nichtwähler zu beschränken. Je nachdem, wie es die Wähler wünschen, würde es dann zu mehr oder weniger gewählten Vertretern im Unterschied zu den durch den Zufallsprozess bestimmten Parlamentsmitgliedern kommen.

Es wird sicherlich noch geraume Zeit dauern, bis diese Ideen in den öffentlichen Diskurs eindringen, geschweige denn realisiert werden. Bis jetzt ist selbst noch offen, welcher Begriff sich für ein derartiges Auswahlverfahren, bei dem die Volksvertreter durch Los bestimmt werden, durchsetzt. Zur Debatte stehen der von Friedrich von Hayek geprägte Ausdruck „Demarchie“ sowie der in der englischsprachigen Literatur meist gebrauchte Begriff „Sortition“. Zu überlegen wäre auch der Begriff „Klirosie“ – die direkte Übertragung aus dem Griechischen für ein Verfahren, bei dem das Los die Vergabe über etwas bestimmt (κλήρωση). Auch der Begriff „Aleokratie“, zusammengesetzt aus dem lateinischen Wort für Würfelspiel (alea) und dem griechischen Wort für „herrschen“ käme infrage. Im Folgenden wird der Begriff „Alearchie“ benutzt. Diese Wortschöpfung enthält ebenfalls das lateinische „alea“, würde aber im Unterschied zu „Aleokratie“ das Anhängsel „kratie“, das vom Griechischen „kratein“ stammt und so viel wie „herrschen“ bedeutet, vermeiden.  Das „archie“ (ἀρχή) in „Alearchie“ hingegen würde passend auf die Bedeutung von Ursprung, Basis und Grundlage verweisen.

Das Konzept der „Alearchie“ lässt sich auch bequem adjektivisch benutzen und vermeidet darüber hinaus die Assoziation mit den herkömmlichen Ausdrücken für politische Herrschaftsformen, wie sie in „Demokratie“, „Oligarchie“ oder „Aristokratie“ angelegt sind. 

Der Begriff „Alearchie“ bezieht sich nicht auf die Staats- oder Regierungsform, sondern auf die Methode, wie die Repräsentanten des Volkes ausgewählt werden. Herkömmlich geschieht das in den modernen Demokratien über Wahlen, wobei jedoch die zur Wahl stehenden politischen Parteien eine Vorauswahl über die Kandidaten treffen. Dadurch kommt es schon von vornherein zu einer Verfälschung der ursprünglichen Idee der Demokratie. Das alearchische Verfahren hingegen besteht darin, dass die Volksvertreter per Zufall aus der Gemeinschaft der zur Kandidatur Berechtigten ausgewählt werden.

Ein Parlament, das aus ausgelosten Mitgliedern besteht, würde in einem weit höheren Maße die Vielfältigkeit der Bevölkerung widerspiegeln, als es gegenwärtig in der Parteiendemokratie der Fall ist. Bei einem Auswahlsystem durch Los käme es vermutlich auch zu ausgewogeneren Entscheidungen. Die in der Alearchie angelegte Zufälligkeit kann zu einer besseren Qualität der Entscheidungsfindung führen, indem eine vielfältigere Gruppe von Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Perspektiven und Expertisen als Volksvertreter zusammenkommen.

Es ist zu vermuten, dass ein solcher „alearchischer Gesetzgeber“ der gegenwärtigen Inflation von Gesetzen, Regeln und Vorschriften ein Ende setzen würde. Auch wäre zu erwarten, dass die verbleibenden Gesetze allgemeinverständlich formuliert würden. Generell wäre mit einer Minimierung des Staates zu rechnen. Damit käme es zu weniger Staatsausgaben und einer geringeren Steuer- und Abgabenlast. Die Bürokratiekosten würden drastisch abnehmen.

Folgende Vorteile eines solchen Auswahlverfahrens liegen auf der Hand:

Erstens: Hohes Maß an Legitimität

Zweitens: Hoher Grad an Unabhängigkeit der Vertreter

Drittens: Geringe Gefahr der Korruption

Viertens: Keine Beteiligung der politischen Parteien

Fünftens: Keine Berufspolitiker als Volksvertreter

Sechstens: Wahlkampfkosten entfallen

Siebtens: Die Gesamtkosten des politischen Apparates sinken

Achtens: Die mit der Parteiendemokratie einhergehende Spaltung der Gesellschaft schwindet

Neuntens: Statt politische Leidenschaft würde die Vernunft die Oberhand gewinnen

Zehntens: Spezifisches Fachwissen kommt zur Geltung

Kritiker des alearchischen Auswahlsystems könnten behaupten, dass ein Parlament, dessen Mitglieder zufällig gewählt werden, über weniger Expertise verfügt als ein gewähltes Parlament und dass dies die Macht der Bürokratie erhöhen würde. Die Wahrheit ist jedoch, dass das spezifische Wissen, das jetzt in der Parteiendemokratie in den Parlamenten vorhanden ist, darin besteht, Macht zu erlangen und auszuüben, und dass nichtpolitische Kompetenz fehlt. Heute gilt das selbst für die Spitzenpolitiker in der Regierung. Das gegenwärtige System der Parteiendemokratie hat zu einer enormen Bürokratie und einem massiven Machtaufbau des Staatsapparats geführt. Die politischen Parteien und die Technokratie arbeiten zusammen, um ihre Macht zu maximieren. Sie erreichen das dadurch, dass sie die Staatstätigkeit immer mehr ausweiten.

Die Alearchie hat den Vorzug, die Machtposition strikt temporär zu gewähren. Dieser Grundgedanke steht zwar auch hinter der Parteiendemokratie, nur kommt er dort nicht zur Verwirklichung, da ja die Vertreter der Großparteien auch dann im Parlament bleiben, wenn sie die Wahl verloren haben. In der Alearchie wird der Volksvertreter jedoch einmalig für eine Legislaturperiode durch Los bestimmt. Seine Macht ist von vornherein zeitlich begrenzt.

Der durch das Los bestimmte Volksvertreter ist auch nicht durch den Kampf um die Macht ins Amt gekommen, sondern die Entscheidungskompetenz ist ihm gleichsam zugefallen. Er kann nicht an Machterhaltung interessiert sein, da seine Amtstätigkeit von vornherein auf die Legislaturperiode beschränkt ist. Das erste bedeutende Kennzeichen der Alearchie ist somit, dass sie das Machtproblem auflöst, das in der Parteiendemokratie bis heute virulent ist und zum Zweifel Anlass gibt, ob es sich bei der Parteiendemokratie überhaupt um eine echte Demokratie handelt. Das zweite wichtige Kennzeichen ist, dass die Alearchie das Expertenproblem besser löst als die Parteiendemokratie. Durch die Auswahl per Los kommt vielfältigeres Fachwissen in die Volksversammlung, als es bei den Parteien der Fall ist.

Im Parteienstaat bekommt eine Person nur dann ein Mandat, wenn sie zuvor im Kollektiv der Partei reüssiert. Das Fachwissen ist für eine Parteikarriere ebenso zweitrangig wie das Einstehen für die Interessen des Volkes. Einmal Mandatsträger, wird diese Person alles daransetzen, innerhalb der Partei ihre Stellung zu wahren. Als Volksvertreter wird sie Entscheidungen an den Vorgaben ihrer Partei ausrichten. Schon aus seinem Eigeninteresse heraus, wird sich der Abgeordnete der Fraktionsdisziplin unterwerfen. Als Außenseiter kann er sich nicht lange behaupten. Die Wahrheit ist, dass der Parteipolitiker, um Karriere zu machen, sich seiner Individualität entkleiden und dem parteipolitischen Kollektiv unterwerfen muss.

In Bezug auf das technokratische Wissen der Bürokratie würde der aleatorisch bestimmte Parlamentarier nicht die Machtinteressen fördern, wie es zwischen Parteipolitikern und der Verwaltung der Fall ist, sondern als Kontrolleur der Exekutive agieren. Schon längst ist die sogenannte „Gewaltenteilung“ in der herrschenden Parteiendemokratie ausgehebelt. In einer Alearchie würde also nicht nur das Fachwissen zur Geltung, sondern auch die Gewaltenteilung wieder zum Zuge kommen.

Bevor man ganz zur Alearchie übergeht, kann man mit zwei vorläufigen Modellen experimentieren. Eine Möglichkeit wäre, den Prozentsatz, den die Nichtwähler an der Wahlbevölkerung ausmachen, durch Los zu vergeben. Ein solcher Ansatz ist durch und durch „demokratisch“ und widersetzt sich so dem Argument, diese Reform würde „die Demokratie“ gefährden oder umstürzen. Die durch Los bestimmten Volksvertreter kämen unpolitisch in die Parlamente. Sie betreiben dort Gesetzgebung, aber nicht Politik. Die ausgelosten Parlamentarier werden nicht die Interessen einer Partei verfolgen, sondern als jemand entscheiden, der nach der Legislaturperiode wieder als einfacher Bürger leben wird. Dem hier vorgestellten Modell gemäß ist es der Wahlbevölkerung anheimgestellt, ob sie mehr oder weniger Parteipolitiker im Parlament haben will. Ist der Volkswille für mehr Politiker, müssen die Leute mehr wählen gehen, also bestimmten Parteien zur Mehrheit verhelfen. Will das Wahlvolk weniger Politik, kann es diesem Wunsch durch Nichtwählen auf unpolitischem Weg Ausdruck verleihen.

Ein anderer Modellvorschlag besteht darin, eine zweite Kammer aus durch das Los bestimmten Vertretern einzurichten und diesem „Oberhaus“ ein Vetorecht gegen die Gesetze einzuräumen, die vom herkömmlichen Parlament beschlossen werden. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie viele der unsinnigen und schädlichen Gesetze, die in den letzten Dekaden vom Bundestag beschlossen worden sind, durch ein solches System auf der Strecke geblieben wären.

Friedrich August von Hayek: „Die Verfassung der Freiheit“

Antony P. Mueller: „Antipolitik“


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