18. Oktober 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 20 Jean-Jacques Rousseau: Charme und Harm der Widersprüchlichkeit

Edler Wilder oder Gesellschaftsvertrag?

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Dylanhatfield / Shutterstock „Freie Menschen, denkt an diese Maxime: Wir können uns die Freiheit aneignen, aber sie wird nie wiedergewonnen, wenn sie einmal verloren ist“ (Jean-Jacques Rousseau)

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) bereicherte die kontinentaleuropäische Philosophie um den Aspekt der Leidenschaftlichkeit, die sich um innere Widerspruchslosigkeit nicht kümmert. In seinem „Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ (1755) erklärte er die Entstehung des Privateigentums und der Zivilisation zum Zentrum allen Übels. Hiergegen stellte er das Bild eines im (vermeintlichen) Naturzustand lebenden „Edlen Wilden“. Auch andere Schriften lassen seinen Schlachtruf gellen: „Zurück zur Natur!“ Der berühmt-berüchtigte „Gesellschaftsvertrag“ (1762) allerdings beschreibt, wie die Menschen sich aus einem Naturzustand erheben, in dem sie sich gegenseitig die Freiheit beschneiden und die für ihre Existenz notwendigen Mittel stehlen, dadurch, dass sie einen Vertrag schließen, der eine politische Struktur errichtet; die zentralen Aufgaben dieser Struktur sind die Wahrung von Freiheit und – hört! hört! – Eigentum. Von der durch Thomas Hobbes (Teil 18 dieser Serie) rund hundert Jahre vorher formulierten Vertragstheorie unterscheidet sich Rousseaus Konstruktion in der Hinsicht, dass er eine Vertragsauflösung für legitim erklärte, wenn die Herrschenden von den im Vertrag festgelegten Zwecken abweichen. Im ebenfalls 1762 erschienenen Bildungsroman „Émile“ erzieht Rousseau Émile zu einem glücklichen Leben jenseits der städtischen Gemeinschaft, aber diesseits der Kultur (also nicht als „Wilden“). Die einzige gesellschaftliche Konvention, die Émile nach Auffassung seines Erzieher zu lernen habe, ist die Anerkennung des Privateigentums. Hier passen also die Aussagen nicht zueinander und Rousseau machte nie Anstalten, die Widersprüche aufzuklären oder abzumildern.

Rousseau erinnert daran, dass die rationalistischen Konstruktionen nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen, vielleicht ihren kleineren Teil. Moralische Entscheidungen basieren nicht nur und vielleicht nicht vor allem auf Argumenten der Vernunft, sondern auf dem Gewissen, das zum Gemüt gehört. Er bekämpfte den dogmatischen Offenbarungsglauben genauso wie den seelenlosen Atheismus. Voltaire (1694–1778), der sich darüber lustig machte, dass während einer frommen Prozession etliche Gläubige bei einem Erdbeben von den einstürzenden Häusern erschlagen wurden – er höhnte: „Was ist das für ein Gott, der seine Anhänger erschlägt?“ –, hielt Rousseau entgegen, der Schöpfer habe niemanden angewiesen, Steine zu Häusern aufzuschichten. (Wiewohl ein schlagfertige Antwort, fand ich sie philosophisch noch nie recht überzeugend.)

Trotz oder vielleicht gerade wegen der inneren Widersprüchlichkeit entfaltete Rousseau eine überragende Wirkung. Mit dem „Émile“ begründete er die Erziehungswissenschaft. Man kann sich als Kommunist, als Liberaler, ja (wie ich gleich zeigen werde) als Anarchist auf Rousseau berufen, oder man kann ihn empört zurückweisen. Als Kommunist ist man angewidert von Rousseaus bürgerlichen Werten. Als Liberaler von dem Demokratieverständnis, das einen Allgemeinwillen von dem numerischen Willen der Wahlbürger trennt. Die Jakobiner in der Französischen Revolution beriefen sich darauf und übten einen Tugendterror aus, zwangen die Bürger, die Vernunft (statt Gott) anzubeten. Als Anarchist lehnt man die Vorstellung ab, es gebe einen Gesellschaftsvertrag, dem man weder zugestimmt noch den man je gesehen hat.

Oder umgekehrt: Als Kommunist führt man Rousseaus Kritik des Privateigentums an. Als Liberaler behauptet man, die Verfassung sei der Gesellschaftsvertrag und bei jeder Wahl stimme das Volk ihm erneut zu. Und als Anarchist?

Es gilt, den „Gesellschaftsvertrag“ genau zu lesen. Rousseau war klar, dass die Regel der Mehrheitsentscheidung keine natürliche Legitimation für irgendetwas darstellt. Vielmehr kann die Mehrheitsregel erst das Ergebnis einer Abmachung, eines Vertrags sein. Mithin setzt der Gesellschaftsvertrag eine einmalige Einstimmigkeit zu Beginn voraus. Auf diese Weise macht Rousseau deutlich, dass der Vertrag bei ihm nicht wie bei Hobbes in mythischer grauer Vorzeit geschlossen ward, sondern dass er tatsächlich hic et nunc (hier und jetzt) sowie expressis verbis (ausdrücklich) geschlossen werden muss. Wenn wir die Verfassung eines Staats als Gesellschaftsvertrag ansehen wollen (Rousseau tat das nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich), so bedeutet das, dass die Verfassung nur dann Gültigkeit und Verbindlichkeit besitzt, wenn ihr einstimmig zugestimmt wurde.

Nun wusste auch Rousseau, dass Einstimmigkeit niemals wirklich zu erzielen ist. Was geschieht mit denen, die an der Versammlung teilnehmen, aber dem Vertrag ihre Zustimmung verweigern? Was ist mit denen, die an der Versammlung gar nicht erst teilnehmen? Sie sind, sagt Rousseau, nicht Mitglieder des Staats und verbleiben als Fremde auf dem Territorium. Da die Mehrheitsregel erst durch die Einstimmigkeit des Vertrags verbindlich wird, bedeutet dies, dass diese Fremden nicht den Mehrheitsentscheidungen unterworfen werden dürfen.

Rousseau geht sogar noch weiter. Er sagt, dass die Zustimmung zu dem Vertrag nicht automatisch von den Eltern auf die Kinder übergehe. Die Eltern können nicht für ihre Kinder zustimmen. Konsequent muss der Vertrag von jeder Generation erneuert werden. Da die Akzeptanz der Mehrheitsregel erst aus dem Vertrag folgt und ihm nicht vorausgehen kann, ist die Behauptung der herrschenden Demokraten falsch, dass jeder Wahlakt den Gesellschaftsvertrag erneuert.

In diesem Sinne präzise dem Wortlaut Rousseaus im Gesellschaftsvertrag folgend, können wir sehen, dass der Gesellschaftsvertrag Rousseaus gar keinen Staat begründet, sondern eine anarchokapitalistische Sicherheitsorganisation, die nur Regeln erlassen kann, die für die aktuell zustimmenden Mitglieder verbindlich sind. Außenstehende dürfen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Nach außen hin dürfen diese Sicherheitsorganisationen nichts anderes tun, als das Leben, die Freiheit und das Eigentum ihrer Mitglieder gegen Angriffe zu verteidigen.

Da Rousseau diese radikale Schlussfolgerung, dass auf einem Territorium nicht ein einziger Staat zu etablieren sei, sondern dass mehrere konkurrierende Sicherheitsorganisationen Bestand haben können, noch nicht zog, machte er sich über das Verhältnis dieser konkurrierenden Sicherheitsorganisationen untereinander keine Gedanken. Die werden zu größerer Friedlichkeit und mehr Kooperation untereinander neigen als konkurrierende Staaten, weil Konflikte teuer und gefährlich sind und dazu führen, dass Mitglieder austreten, sowie weil diese Sicherheitsorganisationen anders als Staaten niemanden zwingen können, einen Konflikt personell oder finanziell zu tragen.

Nun ist das zugegebenermaßen nicht die herrschende Lesart von Rousseau und war es nie. Im Beitrag über Hume (Teil 19 dieser Serie) habe ich damit begonnen, die Frage zu untersuchen, inwieweit Philosophen dafür verantwortlich sind, was politisch aus ihren Lehren gemacht wird. Bei Rousseau ist man schnell dabei, ihm anzulasten, dass seine Kritik am Privateigentum geradewegs in die Hungerkatastrophen nach der Russischen und der Chinesischen Revolution geführt habe, dass sie das Elend des Wohlfahrtsstaats heraufbeschworen habe, dass sein Gesellschaftsvertrag die Grundlage von jakobinischem und später kommunistischem Terror geworden sei. Es spricht Rousseau weder frei, dass er nur Gutes im Sinn gehabt habe, noch, dass man ihn auch anders lesen kann. Rousseau ist ein bleibendes Beispiel dafür, dass der Philosoph sorgsam auf seine Worte zu achten habe und nicht einfach seine Befindlichkeit in die Welt hinausschreien darf.


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