23. Oktober 2024 10:00

Transformation der Gesellschaft Woher die „Veloziferik“?

Über den Begriff des „Akzelerationismus“

von Axel B.C. Krauss

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Bildquelle: Yiucheung / Shutterstock Agenda 2030: Umsetzung in Turbogeschwindigkeit?

Das Wort selbst kursiert ungefähr seit Mitte der 1970er Jahre in den Wirtschaftswissenschaften – es kam nicht zufällig fast zur selben Zeit in Mode wie die Rede von den „Grenzen des Wachstums“ des „Club of Rome“ – und bezeichnet eine Denkströmung, derzufolge der soziale und ökonomische „Transformationsprozess“ in Richtung einer „Technogesellschaft“, also einer Technokratie oder eines „Technats“, enorm beschleunigt werden müsse, um die Menschheit vor einer existenziellen Katastrophe zu bewahren. Er ist auch unter der Bezeichnung „Dunkle Aufklärung“ bekannt. Sein Aufkommen wird einem englischen Professor für Kritische Theorie namens Benjamin Noys zugeschrieben.

Seit seinem ersten Aufkommen wurde er von mehr und mehr Vertretern dieses Denkens aus Politik und Wirtschaft übernommen und gehört heute zum festen Wortschatz, wenn es um Lösungsvorschläge der zahlreichen Krisen der heutigen Zeit geht, und wird beinahe schon exzessiv verwendet. Ob also das WEF, nachdem es seine Partnerschaft mit der UN unterzeichnete, verlautbarte, Ziel sei es, „die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu beschleunigen“; ob Larry Fink, CEO von Blackrock, auf dem Höhepunkt von „Covid“ in einem Brief an die Aktionäre schrieb, die Pandemie habe „auch tiefgreifende Trends beschleunigt“ und „die Umverteilung von Kapital beschleunigte sich noch schneller, als ich erwartet hatte“; oder als der ehemalige britische Finanzminister Kwasi Kwarteng in einer Pressemitteilung dieses Wort gleich dutzendfach verwendete, als gäbe es ganz buchstäblich kein Morgen mehr und als müssten die geplanten Transformationsprozesse in möglichst kurzer Zeit umgesetzt werden: Man wird das Gefühl nicht los, als gäbe es eine Art „Deadline“, eine Frist, die nicht verstreichen dürfe, ohne dass weitreichende politische und wirtschaftliche Umwälzungen abgeschlossen werden.

Also woher rührt diese „Veloziferik“, dieser merkwürdige Drang, alles zu „beschleunigen“? In erster Linie wurde dies mit dem altbekannten Argument des „menschengemachten Klimawandels“ begründet: Uns läuft die Zeit weg, und wenn wir jetzt nicht handeln, wird es zu spät sein. Mit dieser Keule wurde jede Kritik an diesem „Akzelerationismus“ abgebügelt.

Für die Vertreter dieser Philosophie ist „Beschleunigung“ meistens auch gleichzusetzen mit der Störung bestehender Verhältnisse, einer gewaltsamen, krisenbasierten Auflösung des Status quo, sogenannten „Disruptionen“. Andy Beckett, Journalist des englischen „The Guardian“, beschrieb die zugrunde liegende Ideologie einmal wie folgt: „Beschleunigungsbefürworter argumentieren, dass Technologie, insbesondere Computertechnologie, und Kapitalismus, insbesondere die aggressivste, globale Variante, massiv beschleunigt und intensiviert werden sollten. Akzelerationisten befürworten die Automatisierung. Sie befürworten die weitere Verschmelzung von Digitalem und Menschlichem. Sie glauben, dass die Menschen aufhören sollten, sich vorzumachen, dass wirtschaftlicher und technologischer Fortschritt kontrolliert werden kann. Sie glauben oft, dass soziale und politische Umwälzungen einen Wert an sich haben.“

Beckett führte weiter aus, der Akzelerationismus stünde im Widerspruch zu allen anderen Ideologien, zum Konservatismus, zum traditionellen Sozialismus, zur Sozialdemokratie, zum Umweltschutz, zum Protektionismus, zum Populismus, zum Nationalismus, zum Lokalismus und so weiter. Er ging in seinem Artikel ausführlicher auf die Aktivitäten radikaler Beschleunigungsfanatiker in der „Cybernetic Culture Research Unit“ (CCRU) der Universität Warwick ein und ihre Absicht, sämtliche Aspekte des menschlichen Miteinanders, egal, ob Politik, Wirtschaft, Kultur oder Philosophie, gründlich zu dekonstruieren.

Nun könnte man solche Konzepte als ideologisch verbohrte Spinnerei abtun, jedoch hatten sie auf wichtige Entscheiderkreise tatsächlich großen Einfluss – was auch der Grund ist, warum diese schon seit Jahren unentwegt davon sprechen, man müsse Krisen unbedingt nutzen, um die gewünschten Änderungen „beschleunigt“ einzuführen, und mehr noch: warum mit solchen Krisen nicht nur geliebäugelt wird, sondern sie in einigen Fällen sogar bewusst zugelassen oder gar herbeigeführt werden sollten, um die ersehnten Transformationen auf Biegen und Brechen zu vollenden.

Die führenden Vordenker an der CCRU waren Sadie Plant, Nick Land, Mark Fisher und Alex Williams. Im Jahre 2013, im Gefolge der Finanzkrise, schrieben Alex Williams und Nick Srnicek das „Accelerationist Manifesto“. Darin hieß es: „Die heutige Politik ist von der Unfähigkeit geprägt, neue Ideen und Organisationsformen zu entwickeln, die notwendig sind, um unsere Gesellschaften so zu verändern, dass sie den kommenden Vernichtungen entgegentreten und sie lösen können. Wir glauben, dass die wichtigste Spaltung in der heutigen Linken zwischen denen besteht, die an einer volksnahen Lokalpolitik festhalten, und denen, die eine Politik entwerfen, die als Akzelerationismus bezeichnet werden muss und mit einer Modernität der Abstraktion, Komplexität, Globalität und Technologie vertraut ist. Eine beschleunigungspolitische Politik versucht, die Errungenschaften des Spätkapitalismus zu bewahren, während sie weiter geht, als es ihr Wertesystem, ihre Regierungsstrukturen und ihre Massenpathologien zulassen. Wir stehen vor einer schweren Entscheidung: entweder ein globalisierter Postkapitalismus oder eine langsame Fragmentierung in Richtung Primitivismus, ewige Krise und ökologischer Kollaps des Planeten.“

Williams und Srnicek argumentierten, der Weg in den „globalisierten Postkapitalismus“ sei alternativlos. Für sie war die Beschleunigung – die Ideologie des (technokratischen beziehungsweise techno-utopistischen) Akzelerationismus – der einzige Weg zur „Rettung des Planeten“. Die bestehende „materielle Plattform“ des Neoliberalismus dürfe auf keinen Fall zerstört, sondern müsse für die akzelerationistischen Ziele eingespannt werden. Die bereits bestehende Infrastruktur sei eine „kapitalistische Bühne“, die nur ein „Sprungbrett in Richtung Postkapitalismus“ darstelle.

Diese Aufgabe – so argumentierten sie wenig überraschend, da eine globale Transformation angestrebt wird – könne nicht von einzelnen Nationalstaaten, multinationalen Unternehmen oder einzelnen Bevölkerungen bewältigt werden, sondern erfordere globale Lösungen: „Was benötigt wird – was schon immer benötigt wurde – ist eine Ökologie der Organisationen. Eine positive Rückkopplungsschleife infrastruktureller, ideologischer, sozialer und wirtschaftlicher Transformation, die eine neue komplexe Hegemonie, eine neue postkapitalistische technosoziale Plattform hervorbringt.“

Ihre Vision läuft letzten Endes darauf hinaus, klassische Beschäftigungsmodelle durch Technologie zu ersetzen (Robotik, KI) und Menschen mittels eines „Universellen Grundeinkommens“ (UBI) zu versorgen. Dadurch würde das „Allgemeinwohl“ gestärkt und die Gesellschaft insgesamt in die Lage versetzt, die „kommenden Vernichtungen“ abzuwenden. So könne eine „KI-gesteuerte technologische Utopie“ entstehen, sofern die Menschen bereit sind, diese angeblich unvermeidlichen Umbrüche zu akzeptieren.

Auf der politisch rechten Seite der Akzelerationisten herrscht die Ansicht vor, dass Demokratie nicht nur dem Untergang geweiht sei, sondern der Untergang selbst. Sie lehnen den „Gesellschaftsvertrag“ ab, weil sie alle Menschen in das demokratische „Korsett“ zwinge. Dies könne nur zu einer „souveränen Macht“ führen, die den „demokratischen“ Staat für ihre eigenen Zwecke auf Kosten aller anderen missbrauche. Kurz, die Demokratie sei inhärent degenerativ und destruktiv: „Die Dynamik der Demokratisierung ist grundsätzlich degenerativ: Sie konsolidiert und verschärft systematisch private Laster, Ressentiments und Mängel, bis sie das Niveau kollektiver Kriminalität und umfassender sozialer Korruption erreicht. Der demokratische Politiker und die Wählerschaft sind durch einen Kreislauf gegenseitiger Aufstachelung miteinander verbunden, in dem jede Seite die andere zu immer schamloseren Extremen des Gejohles, des tänzelnden Kannibalismus treibt, bis die einzige Alternative zum Schreien darin besteht, gefressen zu werden.“

Um es etwas abzukürzen, gehen beide, sowohl das linke als auch rechte akzelerationistische Lager davon aus, dass die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen unausweichlich in eine existenzielle Katastrophe für die Menschheit führen werden. Deshalb sollten ihrer Ansicht nach diese Strukturen sogar gezielt „überdreht“ und in „brutale Höhen“ getrieben werden, um den daraus folgenden Zerstörungsprozess zu beschleunigen – das bestehende System solle also quasi unter seiner eigenen Last zerbrechen – und die Einführung der neuen, angeblich besseren Modelle für Wirtschaft und Gesellschaft erleichtern.

Nick Land von der CCRU drückte es folgendermaßen aus: „Um wiedergeboren zu werden, muss man zuerst sterben. Je härter der ‚harte Neustart‘, desto besser. Umfassende Krisen und Zerfall bieten die besten Chancen.“

Angesichts solcher ideologischen Hintergründe ist klar, warum die Menschheit nun unbedingt in das „Zeitalter der Polykrisen“ eintreten soll. Um es in einem Wort zusammenzufassen: Überrumpelungstaktik. Je mehr Krisen, je mehr „Druck“ ausgeübt wird, desto größer sollen die Chancen sein, dass die angestrebten Veränderungen akzeptiert werden. Natürlich sind nicht alle vorgebrachten Argumente falsch: Dass zum Beispiel die heutige sogenannte „repräsentative Demokratie“ tatsächlich schwere Degenerationserscheinungen hervorbringt – siehe „Negativauslese“ – ist unbestreitbar. Die Frage ist nur, ob „transformative Gewalt“ durch bewusste Krisenbeschleunigung der „richtige“ Weg ist, da er selbst großes Missbrauchspotenzial birgt – nämlich seine Ausnutzung zu Eigenzwecken durch diejenige neue „komplexe Hegemonie“, die als Lösung angesehen wird.

Bis nächste Woche.


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