01. November 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 22 Immanuel Kant: Das Mysterium des Dings an sich

Von der Aufklärung zum deutschen Idealismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Wikimedia „Sapere aude“ – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“: Der wohl berühmteste Satz von Immanuel Kant

Das Programm der neuzeitlichen Philosophie, auch als „Aufklärung“ bezeichnet, bestand darin, den Menschen von irdischen und überirdischen Autoritäten zu befreien, auf dass er selber denke und seine Geschicke in die eigenen Hände nehme. Die Aufklärung war in Frankreich und England zeitgleich mit umwälzenden technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen weit vorangeschritten, während in den deutschen Ländern noch der hergebrachte Glaube an die irdischen und überirdischen Autoritäten waltete. Die Philosophie bestand vornehmlich darin, das vorhandene pseudo-rationalistische, eng an die Theologie gekoppelte Denksystem zu reproduzieren. Darum ist es ein umso bemerkenswerterer Umstand, dass ausgerechnet der Preuße Immanuel Kant (1724–1804) es war, der die Aufklärung auf den Punkt brachte und über sich hinausführte.

Die Lektüre von David Hume (Teil 19 dieser Serie) weckte Kant nach eigenem Bekunden aus seinem „dogmatischen Schlaf“. Aber Kant wollte sich nicht zufrieden geben mit der Auskunft, jede Vernunft und allem voran die Ratio sei auf Sand gebaut. Die Naturwissenschaft und die Mechanik machten Fortschritte, die sich nicht allein mit Gewohnheit und Konvention erklären ließen. Sicherlich war es möglich, gewisse mechanische Erfindungen oder Weiterentwicklungen allein nach dem vorwissenschaftlichen pragmatischen Prinzip von Versuch und Irrtum zu machen, aber sobald es komplizierter wurde, brauchte man die Naturwissenschaft und die Mathematik. Und selbst das Prinzip von Versuch und Irrtum setzt sowohl Kausalität als auch die Annahme von konstanten Bedingungen des natürlichen Geschehens voraus.

Wenn Hume sagte, Kausalität könne man nicht beweisen, allein das zeitliche und räumliche Verhältnis von Ereignissen beobachten, so setzte er dabei stillschweigend voraus, dass es Zeit und Raum gebe, obwohl er deren Existenz so wenig wie diejenige der Kausalität beweisen konnte. Kant nannte Zeit und Raum die „Anschauungsformen“. Sie sind, wie die Kausalität, nicht Eigenschaften der objektiven Welt, sind nicht Ergebnis von Erfahrung, sondern sie sind Voraussetzungen dafür, dass wir Erfahrungen machen können.

Der Trick, den Kant hier anwandte, bestand darin, dass er Zeit, Raum, Kausalität und noch eine Reihe weiterer Voraussetzungen des Erkennens nicht als der objektiven Welt zugehörig kennzeichnete (denn als solche wären sie nicht beweisbar), sondern als Denknotwendigkeiten. Aber anders als im späteren, allerdings auf Hume basierenden Konstruktivismus (ich habe ihn schon erwähnt und kritisiert) sind diese Denknotwendigkeiten bei Kant keine beliebigen Setzungen, die sich nach Gutdünken verändern lassen. Sie sind notwendig, um überhaupt denken und erkennen zu können. Sie sind unumgängliche „Bedingungen der Möglichkeit“ des Denkens und des Erkennens. Negiere ich eine von ihnen, kommt keine Erkenntnis mehr zustande. Insofern entsprechen sie den Gesetzmäßigkeiten des Handelns, wie Adam Smith (Teil 21 dieser Serie) herausgearbeitet hatte; aber ihre Bedeutung ist noch grundsätzlicher: Es lässt sich jederzeit nachweisen, dass alle, die die Denknotwendigkeiten wie etwa die Anschauungsformen negieren wollten, dennoch ständig auf sie zurückgreifen. Sie zu negieren führt, modern gesprochen, zu einem „performativen Eigenwiderspruch“, das heißt, dass das Tun (die „Performanz“) der Behauptung widerspricht, zum Beispiel der Behauptung, es gebe keine Kausalität.

Was wird nun aus der objektiven Welt? Sie können wir nach der kantischen Erkenntnistheorie nicht unmittelbar adressieren, sondern nur vermittels der denknotwendigen Kategorien und Anschauungsformen. Von der objektiven Welt bleibt nur noch ein ominöses „Ding an sich“, das dem denkerischen Zugriff freilich völlig verschlossen ist. Ohne „Ding an sich“ kommt die kantische Erkenntnistheorie nicht aus, denn wenn es kein „Ding an sich“ gäbe, hätte die Erkenntnis keinen Inhalt. Und doch wissen wir über das „Ding an sich“ nichts, weil wir es nur mithilfe von denknotwendigen Kategorien und Anschauungsformen wahrnehmen, von denen wir nicht wissen, ob sie ihm entsprechen oder ob wir sie ihm nur beilegen. Ein philosophisch geschulter Witzbold sagte einmal, ohne das „Ding an sich“ käme man in das kantische System nicht hinein, aber mit ihm auch nicht hinaus. Dem theologisch geschulten Beobachter mag auffallen, dass Kants Kennzeichnung des „Dings an sich“ in etwa der (spätantiken und mittelalterlichen) negativen Theologie entspricht, der zufolge all das, was man über Gott sage, falsch sei, während nur das, was man nicht über ihn sage, stimme.

So überzeugend Kants Lösung des Problems des aufklärerischen Skeptizismus auch ist, so instabil hat sie sich erwiesen. Der Fortgang der Philosophie, besonders in Deutschland, verlagerte sich zunehmend hin zu der Frage, wie das Ich die Welt konstruiere, und damit landen wir dann doch wieder wie bei Humes Konstruktivismus. In der Philosophiegeschichte wird das als „deutscher Idealismus“ bezeichnet. Seinen vollendeten Ausdruck fand er in der Formel Arthur Schopenhauers (1788–1860) von der „Welt als Wille und Vorstellung“, die sein Hauptwerk ziert.

Bei Kant war von Wille im Sinne einer willkürlichen Konstruktion der Welt noch nicht die Rede. Für Kant galt, dass es beim Erkennen keine Willkür geben dürfe. Die Konstruktionsprinzipien waren für ihn feststehende Denknotwendigkeiten, die sich nicht willkürlich verändern ließen, ohne in ein absurdes Chaos von unzusammenhängenden Wahrnehmungsdaten zu stürzen, genau wie bei Adam Smith der Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeiten des Handelns und gegen die Verordnungen der unsichtbaren Hand in ein wirtschaftliches Chaos führt. Dennoch ist die Entwicklung hin zum „Deutschen Idealismus“ als Vorläufer des Konstruktivismus folgerichtig. Wenn die Erkenntnis kein Korrektiv in der objektiven Welt des Dings an sich hat, weil wir das Ding an sich gar nicht erreichen können, ohne es schon durch unsere Kategorien und Anschauungsformen verzerrt wahrzunehmen, dann fragt es sich, wie denn überhaupt eine wahre von einer falschen Konstruktion zu identifizieren wäre. Das einzige Korrektiv ist die innere Stimmigkeit der Konstruktion; sie darf keinen Eigenwiderspruch enthalten. Auch die Mathematik hilft hier nicht weiter, weil sie zwar ohne Erfahrung und „Ding an sich“ auskommt, aber gar nicht auf die Wirklichkeit angewandt werden kann, ohne wiederum die denknotwendigen Konstruktionsprinzipien zu bemühen, von denen wir nicht wissen, ob sie mit den objektiven Bedingungen des „Dings an sich“ korrespondieren.

Neben der Grundlegung der Erkenntnistheorie, die Kant die „reine Vernunft“ nannte, strebte er auch eine solche der Moral an, der „praktischen Vernunft“. Hier ging er geradezu nach dem Vorbild des Aristoteles (Teil 7 dieser Serie) vor, was er aufgrund seiner übersteigerten Selbsteinschätzung aber niemals zugab. Denn er suchte nach dem Prinzip, das allen vorhandenen Moralsystemen gemeinsam sei. Das Ergebnis ist sein berühmt-berüchtigter Kategorischer Imperativ. Von den verschiedenen Formulierungen greife ich nur die konsequenteste heraus: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Eine moralische Regel steht immer in der Pflicht, allgemein, gegenseitig und rückbezüglich zu sein. Der, der eine Regel behauptet, muss selber dazu bereit sein, sich unter sie zu beugen. Jemand der sagt „Du darfst nicht töten, ich aber darf es“, stellt ein Gewalt-, kein Moralprinzip auf. Wer sagt „Ich darf dich zu meinem Glauben zwingen, du aber darfst mich nicht zu deinem Glauben zwingen“, macht das Gleiche. Es ist ganz wichtig zu verstehen, dass Kant mit dem Kategorischen Imperativ keine eigene Moraldevise aufstellen, sondern das aller Moral zugrunde liegende Prinzip formulieren wollte: Es handelt sich um ein Prinzip, ohne das keine Moral formuliert werden kann.

Meist wird Kants Kategorischer Imperativ verharmlosend als im Rechtsstaat verwirklicht ausgegeben: Das Gesetz bindet nicht nur die Unterworfenen, sondern auch die Gesetzgeber oder Regierenden selber. In Wahrheit geht er darüber weit hinaus und macht jede Legitimation von Herrschaft unmöglich. Denn der Gesetzgeber verstößt per se gegen den Kategorischen Imperativ, denn er sagt: „Ich darf dir mein Gesetz geben, du mir aber nicht dein Gesetz.“ Anarchie definierte Kant als Gesetz und Freiheit ohne Gewalt. Er hielt einen solchen Zustand unter Menschen für nicht praktikabel, aber es war sein Ideal. Damit bereitete Kant bereits den Anarchismus vor, der als politische Bewegung nur noch wenige Jahrzehnte brauchte, um zu entstehen. Ich werde berichten.


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