15. November 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 24 Pierre-Joseph Proudhon: Hegel wird zum Revolutionär

Der Vater des Anarchismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Sailko / Wikimedia Proudhon: „Kommunismus? Die Ausbeutung der Starken durch die Schwachen“

Die Philosophie hatte, wie wir sahen, immer schon ein Verhältnis zur jeweiligen Theorie der Rechtfertigung von Herrschaft, selbst in ihren vermeintlich rein erkenntnistheoretischen Fragestellungen, oft aber auch ganz direkt. Und wenn Philosophen direkt Stellung nahmen zur Rechtfertigung von Herrschaft (oder oft auch: zur Herrschaftskritik), dann geschah es in einer vorschreibenden Art: Sie wollten Regeln aufstellen, nach denen geherrscht (oder nicht geherrscht) werden solle. Ein für alle Mal. Gültig für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Paradigmatisch dafür stehen die Lehren von Laotse (Teil 2 dieser Serie), Platon (Teil 3 dieser Serie) und Konfuzius (Teil 5 dieser Serie).

Hegels Dynamisierung des Denkens durch die Dialektik (Teil 23 dieser Serie) mischte die Karten neu. Das Denken und infolgedessen auch die gesellschaftliche Wirklichkeit durchlaufen einen Prozess der Veränderung. Dieser Veränderungsprozess läuft nicht beliebig ab, sondern wird durch das zunehmende Selbstbewusstsein der Menschen gesteuert: Sie werden sich darüber bewusst, die Geschichte zu „machen“. Insofern ist das Prinzip der Geschichte die Verwirklichung zunehmender Freiheit. Kurz gesagt: Es wird alles immer besser. Der „Weltgeist“ sorgt dafür.

In Frankreich nahm der Demokrat und Sozialist Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) Hegels Philosophie auf, um die revolutionären Prozesse in Frankreich zu untersuchen. 1789 findet die Große Revolution statt, Erklärung der Menschenrechte, Absetzung und Hinrichtung des Königs, Machtübernahme durch den Tugendterror der Jakobiner und deren Niederschlagung, Napoleon putscht sich an die Macht und erklärt sich zum Kaiser. Napoleon überzieht ganz Europa mit fürchterlichen Kriegen (besonders schlimm in Spanien), bis ihn eine Koalition europäischer Fürsten- und Königshäuser schlägt. Es kommt zur Restauration. In Frankreich gibt es wieder einen König. 1830 wird er durch eine Revolution abgesetzt und es folgt ein sogenannter „Bürgerkönig“. 1848 kommt es wiederum zu einer Revolution, die in Frankreich, anders als sonst wo in Europa, erfolgreich war.

Aber wo blieb die Freiheit? Was verwirklicht wurde, war nicht mehr, sondern weniger Freiheit, wie Proudhon zu seinem Entsetzen feststellte. Die Revolutionäre verstehen die Revolution nicht: Es kommt nicht zu einer positiven Dialektik hin zum immer Besseren, sondern zu einer negativen Dialektik zum immer Schlechteren. Proudhon dreht Hegel um. Wie kommt das? Die Revolutionäre wollen Geschichte „machen“, indem sie Gesellschaft und Wirtschaft fest in die Hände der staatlichen Organisation einbinden, um sie nach ihrem Willen gestalten zu können. Welche hehren Ideale sie dabei auch haben mögen, auf diese Weise töten sie die Freiheit: Die große Mehrheit der Bevölkerung hat nichts mehr zu melden. Aber die herrschenden Revolutionäre binden sich auch selber die Hände: Da die staatliche Organisation immer zu Fehlsteuerungen tendiert, laufen sie den Entwicklungen hinterher, anstatt sie zu beherrschen.

Proudhons Ideal war in jeder Hinsicht konservativ-liberal. Er ging von einem selbstbestimmten Einzelnen aus, Ehe und Familie seien die ursprüngliche und unverzichtbare Grundlage der Gesellschaft, dann der Hof oder die Werkstätte, die Ortsgemeinschaft. Alle gesellschaftlichen Instanzen, die darüber hinausgehen, sollten so wenig Einfluss wie nur möglich haben. Dagegen, bedauerte Proudhon, gehe es den Republikanern nur um nationale Einheit, den Demokraten nur um die Herrschaft der anonymen Mehrheit, den Sozialisten nur um den Krieg gegen die Reichen, den Kommunisten um die Zerschlagung der Familie. Und die Konservativen? Sie tun nichts anderes, als der auf Nimmerwiedersehen verflossenen Königsherrschaft nachzutrauern. Sie alle verschärfen das Elend. Proudhon sprach von einer Tendenz, die Armut zu verwalten und zu uniformieren. Konservativ war Proudhon auch bezogen auf revolutionäre Prozesse. 1848 nahm er aktiv an der Februarrevolution teil, doch schrieb er sogleich, er hätte es lieber gesehen, wenn der Prozess der Veränderung nicht explosionsartig in drei Tagen, sondern über einen Zeitraum von dreißig Jahren vollzogen worden wäre.

Und die Liberalen? Die meisten von ihnen waren entweder mit den Republikanern oder mit den Konservativen verbündet. Sie traten hier und da für die Ausweitung wirtschaftlicher Freiheiten ein, aber immer sehr selektiv nur dann, wenn es ihrer jeweiligen Klientel diente. Ansonsten förderten sie die Gründung von Zentralbanken, verlangten Subventionen für die Großindustrie, machten ihren Frieden mit Militarismus und Kolonialismus. Lokale Selbstverwaltung war den meisten Liberalen ein Gräuel. Ja, es gab ein paar wenige Ausnahmen. Und es ist ein historisches Unglück, dass sie und Proudhon nicht zueinanderfanden; zu verschieden waren ihre jeweiligen kulturellen Hintergründe – dort Großbourgeoisie, hier Proletariat. (Das Kleinbürgertum war, jedenfalls in Frankreich, monarchistisch oder sozialistisch ausgerichtet.)

In einem Pamphlet zur Wahl 1840 gab Proudhon einen Dialog mit einem Wähler wieder; dieser fragte Proudhon, ob er für die Republikaner oder Monarchisten stehe. Als Proudhon beides verneinte, fragte der Wähler, was er denn sei. Proudhon antwortete: Ich bin Anarchist! Eine neue Idee war geboren.

Der Einfluss Proudhons in Frankreich war immens und das ist ein Phänomen der ganz eigenen Art, denn Proudhon – Ochsenhirt, Schriftsetzer, zeitweilig mit Unterstützung eines reichen Freundes Privatgelehrter, dann kleiner Angestellter – entsprach so gar nicht dem, was man sich unter einem revolutionären Führer vorstellt. Er war kein begnadeter Redner, kein geschickter Verschwörer und auch kein großer Organisator. Und dennoch beflügelte seine Idee die revolutionäre Bewegung Frankreichs. Um seinen Einfluss deutlich zu machen, gehe ich auf ein Ereignis während seiner Lebenszeit und auf ein Ereignis nach seinem Tod ein.

Die Revolution von 1848 folgte genau der von Proudhon befürchteten negativen Dialektik. Das Volk wählte mit überragender Mehrheit einen Verwandten von Napoleon I. zum Präsidenten, der sich dann zum Diktator putschte – ein Plebiszit rechtfertigte den Putsch nachträglich – und schließlich zum Kaiser Napoleon III. erklärte. Auch dieser Schritt wurde per Plebiszit vom Volk genehmigt. Proudhon landete wegen Beleidigung des Präsidenten im Gefängnis und ging später ins Exil nach Belgien. 1863 befand sich die Regierung des Kaisers in einer Krise, und um die Unterstützung von Republikanern und Liberalen zu erzielen, bot der Kaiser der Opposition eine halbwegs faire Wahl an. Proudhon, schwerkrank als Spätfolge einer Cholera-Infektion zehn Jahre zuvor (vermutlich im Gefängnis zugezogen), konnte in seine geliebte Heimat zurückkehren. Während die Republikaner, Liberalen und Monarchisten (keine Anhänger des Kaisers, sondern der 1848 respektive 1830 abgesetzten Dynastien) rüsteten zum Wahlkampf. Proudhon dagegen rief in einem 100-Seiten-Pamphlet zur Stimmenthaltung auf.

Wie ist die Wahl ausgegangen? In seinem Pamphlet äußerte Proudhon die Hoffnung auf eine halbe Million Wahlenthaltungen. Die Differenz von den zehn Millionen registrierten Wählern zu den abgegebenen sieben Millionen Stimmen ist bemerkenswert. Es handelt sich bei diesen drei Millionen nicht um den uninteressierten Rest. Denn sie haben sich als Wähler in die Wahllisten eintragen lassen (in Frankreich war es damals wie heute noch in den USA notwendig, diesen aktiven Schritt zu gehen, um wählen zu dürfen), dann jedoch nicht gewählt. Die Gründe kennen wir nicht, aber wenn nur eine Million von diesen aktiven Nichtwählern Anhänger Proudhons waren, war er damit genauso stark wie die Opposition aus Republikanern, Liberalen und Sozialisten (die gemeinsame Listen erstellt hatten) und wie die monarchistische Oppositionen; beide oppositionellen Blöcke erhielten jeweils eine Million Stimmen; fünf Millionen Stimmen gingen an die Partei des Kaisers.

Im Januar 1865 starb Proudhon. Man weiß nicht, wie und ob überhaupt Proudhonismus und Anarchismus sich weiterentwickelt hätten, wäre nicht der Russe Michael Bakunin (1814–1876) zum Wortführer der Anarchisten geworden und hätte er es nicht verstanden, eine europa- ja, weltweite anarchistische Bewegung zu initiieren. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls blieben die Ideen Proudhons auf diese Weise lebendig. Der Kaiser wurschtelte und dümpelte vor sich hin, aber hielt sich an der Macht. 1870 kam es zum Krieg mit Preußen. Karl Marx schrieb an Friedrich Engels hoffnungsfroh, dass eine Niederlage Frankreichs auch bedeuten würde, dass ihrer beider Theorien den Proudhonismus in der französischen Arbeiterbewegung würde beerben können. Dies macht deutlich, dass Marx davon ausging, in Frankreich sei Proudhon und nicht er selber die beherrschende Figur der Arbeiterbewegung. Wie Proudhon vorausgesagt hatte, zeigte sich im Krieg, wie marode die Regierung des Kaisers das Land hatte werden lassen. Es ging sang- und klanglos unter. Aber im Zusammenbruch des Kaiserreichs kam es in Paris zum Aufstand, die Pariser Kommune entstand. Wesentlicher Bezugspunkt der Akteure waren die Ideen Proudhons, besonders sein Föderalismus (kommunale Selbstverwaltung). Obwohl die Pariser Kommune nach wenigen Tagen von der Staatsgewalt plattgewalzt wurde, inspirierte sie die gesamte europäische revolutionäre Bewegung. Es war also genau umgekehrt gekommen, wie Marx es sich erhofft hatte: Die Niederlage des französischen Kaiserreichs gab dem Proudhonismus einen unerwarteten Aufschwung.


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