Ökonomie: Was macht die Österreichische Schule der Volkswirtschaftslehre einzigartig?
Der Mensch als Individuum steht im Mittelpunkt
Die Österreichische Volkswirtschaftslehre zählt zu den profiliertesten und intellektuell rigorosesten Schulen des ökonomischen Denkens. Sie hat eine lange Geschichte, die bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht und seit Jahrzehnten eine eindrucksvolle Renaissance erlebt. Die Österreichische Schule im eigentlichen Sinn entstand im späten 19. Jahrhundert und hat ihren Namen dadurch erhalten, dass die Gründungsväter der Schule aus Österreich kamen. Die Österreichische Schule bietet eine einzigartige Perspektive auf das menschliche Handeln, die Rolle des Unternehmers, des Marktes, des Kapitals und die Bedeutung der individuellen Freiheit.
Zu den herausragenden Kennzeichen der Österreichischen Schule der Volkswirtschaftslehre zählt die Bedeutung, die die Theorie dem Kapital und dem Unternehmertum zubilligt. Die Betonung auf diesen Faktoren ist es auch, die die Ökonomik der Österreichischen Schule am deutlichsten von dem unterscheidet, was heute an den Universitäten als „Volkswirtschaftslehre“ meist gelehrt wird. Vor allem in der sogenannten „Makroökonomie“ wird das Bild einer Wirtschaft gezeichnet, die ohne Kapital und Unternehmer auskommt. Es ist in etwa so, wie wenn man die Funktion eines Automobils erklären will, aber die Rolle von Motor und Fahrer ausblendet. Selbst in der Wachstumstheorie fehlt das Unternehmertum, und die Rolle des Kapitals wird als etwas mystifiziert, das sich strukturlos und automatisch je nach der Höhe der vom Volkseinkommen abhängigen Nettoinvestitionen ausdehnt und schrumpft.
Ein weiterer Hauptunterschied ist, dass das Erklärungsmodell der Österreichischen Schule seien Ausgang vom Individuum nimmt. Nicht statistisch konstruierte Aggregate (wie das Spar- und Investitionsvolumen zum Beispiel) sind die kausalen Kräfte, sondern der einzelne Wirtschaftsakteur. Dieser sogenannte „methodologische Individualismus“ besagt, dass soziale Phänomene in Begriffen der Handlungen und Entscheidungen von Individuen erklärt werden müssen und nicht in abstrakten kollektiven Kategorien wie „Gesellschaft“ oder „Staat“. Mit anderen Worten: Die Österreichische Schule betont, dass es der einzelne Mensch mit all seinen einzigartigen Vorlieben, Zwängen und Kenntnissen ist, der die wirtschaftliche Aktivität antreibt.
Für die Anhänger der Österreichischen Schule geht die Wirtschaftsanalyse von der Annahme aus, dass der Mensch zielgerichtet handelt, das heißt, dass Entscheidungen zweckorientiert getroffen werden. Dieser Ansatz ist bekannt als Praxeologie, die Lehre vom menschlichen Handeln. Die Praxeologie geht davon aus, dass Menschen Akteure sind, nicht passive Objekte oder bloß auf Anreiz reagierende Automaten. Jede Handlung, die ein Individuum unternimmt, ist zielgerichtet, und entsprechend wählt der Agierende die Mittel aus, die ihm am besten erscheinen, das Ziel zu erreichen. Ziel-Mittel-Wahl ist der Kern jeder menschlichen Handlung, nicht Stimulus und Response, wie es der sogenannte Behaviorismus behauptet.
Die Österreichische Schule betont, dass Wertschätzungen subjektiv sind. Die Individuen treffen ihre Entscheidungen auf der Grundlage ihrer persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen und Umstände. Da jeder Mensch unterschiedliche Vorlieben, Ziele und Wünsche hat, misst er verschiedenen Gütern und Handlungen unterschiedliche Werte zu. Genau aus diesem Umstand heraus erwachsen die Tauschhandlungen, da bei einem Tausch nicht gleiche Werte getauscht werden, sondern ungleiche Wertvorstellungen zum Ausdruck kommen. Das Motiv zu tauschen besteht darin, dass man das Gut, das man geringer schätzt, dafür hergibt, um das Gut zu bekommen, dem man einen höheren Nutzen zubilligt. Tauschakte erfolgen aus diesem Grund freiwillig, da jeder Tauschteilnehmer gewinnt.
Mit der nationalökonomischen Neoklassik teilt die Österreichische Schule das Grenznutzenprinzip. Demnach nimmt der subjektive Wert, den das Individuum einer Ware oder Dienstleistung beimisst, ab, wenn mehr davon unmittelbar verfügbar ist. Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens besagt, dass die zusätzliche Zufriedenheit, die eine Person durch den Konsum jeder zusätzlichen Einheit eines Gutes oder einer Dienstleistung erlangt, abnimmt, wenn mehr Einheiten davon konsumiert werden. Der Grenznutzen bezieht sich auf den zusätzlichen Nutzen, den ein Verbraucher durch den Konsum einer weiteren Einheit eines Gutes oder einer Dienstleistung erhält. Anders ausgedrückt, besagt das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens, dass dieser unter sonst gleichen Bedingungen abnimmt, wenn die konsumierte Menge steigt.
Individuen wählen verschiedene Ressourcen (Mittel) aus, um ihre Wünsche oder Ziele (Zwecke) zu erfüllen. Ressourcen können materiell (wie Geld, Land oder Werkzeuge) oder immateriell (wie Wissen, Zeit oder Arbeit) sein. Bei der Entscheidungsfindung muss der Grenznutzen mit den Grenzkosten einer Handlung zum Ausgleich gebracht werden. Diese Kosten existieren als Opportunitätskosten und beinhalten den Wert der nächstbesten Alternative, die geopfert werden muss, wenn eine Entscheidung zugunsten einer bestimmten Handlung getroffen wird.
Handeln ist zukunftsbezogen und unterliegt somit der Ungewissheit und nicht nur dem kalkulierbaren Risiko. Menschliches Handeln findet in einer Welt der Ungewissheit und der Kontingenz statt. Individuen handeln auf der Grundlage von Erwartungen, nicht von Gewissheiten, weshalb Planung und Entscheidungsfindung von Natur aus dynamisch sind. Irrtum ist ein nicht zu entfernender Bestandteil menschlichen Handelns. Der Markt selbst ist ein ständiger ablaufender Korrekturprozess und steht so im Gegensatz zum Staat, bei dem das Unwandelbare (Zustand, Stand, Stellung, vom lateinischen „status“) schon in der Wortherkunft angelegt ist.
Da sich menschliche Handlungen im Laufe der Zeit entfalten, unterliegt es dem Prinzip der Zeitpräferenz, wonach Individuen den Genuss von Gütern umso mehr bevorzugen, je näher ihr Konsum zur Gegenwart heranreicht. Das Zusammenspiel von gegenwärtigen und zukünftigen Präferenzen beeinflusst die Entscheidung über Investitionen und Ersparnis. Das Konzept der Zeitpräferenz ist zudem die Basis zur Erklärung des Zinssatzes und des Konjunkturverlaufs.
Nach Auffassung der Österreichischen Schule der Nationalökonomie werden Konjunkturen durch Verzerrungen in der Kapitalstruktur verursacht, die ihrerseits das Ergebnis einer übermäßigen Kreditausweitung durch die Zentralbanken sind. Wenn die Währungsbehörden die Zinssätze unter den natürlichen Zinssatz senken (den Zinssatz, der der Zeitpräferenz entspricht), führt dies zu einem Boom kreditfinanzierter Investitionen. Diese Anlagen sind jedoch fehlgeleitet, weil die künstlich niedrigen Zinsen falsche Informationen über die wahren Präferenzen der Sparer signalisieren. Infolgedessen investieren Unternehmen in Projekte, die wirtschaftlich nicht nachhaltig sind, was zu einer Korrektur oder einem Zusammenbruch führt, sobald die Zentralbank die Zinssätze anhebt oder sich die Kreditexpansion verlangsamt. Die Österreichische Theorie unterstreicht somit die Bedeutung von gesundem Geld und die Gefahren staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft.
Die Österreichische Schule besitzt auch eine einzigartige Perspektive in Bezug auf die Theorie des Kapitals. Der Ansatz betont die Zeitstruktur der Produktion, wonach die Fertigstellung von Produkten als ein mehrstufiger Prozess vorzustellen ist, bei dem verschiedene Arten von Investitionsgütern (Werkzeuge, Maschinen, Infrastruktur et cetera) im Zeitverlauf zu einem Konsumgut kombiniert werden. Kapital ist keine isolierte homogene Ressource, sondern setzt sich aus verschiedenen Produktionsgütern zusammen, die in unterschiedlichen Stufen der Produktion eingesetzt werden.
In der Sichtweise der Österreichischen Schule spielen Unternehmer die zentrale Rolle im kapitalistischen Wirtschaftssystem, indem sie Gewinnchancen erkennen, Veränderungen auf dem Markt antizipieren, bisher unbefriedigt gebliebene Bedürfnisse identifizieren und Ressourcen auf die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zur Erfüllung dieser Bedürfnisse hinlenken. Unternehmertum hat die Unsicherheit über die Zukunft als Grundlage. Der spezifisch unternehmerische Profit kommt durch die erfolgreiche Bewältigung der Unsicherheit zustande. Unternehmer müssen ihre Entscheidungen auf unvollkommenes Wissen stützen, wobei jedoch der unternehmerische Wettbewerb zur Entdeckung neuer Möglichkeiten und zur Verbesserung der Versorgung der Verbraucher führt. In diesem Sinne dient der Marktprozess als Entdeckungsverfahren.
Der Markt selbst ist als spontane Ordnung zu verstehen, als ein System, in dem Ordnung auf natürliche Weise aus den Handlungen von Individuen entsteht, ohne dass eine zentrale Planung oder Leitung erforderlich ist. Auf Märkten schaffen Individuen, die ihr eigenes Interesse verfolgen, ungewollt eine effiziente Allokation von Ressourcen. Preise dienen als Signale, die dem Einzelnen helfen, sein Handeln dezentral zu koordinieren. Dieses Konzept ist ausschlaggebend für die Kritik an der zentralen Planung. Die Ökonomen der Österreichischen Schule argumentieren, dass zentrale Planer nicht über das gesamte Wissen verfügen können, das für eine effiziente Verteilung von Ressourcen in einer Volkswirtschaft erforderlich ist. Man braucht Marktpreise, die von Angebot und Nachfrage bestimmt werden und aus den spontanen Handlungen von Individuen erfolgen, die für die Koordination in einer komplexen Wirtschaft zuständig sind. Durch ihre Fokussierung auf menschliches Handeln gelangt die Österreichische Wirtschaftslehre zu der Einsicht, dass zentrale Wirtschaftsplanung notwendigerweise scheitern muss. Da den Planern die notwendigen Informationen in Form von Marktpreisen fehlen, können sie auch beim besten Willen keine rationale Kapitalallokation vollziehen. Das komplexe Geflecht wirtschaftlicher Beziehungen kann nur durch Marktprozesse, die durch die freiwilligen Handlungen von Individuen angetrieben werden, aufrechterhalten werden.
Schließlich ist noch das Konzept der spontanen Ordnung zu erwähnen. Diese Idee besagt, dass komplexe Systeme wie zum Beispiel Märkte ohne zentrale Planung oder Leitung entstehen und effizient funktionieren können. Aus Sicht der Österreichischen Schule entstehen Institutionen wie Märkte, Eigentumsrechte, Rechtssysteme und Geld organisch aus den Handlungen und Interaktionen von Individuen und sind nicht das Produkt staatlicher Gestaltung. Diese Systeme entwickeln sich im Laufe der Zeit durch einen Prozess von Versuch und Irrtum, wobei soziale Normen und Konventionen auf natürliche Weise entstehen. So wird beispielsweise die Entwicklung von Eigentumsrechten als spontaner Prozess gesehen, der dem Einzelnen dabei hilft, Konflikte über knappe Ressourcen zu lösen, ohne dass eine zentrale Instanz erforderlich ist. Dieses Verständnis von Ordnung in der Gesellschaft steht in direktem Gegensatz zur Top-down-Sichtweise staatlicher Eingriffe, die für viele andere Schulen des ökonomischen Denkens von zentraler Bedeutung ist. Österreichische Ökonomen erkennen zwar die Notwendigkeit einiger grundlegender rechtlicher Rahmenbedingungen (wie zum Beispiel den Schutz des Privateigentums) an, argumentieren aber, dass die meisten anderen Formen staatlicher Eingriffe die natürliche Ordnung verzerren und regelmäßig zu unbeabsichtigten negativen Folgen führen.
Bedauerlicherweise bleiben die wertvollen Einsichten der Österreichischen Schule den meisten Menschen verschlossen, weil sie den politischen Herrschaftsinteressen entgegenstehen. Viel Unheil hätte man in der Vergangenheit bis heute vermeiden können, wenn es mehr Menschen gäbe, die den Falschheiten, die von den staatsgläubigen Politikern und ihrem Gefolge unablässig verkündet werden, Paroli böten.
Eine ausführliche Einführung in die Österreichische Schule bietet der soeben vom Autor bei UDEMY veröffentlichte Kurs: „Introduction to Austrian Economics. Principles of Austrian Economics and their application to the real world“.
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