29. November 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 26 Marx als Epigone und als Verhängnis

Die Dialektik holt ihre Kinder ein

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: John Mayall jun. / Wikipedia „Kein Mensch bekämpft die Freiheit: Er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen“ (Karl Marx)

Stolz hielt Marx sich zugute, Hegel (Teil 23 dieser Serie) vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben: Während Hegel davon ausging, Ideen seien der Motor der geschichtlichen Bewegungen, stellte Marx fest, dass es die materiellen Bedingungen seien. Nicht das Bewusstsein bestimme das Sein, sondern das Sein das Bewusstsein. Viel umzustellen gab es da freilich nicht, denn laut Hegel wirken die Ideen auf die Wirklichkeit und dann wirkt die Wirklichkeit auf die Ideen zurück. Ein dialektischer Kreislauf, bei dem es relativ uninteressant ist, ob man beim Sein oder beim Bewusstsein mit der Analyse beginnt. Und überhaupt: Nicht Marx hatte diese (kleine) Modifikation vorgenommen, sondern Proudhon (Teil 24 dieser Serie). Eher hätte Marx sich den Bart ausgerauft als zuzugeben, irgendetwas von Proudhon gelernt zu haben.

Aber 1848 fiel Marx nichts Besseres ein, als die erbärmlichen Forderungen der bürgerlichen Revolution eins zu eins zu unterschreiben, während Proudhon in Frankreich sie bereits als ein Manöver entlarvte, das ganze Volk in ein Volk von Fronarbeitern im Dienst des Staats zu verwandeln. Marx brauchte gut ein Vierteljahrhundert, um zu diesem Punkt zu gelangen, als er 1875 das Gothaer Programm der Vorläuferorganisation der SPD kritisierte, die die Forderungen von 1848 einfach übernommen hatte – und Marx’ Kritik reichte immer noch nicht an das Niveau von Proudhons Kritik 1848 heran.

Die westliche „neue“ Linke der 1960er Jahre hob bei Marx vor allem die Ideologiekritik hervor: Die großen und wohlklingenden Ideen dienen dazu, die eigenen materiellen Interessen zu bemänteln. Wenn wir statt „materiellen“ Interessen „egoistische“ Interessen sagen, dann landen wir geradewegs bei Stirner (Teil 25 dieser Serie). Über Stirner hatte Marx Hohn und Spott kübelweise ausgegossen und so davon abgelenkt, wie sehr er in seinem eigenen Denken durch Stirner beeinflusst worden ist.

Bleibt die Arbeitswertlehre, das Herzstück der marxistischen Ökonomik. Wirklich? Die Arbeitswertlehre stammt nicht von Marx, sondern von Adam Smith (Teil 21 dieser Serie) und David Ricardo. Marx wurde sich zunehmend bewusst, dass sie falsch ist. Wenn man die naive (betriebswirtschaftlich plausible) Rechnung aufmacht, dass ein Produkt das kostet („wert ist“), was die Summe aller Arbeitskosten ergibt, die bei seiner Herstellung anfallen, dann erklärt diese Theorie nicht, wie die Arbeitskosten entstehen: Sie erklärt nicht, wie der Wert der Arbeit errechnet werden kann. Um nicht in diesen unendlichen Regress zu gelangen, müssten zwei Dinge gegeben sein, die es empirisch nicht sind: Jede Arbeitsstunde müsste jeder anderen Arbeitsstunde gleich sein und die sogenannten Reproduktionskosten jedes Arbeiters (die Kosten an Lebensmittel, Unterkunft und so weiter) müssten mit den Reproduktionskosten aller anderen Arbeiter übereinstimmen. Marx experimentierte mit vielen Gedanken, um der Arbeitswertlehre doch noch etwas Sinn abzuringen, und weil er zu keinem Ergebnis kam, das ihn befriedigte, stellte er sein Hauptwerk „Das Kapital“ niemals fertig; Friedrich Engels flickte posthum den dritten Band zusammen aus Texten, die nach Marx’ eigenem Dafürhalten die notwendigen Antworten nicht enthielten (denn wenn sie sie seiner Meinung nach enthalten hätten, hätte er den dritten Band selber zusammenstellen können). Bei den Gedankenexperimenten förderte Marx einiges Interessante zutage, was dann erst in der „Österreichischen Schule der Ökonomik“ zu einer stimmigen Theorie wurde (siehe Ludwig von Mises, Teil 36 dieser Serie). Die „Österreicher“ würden niemals zugeben, auf Gedanken von Marx aufzubauen.

Marx wäre heute eine Fußnote der Geschichte, sowohl der Geistes- wie der Sozialgeschichte, hätte es 1917 nicht im rückständigen Russland einen konterrevolutionären Putsch der sich auf ihn beziehenden Bolschewisten gegeben, nach dem die Marxisten behaupteten, mit dem Weltgeist im Rücken zu agieren. Bis dahin waren die Marxisten überall in der europäischen revolutionären Bewegung eher eine Randerscheinung. Nur in Deutschland gab es einen ausgeprägten Einfluss von Marx auf die Sozialdemokraten, mit denen er allerdings auch alles andere als zufrieden war, wie seine erwähnte Kritik am Gothaer Programm 1875 beweist.

Zweifellos war Marx der Überzeugung, dass eine kommunistische Revolution nur in einem fortgeschrittenen kapitalistischen Land erfolgreich sein könne: Erst muss von allem für alle reichlich vorhanden sein, bevor man an Kommunismus überhaupt denken kann. Russland war ein rückständiges, landwirtschaftlich und spät-feudalistisch geprägtes Land. Schon das allein genügte, um alle Gedanken von Marx unanwendbar zu machen. Darüber hinaus glaubten die Bolschewisten, die Wirtschaft auf Grundlage der Arbeitswertlehre zentralstaatlich rational organisieren zu können. Nichts in den Schriften von Marx gibt auf diese Möglichkeit auch nur den Schimmer.

Dass Marx in Russland – und später in China – zum Aushängeschild von Regimen wurde, die an Staatsterror kaum zu überbieten sind, wirft die im Laufe dieser Serie immer wieder gestellte Frage erneut auf: Inwiefern ist ein Denker verantwortlich für das, was die Herrschenden namens seiner Gedanken in die Tat umsetzen? Die Ideologiekritik von Stirner und Marx macht deutlich, dass die Herrschenden immer auf Ideen zurückgreifen werden, um damit ihre egoistischen Interessen zu verschleiern. In gewisser Weise können sie dabei auf beliebige Ideen bauen; so war es ironischerweise möglich, dass schlimmste Inquisitoren und Kriegstreiber sich auf den Pazifisten Jesus Christus zu ihrer Rechtfertigung beziehen konnten. Wenn selbst Gott sich nicht gegen den Missbrauch seiner Idee zu schützen vermochte, wie sollte das uns armen irdischen Denkern möglich sein?

Andererseits müssen wir auch Hegel selber zurate ziehen und seiner Verflachung bei Stirner und Marx entgegentreten. Auf welche Gedanken die Herrschenden zurückgreifen, um ihren egoistischen Staatsterror zu verschleiern, ist nicht wirklich beliebig. Es gibt viele Anwärter auf die Herrschaft, die scheitern. Im Kampf verschiedener Fraktionen der Herrschenden und im Kampf der Herrschenden der einzelnen Länder unterliegen die einen, die anderen obsiegen. Der Kampf wird von materiellen Faktoren bestimmt: Wie stark ist die Wirtschaft? Wie rational gehen die Herrschenden mit ihre Ressourcen um? Aber nicht nur dies. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Frage: Folgt ihnen ein genügend großer Teil der Bevölkerung? Für die Frage der Unterstützung ist zwar einerseits wiederum eine materielle Grundlage notwendig, dass ein genügend großer Teil der Bevölkerung ökonomische Vorteile von der Herrschaft erwartet. Aber auch die ideologische Überzeugungskraft der präsentierten Ideen spielt eine Rolle: Da die Herrschenden ihre Beute nicht gleichmäßig mit allen Gruppen der Bevölkerung teilen können – denn würden sie das tun, würden sie am Ende ohne Beute dazustehen –, muss für viele Gruppen ein „psychisches“ (statt eines materiellen) Einkommen als Belohnung für ihre Unterstützung der Herrschenden winken.

Und was das betrifft, eignete sich Marx gut zur Rechtfertigung der Herrschaft, während Proudhon und andere Anarchisten es nicht taten: Marx ließ stets offen, wie die Gesellschaft nach der Revolution organisiert werden sollte. Wirksam war am Marxismus das säkulare Heilsversprechen: Am Ende aller Mühen und Opfer würde der Kommunismus als Schlaraffenland und Rückkehr in den Garten Eden winken. Proudhon und die anderen Anarchisten hatten dagegen klargemacht, dass das Ziel darin bestehe, den (freiwilligen) Gruppen vor Ort alle Entscheidungsfreiheit zu geben. Niemand sollte ihnen vorschreiben dürfen, was sie zu tun haben. Mit dieser Parole ließ sich eben keine Herrschaft rechtfertigen.

Insofern gibt es eine Verantwortlichkeit des Denkers für das, was mit seinem Denken geschieht. Wer immer in der Schwebe lässt, ob er sich vorstellen kann, dass sein Wille über den Gegenwillen anderer mithilfe von (Staats-) Gewalt obsiegen möge, bietet sich als Büttel von Herrschaft an. Nach Hegel und nach Proudhon kann sich kein Denker mehr auf die Naivität herausreden, diesen Zusammenhang nicht zu kennen.


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